Gegen das Verdrängen

Anmerkungen zu Arnold Zweigs Zyklus "Der große Krieg der weißen Männer"

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der im November 1918 zu Ende gegangene Erste Weltkrieg wirkte in Deutschland lange Jahre nur im Untergrund des kollektiven Bewusstseins weiter. Die Deutschen übten am Gemetzel aus den Jahren 1914 bis 1918 erstmals eine kollektive Verdrängung des tatsächlich Geschehenen ein. Ergänzt wurde diese, in ihrer traumatischen Verursachung sogar verständliche Verdrängung sogleich nach dem Krieg mit einer falschen, aber wirkungsvollen Verklärung des Kriegsgeschehens, zu dem die Lüge des hinterlistigen Dolchstoßes in den Rücken des unbesiegten Heeres ebenso beitrug wie es ästhetisch heroisierende Darstellungen à la Ernst Jünger taten. In einem groß angelegten Akt der Selbstverleugnung wurde die "Fronterfahrung" idealisiert und alsbald auch für politische Zwecke funktionalisiert. Stoff auch für einen ,kleinen österreichischen Gefreiten', der im "Stahlbad" seine Erweckung zum Retter Deutschlands gefunden hatte: Adolf Hitler.

Die kollektive und individuelle psychische Deformation bewirkte, dass das tatsächliche Fronterlebnis der deutschen Soldaten auf den Todesfeldern der Westfront niemals aufgearbeitet wurde. Die wenigen Unternehmungen künstlerischer oder publizistischer Art, die in der kurzen Zeit relativer Freiheit in Deutschland zwischen Kriegsende 1918 und 1933 möglich waren, wurden wirkungsvoll diffamiert und unterdrückt. Statt ihrer erschienen eine Fülle von verklärten Offizierserinnerungen und so genannter Regimentsbücher, in denen die militärischen Einsätze der Einheiten akribisch im Ton einer abenteuerhaften Pfadfindergeschichte nacherzählt wurde. Solche Prachtbände standen in deutschen Wohnzimmern, konservierten einen falschen Stolz der überlebenden Veteranen auf ihr Regiment und deckten die wahre Erinnerung an das Kriegserleben wirkungsvoll zu. Und so regierte das Schweigen. In Ludwig Harigs ergreifender Annäherung an seinen Vater "Ordnung ist das ganze Leben" (1986) kann man aber nachlesen, wie dieses Schweigen des Vaters über die Schützengräbenerlebnisse seine und die Existenz der Familie über Jahrzehnte prägte. Tatsächlich arbeitete der Krieg im Innersten der Geschundenen, ließ sich eben nicht verdrängen, "wühlt und brodelt, stößt und schrillt" stattdessen. So, wie im Innersten des vor Verdun erzogenen Soldaten Werner Bertin. "Aber von außen", so schreibt Arnold Zweig in diesem 1935 erschienen Roman, "merkt es gottlob keiner."

Bereits 1927 war Zweigs Roman "Der Streit um den Sergeanten Grischa" erschienen. Der Autor war selbst Kriegsteilnehmer gewesen, und seine Schilderung des technokratisch menschenfeindlichen Militärapparats, dem der russische Kriegsgefangene Grischa Paprotkin kaltblütig geopfert wird, der Militärbürokratie und schließlich des sinnlosen anonymen Sterbens verhieß ein Ende des Schweigens über die tatsächliche Wirklichkeit des Krieges. Deshalb sprach Kurt Tucholsky von einem "Friedensbuch" und würdigte den Roman als einen "Meilenstein auf dem Weg zum Frieden". Doch bevor weitere Meilensteine diesen Weg hätten weisen können, erhob sich in Deutschland ein neuerliches Brüllen gegen die aufklärende Wahrheit. Den Nazis taugten Kriegserinnerungen nur als Propagandamaterial - für einen neuen Krieg, ein neues Trauma.

