Schuld und Sühne auf dem Lande

Der zweite Band der Werkausgabe präsentiert Stefan Andres' Sammlung "Gäste im Paradies. Moselländische Novellen" und andere Prosatexte

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Werke des 1906 in Trier geborenen Stefan Andres' waren besonders in der Nachkriegszeit und bis in die 1970er-Jahre hinein Bestseller, der Autor selbst eine mindestens ebenso bekannte Persönlichkeit des kulturellen Lebens in Deutschland wie Heinrich Böll oder Günter Grass. Um die Erinnerung an das Werk des Dichters sowie die Pflege eines Archivs mit ständiger Ausstellung in Schweich - nicht weit von Andres' Geburtsstadt Breitwies gelegen - kümmert sich die seit 1979 bestehende Stefan-Andres-Gesellschaft, aus deren Veranstaltungen und näherem Umfeld auch einige der wichtigen wissenschaftlichen Publikationen zu Andres der letzten Jahre hervorgegangen sind, wie etwa der 2007 erschienene Sammelband zur "Inneren Emigration" anlässlich des 100. Geburtstages von Andres (herausgegeben von Michael Braun).

Gleichwohl waren und sind bis heute einige auch der zentralen Werke vergriffen, was sich mit der jetzt im Göttinger Wallstein Verlag erscheinenden Werkausgabe in Einzelbänden ändern wird. Den Auftakt und Band 1 dieses ehrgeizigen Projektes bildete 2007 der ursprünglich als Tetralogie publizierte, dann von Andres selbst zu einem Band gekürzte, gewaltige Roman "Die Sintflut" (siehe literaturkritik.de 6/2008). Den Kern des nun vorliegenden zweiten Bandes bilden fünf 1937 zum ersten Mal als "Moselländische Novellen", 1949 und in allen späteren Auflagen dann unter dem Titel "Gäste im Paradies. Moselländische Novellen" publizierte Prosastücke, die alle aus den 1930er-Jahren stammen ("Die unglaubwürdige Reise des Knaben Titus", "Die Vermummten", "Der Menschendieb", "Gäste im Paradies", "Der Abbruch ins Dunkle"). Daneben wurden noch die wohl schon vor 1931 entstandene Erzählung "Utz, der Nachfahr" sowie die in späteren Sammlungen erschienenen Novellen "Das Wirtshaus zur weiten Welt" (1943) und "Der Mörderbock" (1962) aufgenommen. In seinem Nachwort ordnet der Herausgeber Hans Wagener die Texte in das Gesamtwerk ein und skizziert die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der einzelnen Erzählungen sowie im Falle von "Der Abbruch ins Dunkle'" und der mehrfach auch separat gedruckten mundartlich gefärbten Novelle "Die Vermummten" deren ursprüngliche Publikationskontexte in Carl Muths katholischer Zeitschrift "Hochland" beziehungsweise der "Kölnischen Zeitung", was gleichzeitig auch auf Andres' vom Katholizismus entscheidend geprägte junge Jahre und Gedankenwelt verweist.

Auch die Bedeutung von Andres' regionaler und sozialer Herkunft für die Themen und Handlungsorte besonders der "Moselländischen Novellen" hebt Wagener hervor, was indessen schon in der zeitgenössischen Kritik aber vor allem dann in der späteren Rezeption vielfach zu der völlig unzulässigen Abwertung des Autors als 'Heimatdichter' geführt hat. Nicht zuletzt die vom Verlag bei der Erstauflage (1937) nahegelegte "provölkische Lesart" und die damit verbundene Fehlinterpretation von Andres' Heimatbegriff und -konzept war auch für die Änderung des Titels bei der zweiten Auflage (1949) verantwortlich. Die Sinnlosigkeit solcher 'Verdächtigungen' wird nicht nur beim Blick auf die Biografie von Andres deutlich, der 1937 wegen seiner jüdischen Frau aus Deutschland fliehen musste und in den 1940er-Jahren zeitweise in Rom lebte, um einer Haftung zu entgehen, nachdem er von einem Faschisten denunziert worden war und sein früheres süditalienisches Exil in Positano verlassen musste. Wagener stellt daneben auch wichtige Rezeptionszeugnisse etwa aus dem "Völkischen Beobachter" zusammen, aus denen erkennbar wird, dass den Kulturfunktionären des Nazi-Regimes die Novellen gerade "nicht völkisch genug" und "zu künstlerisch durchgestaltet" waren.

Beim Personal der hier versammelten Texte handelt es sich überwiegend um einfache, wenn auch nicht selten wohlhabende Dorfbewohner aus dem moselländischen Raum, in deren Mitte sich in der Vergangenheit ein Ereignis zugetragen hat, dessen Konsequenzen nicht nur für den unmittelbar Betroffenen, sondern auch für die Dorfgemeinschaft als sozialem Mikrokosmos aufgezeigt werden. Es trifft zwar zu, wie Wagener herausstellt, dass im Mittelpunkt der Erzählungen die Themen Schuld, Verbrechen und Strafe stehen, doch ist das eigentlich Interessante und Erschütternde an den Texten, mit welch unverschnörkelter und unprätentiöser Sprache das alte Motiv des Schicksals als lebensbestimmender Macht eingeführt wird und die dörfliche Sozialstruktur verändert. So wird etwa in "Die Vermummten" gezeigt, wie ein Dummer-Jungen-Streich in einer Nacht im Jahr 1888 zunächst völlig unscheinbar die Realität des Dorflebens verändert und erst mit den Jahren seine dämonischen und zerstörerischen Folgen erkennen lässt. Auch in "Gäste im Paradies" geht es letztlich um die Relevanz und das Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart. Wenn diese Vergangenheit auch als eine individuelle gezeigt wird, so geht es dem Autor aber vor allem immer darum, deren Auswirkungen auch für die familiäre Situation oder die gesellschaftlichen Verhältnisse zu zeigen.

Dabei steht dem meist realistischen Erzählverfahren, das sich in der Wiedergabe der Mundart, volkstümlichem Brauchtum und präzisen landschaftlichen sowie geografischen Beschreibungen der Handlungsorte manifestiert, eine Stimmung gegenüber, deren wichtige Impulse und Motivkomplexe eher der Romantik verpflichtet scheinen. Oftmals ist von "geheimnisvollen Verwicklungen", "verhängnisvollen Nächten" oder "abgründigen Träumen" die Rede, was in Verbindung mit den sich für den Leser meist erst langsam erschließenden, nicht selten anfangs auch geheimnisvoll wirkenden Personenkonstellationen und -verhältnissen eine fast mythische Atmosphäre schafft.

In dieser Hinsicht unterscheiden sich diese 'Dorfgeschichten' auch deutlich von jenen des 19. Jahrhunderts. So treffend Wagener in seinem Nachwort Faktur und Anliegen der Andres'schen Dorfwelten beschreibt und charakterisiert, so falsch liegt er bei der Einschätzung der Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts etwa eines Berthold Auerbach, wenn er meint, dass diese eine "Dorfidylle" zeigten. Ein Blick auf neuere Untersuchungen hätte gezeigt, dass diese auch von der älteren Forschung vertretene Position heute überholt ist und - im Gegenteil und gerade bei Auerbach - auffällig oft nicht nur etwa justiziable Konflikte gezeigt werden, sondern die scheinbar idyllisch-ländliche Gesamtanlage dieser 'Dorfgeschichten' damit auch revoziert wird.


Titelbild

Stefan Andres: Gäste im Paradies. Moselländische Novellen.
Herausgegeben von Hans Wagener.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
352 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302518

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