Wurde Gotthold Ephraim Lessing Opfer seines Erfolgs?

Hugh Barr Nisbet über Leben, Werk und Wirkung des Klassikers der Aufklärung

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es herrscht wahrlich kein Mangel an Lessing-Biografien. Mehr als siebzig sind seit seinem Tod erschienen. Keine jedoch dürfte so umfassend, so weit ausgreifend und so aktuell, dem neuesten Forschungsstand entsprechend, ausgefallen sein wie die jüngst erschienene Lebens- und Werkbeschreibung des britischen Germanisten Hugh Barr Nisbet. Bietet sie doch eine Fülle detaillierter Einsichten in Lessings widersprüchliche Persönlichkeit und in seine vielseitigen Tätigkeiten als Dramatiker, Journalist, Literatur- und Kunsttheoretiker, Philosoph, Religionskritiker, Bibliothekar, Philologe und Polemiker. Zudem entwirft Nisbet nicht nur ein genaues und faszinierendes Porträt seines Protagonisten, auch das geistige, gesellschaftliche und kulturelle Klima der Zeit Lessings fängt er anschaulich ein - wobei er deutlich macht, dass diese Epoche ganz im Zeichen der Aufklärung stand, von August dem Starken in Sachsen und Friedrich II. in Preußen mitgeprägt wurde und durch den Siebenjährigen Krieg einige Jahre lang verdunkelt worden war.

Lessings Leben entwickelte sich, wie wir aus Nisbets voluminösem und fesselnd zu lesendem Buch erfahren, nicht geradlinig auf ein bestimmtes Ziel hin, vielmehr bestand es aus einer Reihe plötzlicher Ortswechsel und ständig neuer Beschäftigungen. Lessing - 1729 in der Kleinstadt Kamenz geboren, sein Vater Johann Gottfried Lessing war ein gelehrter deutscher Pfarrer - studierte in Leipzig und lernte im Laufe seines Lebens viele bedeutende Persönlichkeiten kennen - so etwa Johann Christoph Gottsched, Caroline Neuber, Voltaire, den preußischen Dichter Ewald von Kleist und den jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Der Autor stellt sie alle ausführlich vor, genau so gründlich beschreibt er die Städte, in denen Lessing gewohnt hat: Meißen, Leipzig, Berlin, Wittenberg. Breslau, Hamburg, Wolfenbüttel und Braunschweig. Lessings Ernennung zum Bibliothekar in Wolfenbüttel wiederum nimmt er zum Anlass, um die Situation der Bibliotheken im damaligen Deutschland eingehend darzustellen. Nur selten konnte Lessing, wie zum Beispiel in Wittenberg, seinen eigenen wissenschaftlichen und literarischen Neigungen folgen. Oft plagten ihn finanzielle Sorgen. Er unternahm Reisen in Deutschland, nach Österreich und Italien.

Vor allem aber geht der Autor auf Lessings Werke bis ins Detail ein, auf seine frühen Dramen und Gedichte - sein Ruf als Schriftsteller beruhte anfangs weniger auf seinen Komödien als auf seinen Gedichten -, auf seine Studien zur Wissenschaftsgeschichte, Philosophie, Theologie, Religion und klassischen Philologie sowie auf seine Dramen, wobei selbst die Fragmente nicht ausgespart werden.

Lessings erstes veröffentlichtes Drama "Damon oder die wahre Freundschaft" erschien Ende 1747 und einige Jahre später "Der Freigeist", die wohl gelungenste Komödie des jungen Lessing, laut Nisbet. Dieses Stück richtet sich gegen das unter Christen weit verbreitete Vorurteil, zu glauben, dass ein Freigeist, also jemand, der die übernatürlichen Aspekte der Religion bezweifelt oder ablehnt, moralisch unzuverlässig sei.

In "Die Juden" wandte sich Lessing gegen die schimpfliche Unterdrückung eines Volkes, das, seiner Meinung nach, ein Christ nicht ohne Ehrerbietung betrachten dürfe. Aus ihm stammen viele Helden und Propheten, aber "jetzo", so Lessing, "zweifelt man, ob ein ehrlicher Mann unter ihm anzutreffen sey." Im Gegensatz zum "Nathan" spielt hier die Religion kaum eine Rolle, denn das in diesem Stück angesprochene Vorurteil gegen Juden ist nicht so sehr religiös, sondern eher moralisch und ethnisch gefärbt.