So war ab 1933 in Deutschland für Zweigs groß angelegten Kriegszyklus "Der große Krieg der weißen Männer" kein Platz mehr. Zum Zyklus gehörte auch der noch 1931 in Deutschland erschienene Roman "Junge Frau von 1914". Doch dieser, die Vorkriegszeit schildernde Roman hatte längst nicht die Resonanz des Grischa-Romans gefunden. Die beiden folgenden Romane "Erziehung vor Verdun" (1935) und "Einsetzung eines Königs" (1937) erschienen bereits im Amsterdamer Exil-Verlag Querido. Noch einmal 20 Jahre später, in der DDR, vollendete Zweig den Zyklus mit den Romanen "Die Feuerpause" (1954) und "Die Zeit ist reif" (1957).

"Erziehung vor Verdun" stellt den Höhepunkt der Reihe dar. Bereits im Titel deutet sich in diesem Roman an, was der Literaturwissenschaftler Hans Mayer für den gesamten "Grischa-Zyklus", zu dem die ersten vier Romane zählen, feststellte: nicht nur handelt es sich hier um einen groß angelegten historischen Gesellschaftsroman, sondern der Roman "ist auch - in dem besonderen Sinne einer deutschen Romantradition - ein Erziehungsroman." Seine Charakterbildung und Persönlichkeitsentwicklung, Kennzeichen der Erziehung, erlebt Zweigs Held, der Armierungssoldat Werner Bertin, durch die Kriegserlebnisse. Sein passives Vertrauen in die Rechtmäßigkeit des kriegerischen Handelns durch die regierenden Mächte wandelt sich in ein aktives Mißtrauen gegenüber jenen Politik- und Machtverhältnissen, denen Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele legitim erscheint.

Und doch blieb dem Roman eine einvernehmliche Würdigung in Deutschland lange versagt. Denn im geteilten Deutschland wurde das zeitlose humanistische Ideal im Streit der Ideologien um die richtige Erziehung vereinnahmt. In der DDR interpretierte man Zweigs Roman als Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit, was der Schriftsteller - wohl auch geschmeichelt durch die öffentliche Würdigung, die er in der DDR erfuhr - geschehen ließ. Umso mehr, da man sich im Westen kaum einmal der Mühe unterzog, dieses anmaßende Interpretationsmonopol zu überprüfen. Man las ihn wenig. Denn im kalten Klima des Antikommunismus blieb Zweig trotz vieler Fürsprecher ein ungeliebter Schriftsteller.

"Erziehung vor Verdun" ist ein großer Roman. Ort der Handlung ist das Kriegsfeld bei Verdun. 1916 hatten die Deutschen eine Offensive zur Eroberung der befestigten Stadt gestartet. Nicht eben begeistert, aber doch pflichtbewusst erfüllt hier Werner Bertin, der im Zivilberuf Schriftsteller ist, in einer Schipperkompanie noch im Einklang mit den Ambitionen der Heeresleitung seinen unbequemen Dienst. Er hinterfragt nicht viel, verlässt sich statt dessen auf jene Regeln und den Anstand, der ihm sein natürliches Empfinden eingeben. Doch immer wieder erscheinen diese aus dem Zivilleben übernommenen Maßstäbe im kriegerischen Umfeld als unangemessen. Mehr noch: sie sind unerwünscht, weil sie das Kriegshandwerk behindern. Denn der Krieg, so lernt der Soldat Bertin vor Verdun, braucht die Menschen als entmenschlichte Wesen, als Menschenmaterial. Nur der auf sein Funktionieren reduzierte Menschenkörper ist ihm wertvoll für jene monatelangen mörderischen Materialschlachten, die vor Verdun ausgetragen werden. Die von der deutschen Heeresleitung geplante ,Abnutzungsschlacht' verliert ihren letzten Sinn, als im Sommer des gleichen Jahres starke Kräfte zur Abwehr des britischen Angriffs an der Somme abgezogen werden. Nun müssen die Deutschen auch jene Orte aufgeben, deren Eroberung, wie die des Forts Douaumont, die Propaganda zu Siegessymbolen aufgeladen hatte. Sinnloser, so lernt Bertin, kann ein Krieg nicht sein. Weniger kann ein Leben nicht wert sein. Insgesamt verloren knapp 340.000 Deutsche und 364.000 Franzosen in diesem sinnlosen Abnutzungskrieg vor Verdun ihr Leben.

