Traumblütenstaub

"Wahre Märchen" der ungarischen Malerin und Dichterin Anna Lesznai

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Anna Lesznai, 1966 im New Yorker Exil gestorben, erinnerten Märchen an eine ursprüngliche Harmonie zwischen Dingen und Menschen. So auch in ihrem "Märchen von den Möbeln und dem kleinen Jungen": Da treffen sich auf einer nächtlichen Waldlichtung Schränke und Stühle und feiern mit ihren Brüdern, den Bäumen, die Gemeinschaft mit den dankbaren Menschen - als hätte es die Hierarchie zwischen Gebrauchsgegenstand und Benutzer nie gegeben.

Weniger rücksichtsvolle Zeitgenossen wie der kleine Peter, der mit seinem Taschenmesser die Möbel seiner Eltern malträtiert, müssen zur Strafe das Tischlerhandwerk lernen. Nur dass dies gar keine Strafe ist, sondern Voraussetzung dafür, dass Peter am Ende seiner Lehre ein Zauberbett schreinern kann, das jeden heilt, der sich hineinlegt, als da wären seine kranke Mutter und die ebenfalls erkrankte Tochter des Grafen.

Geschichten wie diese waren es wohl, die die kommunistischen Hardliner der ungarischen Räterepublik empörten; für sie waren Märchen nur ein Überbleibsel kapitalistischer Ideologie. Sollten die Kinder der neuen Zeit wirklich lesen, wie man in Adelsgeschlechter einheiratet? Für Anna Lesznai und ihren Freund Béla Balázs, beides marxistische Romantiker, waren Märchen dagegen "kommunistischer als unser Kommunismus" - kündeten sie doch von einer utopischen Welt, in der alle Gegensätze zwischen Alt und Jung, Oben und Unten, Vergangenheit und Zukunft, aufgehoben waren. Gemeinsam mit Georg Lukács richteten sie im April 1919 im Volkskommissariat für das Unterrichtswesen ein Märchen-Referat ein, die Malerin und Dichterin Anna Lesznai übernahm die Leitung. Schon wenige Wochen später, nach der Niederschlagung der Räterepublik, mussten die Freunde nach Wien flüchten.

Die meisten der Märchen, die die 1885 geborene ungarische Jüdin nach 1913 geschrieben hat, verstaubten bislang ungelesen im Budapester Literaturmuseum. Viele sind Fragment geblieben und verströmen den Zauber des Unfertigen. Im Berliner Verlag Das Arsenal, der sich bereits um die Wiederentdeckung des Dichters und Filmtheoretikers Béla Balázs' verdient gemacht hat, sind Lesznais Texte erstmals auf Deutsch erschienen - eine berührende Flaschenpost von jener fernen Insel, auf der allein sich Kinder und Feen begegnen können: Denn "zu scharf war die Luft, die von dem Menschenlande blies, für die feinen wolkigen Feen, zu dünn die Wellen, die die Küste des Wunderlandes bespülten, um das schwere Menschenschiff zu tragen."

Wie die Figuren Balázs' werden auch die Lesznais von einer unbestimmten Sehnsucht in die Ferne getrieben. Den im Herbst geborenen Schmetterling etwa, der im Feenreich überwintern darf und dort Traumblütenstaub findet und einen Wunderbaum, auf dem all die Küsse aufblühen, "die die Menschen nie küssen konnten". Dass die Liebe, wie die Autorin in einem märchentheoretischen Essay von 1918 schrieb, ein paradoxes Zusammenspiel des Verlangens nach Selbstverwirklichung und des Verlangens nach Selbstaufgabe ist, verdeutlicht "Mädchenherz". Darin opfert eine Frau, um ihren ehrgeizigen Mann glücklich zu machen, erst ihr Haar, dann ihr Lachen und schließlich buchstäblich ihr Herz. Der erfolgreiche Mann dankt es ihr nicht - oder vielleicht doch? "Wäre es nicht besser, der Ritter wäre reumütig und voller Liebe?", fragt die ratlose Autorin am Ende und verlangt ein "Anderes Ende". Wie im Märchen.


Titelbild

Anna Lesznai: Wahre Märchen aus dem Garten Eden.
Übersetzt aus dem Ungarischen von András Hecker und Ilka Russy.
Verlag Das Arsenal, Berlin 2007.
128 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783931109493

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