Für Lessings bedeutendsten Beitrag zur Ästhetik und für eins seiner erfolgreichsten und problematischsten Werke hält der britische Germanist "Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie", in dem Lessings Meinungsverschiedenheit mit Johann Joachim Winckelmann zum Ausdruck kommt. Lessing akzeptierte zwar Winckelmanns Annahme, dass der höchste Imperativ für die bildenden Künste der Antike das Gesetz der Schönheit gewesen sei, lehnte aber die moralische Komponente in Winckelmanns Theorie der Schönheit ab. Ein weiteres Kapitel ist "Minna von Barnhelm" gewidmet. Besonders sorgfältig werden die letzten drei Werke gewürdigt: "Erziehung des Menschengeschlechts", "Ernst und Falk" und "Nathan der Weise".

Der Gedanke, dass die Moral eines der wichtigsten Aspekte der Religion sei, wichtiger als jede religiöse Doktrin, ist ein Gedanke der Aufklärung, der in vielen Werken von Lessing wiederkehrt, so im "Nathan" und in der "Erziehung des Menschengeschlechts", die beide ein Zeitalter ins Auge fassen, in dem die Moral eine übernatürliche Sanktion und Begründung nicht mehr nötig hat.

Gotthold Ephraim Lessing ist fraglos einer der eindruckvollsten und sympatischsten Gestalten der europäischen Aufklärung und einer der unumstrittenen Klassiker der deutschen Literatur. Friedrich Nietzsche bezeichnete ihn sogar als den verführerischsten Autor. Nisbet sieht in ihm einen Kosmopoliten und den ersten säkularen deutschen Schriftsteller, dessen Sprache heute noch mühelos zugänglich sei. Seit Martin Luther habe kein deutscher Autor stärkere öffentliche Resonanz gefunden,

Nisbet weist ferner darauf hin, dass Lessings Widerstand gegen alle Autoritätsbehauptung schon in der Schulzeit spürbar gewesen sei und dass er feindselig auf alle Formen von Orthodoxie und Konformismus reagiert habe sowie auf jene, die überlegene Weisheit und Gehorsam für sich allein auf Grund ihrer gesellschaftlichen Stellung beanspruchten. Außenseitern und Benachteiligten kam er konsequent zur Hilfe.

Hochgradig verschwiegen war er dagegen im Hinblick auf sein seelisches Leben und seine persönlichen Gefühle. Mit Äußerungen über sich hat er sich selbst stets zurückgehalten. Er sei wohl häufig depressiv und verstimmt gewesen, behauptet Nisbet, ohne indes seinen metaphysischen Optimismus zu verlieren. Die modern anmutende Vorläufigkeit seiner Lebensweise - denn in seinem persönlichen und schriftstellerischen Leben gibt es viel Unabgeschlossenes - entspricht der Relativität seines Wahrheitsbegriffs und der Offenheit und Beweglichkeit seines Denkens, durch die er immer wieder geltende Begriffe und Definitionen in Frage stellte, damit sie sich nicht zu unhinterfragbaren Dogmen verhärten.

Lessings literarische, aber auch seine philosophischen und theologischen Schriften wirkten nachhaltig auf spätere Entwicklungen in den entsprechenden Wissenschaftszweigen ein. Aber wie Voltaire wurde er ein Opfer seines Erfolgs, resümiert der Autor. Immerhin seien die Werte, für die er kämpfte - wie Toleranz, Freiheit des Gewissens, der Rede, der Presse und gleiche Rechte für alle -. heute fester Bestandteil westlicher Verfassungen. Allerdings teilten wir nicht mehr seine optimistische Überzeugung, dass sich Vernunft und vernünftige Moralprinzipien in der Geschichte zu guter Letzt von selbst durchsetzen würden. Diese Einstellung zur Aufklärung habe sich seit der Mitte des 20.Jahrhunderts geändert durch die Anhänger der Kritischen Theorie wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, durch Vertreter der Postmoderne wie Michel Foucault und auch durch Martin Heidegger. Doch habe Lessings Überzeugung, die er mit Immanuel Kant teilt, dass die Aufklärung als fortschreitende uneingeschränkte Betätigung des Verstandes zu verstehen sei, nach wie vor ihre Gültigkeit.


Titelbild

Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie.
Übersetzt aus dem Englischen von Karl S. Guthke.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
992 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783406577109

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