Der 1937 im Exilverlag Querido erschienene Roman "Einsetzung eines Königs" wirkt hingegen vergleichsweise bieder. Ort der Handlung ist nun die Ostfront, Wilna, Litauen. Der Krieg ist fast zum Stillstand gekommen. Deshalb ist man zunächst froh zu erfahren, dass Bertin den Schrecken vor Verdun überlebt hat und nun hierhin versetzt worden ist, wo er wohl das Kriegsende unbeschadet erwarten darf. Weil aber Bertins Erziehung vollzogen ist, wendet Zweig sich alsbald von ihm ab und seinem neuen Helden zu. Das ist der junge Paul Winfried, Neffe des "großen Alten" von Lychow. Unter der Protektion des Militärs von Lychows genießt Winfried ein vergleichweise privilegiertes Frontleben. Zwar neiden ihm seine unmittelbaren Vorgesetzten diese Protektion, was sie ihn auch spüren lassen, aber andererseits respektieren sie sie auch. Immerhin ist von Lychow auch für sie eine unbestreitbare Autorität.

Während der Krieg hier im Osten seine Wucht verliert, planen die Militärs die politische Zukunft. Man versucht, Profit zu machen. Die weltfremden Militärs verzetteln sich in grotesk anmutende politische Intrigen. Litauen soll zu einem Anhängsel Preußens gemacht werden, formal unabhängig, aber mit einem König von Preußens Gnaden. Auf sich selbst bezogen, völlig abgehoben von den tatsächlichen politisch-militärischen Realitäten, feilschen die Deutschen nur noch um Details: Muss etwa, damit das Gleichgewicht in Deutschland gewahrt bleibt, ein Bayer zum Regenten ernannt werden? Während die Deutschen noch taktieren, handeln die Litauer. Sie rufen ihren eigenen König aus. Doch nun passiert - nichts! Es ist die vielleicht stärkste Leistung des Romans, diese dilettantische Art des Politikmachens durch die Militärs als Nonsens-Aktionen zu entlarven. Fast ist es eine Satire. Doch dieser eigenartige Zustand kurz vor Kriegsende ist markant: der sinnlose Aktionismus der militärischen Führung dient nur einem Ziel: der grandiosen Täuschung eines ganzen Volkes.

In diesem Spiel bleibt die Figur Winfrieds blass. Eine solche Erziehungserfahrung, wie Bertin sie erlebte, bleibt Winfried erspart. Er ist bis zum Schluss ein Privilegierter. Die Geschehnisse wirken nicht weiter auf ihn ein, weshalb Lern- oder gar Erziehungseffekte nicht stattfinden. Lediglich einmal, als seine Freundin, die schwäbischen Krankenschwester Bärbel, infolge einer Grippe-Epidemie stirbt, erleben wir Winfried für kurze Zeit ungeschützt seinem Schmerz ausgesetzt. Doch entwickelt Zweig die Folgen dieses tragischen Ereignisses für seine Figur nicht weiter. Winfried wird von Freunden in fürsorgliche Gewahrsam genommen.

In der Schilderung der fürchterlichen Epidemie, die in drei Wellen seit dem Frühjahr 1918-1920 weitaus mehr Tote forderte als der Erste Weltkrieg (man spricht von weltweit mindestens 25 Millionen Menschen, die der "Spanischen Grippe" erlagen), findet der Roman allerdings noch einmal zu großer Kraft. Der litauische Sommer jenes Jahres wird spürbar als ein bedrohlicher Hitzestau: Ein schwülheißes gefährliches Wetter, dem eben kein Gewitter eine Ende setzt.

Auch dieses Sterben wurde nach dem Krieg weitgehend verschwiegen oder verharmlost. In Zweigs Roman konnte man darüber lesen.


Titelbild

Arnold Zweig: Junge Frau von 1914.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1999.
450 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3351034032

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Arnold Zweig: Erziehung vor Verdun. Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2001.
580 Seiten, 40,90 EUR.
ISBN-10: 3351034059

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Titelbild

Arnold Zweig: Einsetzung eines Königs.
Aufbau Verlag, Berlin 2004.
596 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3351034067
ISBN-13: 9783351034061

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Titelbild

Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa. Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2006.
600 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3351034024

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