Less is more

Oder: Wie Satzzeichen in E.H. Bottenbergs "anwesen-abwesend" (fast) zu Bedeutungsträgern werden

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man stelle sich vor: Es gilt, ein Buch zu besprechen. Pflichtbewusst liest man selbiges nicht nur einmal, sondern gleich mehrmals - und bei jedem Lesen ruft es exakt die gleiche emotionale Reaktion hervor: keine. Das ist natürlich in höchstem Maße beunruhigend, stellt sich doch normalerweise nur die Frage, ob man überschwänglich-zustimmend, verhalten oder gar ablehnend auf einen Text reagiert - dass man aber reagiert, stand, wenigstens bislang, nie zur Diskussion. Während diese scheinbar spontan auftretende emotionale Insuffizienz an sich schon verdrießlich genug ist, wird die Situation noch unangenehmer, wenn es sich bei den fraglichen Texten ausgerechnet um Gedichte handelt, deren raison d'être, so zumindest die landläufige Meinung, doch gerade im Evozieren emotionaler Reaktionen besteht. Schließt man eine am Ende gar pathologische Gefühlskälte auf Seite des Rezipienten einmal aus, so wird man sich fragen müssen, woran es liegen könnte, dass man auf manche Texte nur mit Indifferenz zu reagieren vermag.

Als diesbezügliches Untersuchungsobjekt bietet sich der unlängst im S. Roderer Verlag erschienene jüngste Gedichtband Ernst Heinrich Bottenbergs an: Unter dem Titel "anwesen.abwesen Lyrik.(Lyrik)" präsentiert der emeritierte Sozialpsychologe und Dichter zwölf lyrische Texte, deren Titel bereits viel über sein Dichtungskonzept verraten: "wie in der Schneise.Ich", "Rose.Akut" oder auch "In-Dem-Schweigen" demonstrieren Bottenbergs Affinität zur konsequenten Semantisierung von Satz-, ja selbst von Leerzeichen. Der im Allgemeinen nur als lakonisches Signal für das Satzende verwendete Punkt etwa erfährt dadurch eine Aufwertung als Bedeutungsträger, von der er bislang wohl nicht einmal zu träumen gewagt haben dürfte. Dies führt "fremd worte", das Eröffnungsgedicht des Bandes, deutlich vor Augen:

geschehend.ich im innern-der-gleichungen

wachsend-in der achse-des-blicks
in-dem-wohl
er rechnend das eigene.Sein

in den augenwinkeln der-schmerz

des unversehenen des außen
aufstörend-die fremd worte
die-ausgebliebenen die-verwehrten

Worte

in denen das Laub-Sich-Regt
Weiter-Gibt-in den Wind

Worte

Ihre-Stimme-Erweckend in den
Lauten-des Fremden.Seins

Inhaltsschwer suggeriert sich Bottenbergs Gedicht, und wie auch in den Texten seiner früheren Bände "entfernungen der erde. mythen-erwartung" (2002), "Tau-Verlust" (2004), "Atem-Schaltungen" (2005), "Tal-Unschärferelationen" (2006) und "ich:Textviren des ichs" (2007) klingt auch in "fremd worte" viel (vielleicht zu viel) Paul Celan'sche Diktion an. Dennoch kann es wohl keinen Zweifel daran geben, dass das Gedicht Passagen von beachtenswerter, originärer lyrischer Qualität enthält; der tatsächliche semantische Mehrwert von Bottenbergs mehr als unkonventioneller Verwendung von Satzzeichen allerdings erschließt sich der ungeübten Leserschaft nicht so schnell.

Schlimmer noch: Mancher wird sicherlich fast daran zweifeln, dass es diesen überhaupt gibt. Was vermag da Aufklärung zu verschaffen? Die Lektüre der übrigen Gedichte kann auch nur wenig Licht ins Dunkel bringen: Die Frage, inwiefern die semantische Emanzipation des Bindestrichs in Versen wie "ausgepflanzt des Auges / wegwarte malve rainfarn / nahe den Kerben des Fußes / zum Asphalt-hin-und-den-Rändern" nun neue Bedeutungsdimensionen der fraglichen Wörter erschließt, lässt sich leider ebenfalls nicht ohne weiteres beantworten.

Also bleibt dem ratlosen Leser schließlich nur noch ein letztes, verzweifeltes Mittel - der Blick auf den Klappentext. Zugegeben: Selten vermögen die exegetischen Exzesse dieser Textchen tatsächlich Wissenswertes zu vermitteln; was sie jedoch zumeist vermitteln, ist eine Vorstellung davon, wie die Autoren (respektive ihre Verlagsredakteure) das entsprechende Werk verstanden wissen wollen. Also beherzt gelesen, was der Umschlag an potentiell Erhellendem zu bieten hat: Dort wird zunächst die Natur der Lyrik selbst (re-)definiert: "Lyrik wagend den Weg des Anderen - in ihrer Freiheit den Weg erregend und erleidend - bis in die Wahrheit des Verstummens." Es gehe, so heißt es weiter, um "Lyrik in dieser Epoche (auch) in der Selbstentfremdung" und um die "global wissenschaftlich-technische [...] Durchdringung von Mensch und Welt" - was hier esoterisch formuliert wird, so mag der Hilfesuchende vermuten, könnte eine tiefere Wahrheit enthalten, die es nach eingehender Kontemplation dem endlich in das Mysterium Eingeweihten preisgibt - es könnte jedoch auch nur primär prätentiös-unverständlich sein.

Damit stehen diese wenigen Sätze paradigmatisch für den gesamten Band: Die von Bottenberg postulierte 'Andersartigkeit' der Lyrik wird von ihm in einem so hohen Maße realisiert, dass seine Gedichte mehr als einmal die Grenze zu hermetisch-privatsprachlichen Sphären überschreiten. Mag es zunächst auch paradox klingen, lyrischen Texten ihre Konstruiertheit vorwerfen zu wollen, so ist es dennoch gerade die (teilweise forciert erscheinende) Kultivierung ihrer prononcierten sprachlichen Artifizialität, durch die sich Bottenbergs Gedichte dem sich selbst ja bereits entfremdeten Leser gleichermaßen entfremden. Das Resultat dürfte sein, dass sich die "Wahrheit des Verstummens" auch auf die Reaktion des Gros der Rezipienten erstreckt, ist eine spontane emotionale Reaktion auf oder gar Interaktion mit den Gedichten kaum möglich und offenbar vom Dichter auch nicht gewollt. Bei aller Wertschätzung künstlerischen Experimentierwillens - bei Bottenbergs Gedichte dürften es sich um einen jener Fälle handeln, in denen Mies van der Rohes Bonmot, dass weniger mehr sei, ausnahmsweise zutrifft.


Titelbild

E. H. Bottenberg: anwesen.abwesen. Lyrik.(Lyrik).
S. Roderer Verlag, Regensburg 2008.
54 Seiten, 9,80 EUR.
ISBN-13: 9783897836136

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