Uliversum Unwiederholbeins Phalanx der Zickzackdenker

Ulrich Holbein schreibt eine Kultur- und Geistesgeschichte in närrischen Lebensbildern

Von Jürgen WichtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wicht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Diktator entscheidet staatliche Konflikte im Faustkampf, ein Abenteurer errichtet im Regenwald ein Opernhaus, eine Aktivistin verlässt den Wipfel eines gigantischen Baumes zwei Jahre lang nicht, ein Philosoph plant die Gelehrtenstadt Platonopolis, ein zeichnender Zöllner trotzt allem Spott und wird zum Wegbereiter des Surrealismus.

Dies sind nur einige Beispiele lebender und historischer, fiktiver und realer Persönlichkeiten, denen Ulrich Holbein die Aufnahme in sein enzyklopädisches „Narratorium“ gewährt hat. Das „Narratorium“ soll, wie der titelgebende Neologismus verrät, imaginärer Versammlungsort der Narren und barockes Erzählwerk zugleich sein. Die faszinierenden und teils grotesken Figuren des lebendigen, aus 255 brillanten Lebensbildern bestehenden Panoptikums präsentieren sich so wunderbar heterogen, dass die Definition eines närrischen Moments schwerfällt.

Die Literatur lehrt, dass der Narr stets am Rande der Gesellschaft lebt. Er provoziert und unterhält. Er genießt Redefreiheit, obwohl sein Verhalten berechenbar sein soll. Man unterscheidet den gespielten Narren, der seine spezielle Fähigkeit gezielt einsetzt, vom natürlichen Narren. Als Archetyp gilt der weise Narr, den eine innere Dialektik aus gespielter Beschränktheit oder echter Einfalt und tiefer Einsicht kennzeichnet. Er kann, wie Till Eulenspiegel, als wandernder Einzelgänger, dessen Vita sich aus zahlreichen Schwänken entwickeln lässt, oder als beratender Narr, wie Don Quixotes Sancho Pansa, der ja selbst einem Narren dient, als steter Gefährte und Vertrauter auftreten. Das eine solche Definition letztendlich zu kurz greift und eine genuine Verbindung zwischen schöpferischem Tun und Narrheit besteht, darauf haben beispielsweise Erasmus von Rotterdam oder Jean Paul hingewiesen.

Dem „Knüll-Idylliker“ Holbein geht dies indes nicht weit genug und er behauptet, dass „[d]ie Welt von Normalnarren und Extremnarren“ wimmelt. Er nennt sie „Clowns, Diven, Einsiedler, Fischprediger, Gottessöhne, […], Psychonauten, Querulanten, Rattenfänger [und] Scharlatane“, bevor er sich schließlich selbst als „Uliversum Unwiederholbein“ in die Phalanx der „Spinner und Schelme“ einreiht. Weil Alpträume wie der Blut trinkende Massenmörder Idi Amin unterschiedslos neben Idealisten wie dem Abenteurer Fitzcarraldo, der Umweltschützerin Julia „Butterfly“ Hill, dem Neuplatoniker Plotinos von Lykopolis und Künstlern wie dem Maler Henri Rousseau stehen, muss jeder Klassifizierungsversuch scheitern, und die Porträts kommen ebenso solitär daher wie ihr Sujet.

Über allem liegt, sehr zum Gewinn, jener spezielle Holbein-Sound: Der Autor verfügt über eine präzise, fantasievolle Sprache, durch die er mit wenigen Pinselstrichen stimmige Bilder der aberwitzigen Sinnsucher skizziert. Seine treffenden Neologismen bringen die Beschreibungen auf den Punkt. Die Schärfe des Ausdrucks mildert er durch seine augenzwinkernde Ironie.

Während Aufzählungen die Darstellung beschleunigen, wird das Tempo durch Zitate wieder gedrosselt. Nach dem komplett aus Zitaten zusammengestellten Roman „Isis entschleiert“ wollte der ungekrönte König der Zitat- und Anspielkunst eigentlich weniger zitieren. Es ist ein Glück, dass er dieses Versprechen nur teilweise gehalten hat, denn die zu den Mini-Porträts gehörenden Zitate sind ebenso erhellend wie unterhaltsam. Ein besonderes Vergnügen ist es, wenn die Belege dem Thema vorgreifen und spätere Narren antizipieren.

Ulrich Holbeins Kabinett alternativer Lebensform ist ein großartiges Sammelsurium der Kultur- und Geistesgeschichte, das von der Belesenheit des Autors profitiert und ihn zu einem würdigen Bibliothekar und Chronisten der Narren macht. Obwohl die Fundgrube der Originalität, trotz ihrer 1000 Seiten keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, lässt die schiere Fülle einen dosierten Genuss des Buches anraten. Abgesehen davon, dass der Untrainierte das gewaltige Erzählwerk sowieso kaum über einen längeren Zeitraum lesend in den Händen wird halten können, haben die visionären Bajazzos es nämlich verdient, dass der Leser seine Gedanken bei ihnen verweilen lässt.

Die „heiligen und unheiligen Narren“ sind so verschieden, dass sie sich jedem Versuch einer Begriffsbestimmung entziehen. Der gemeinsame Nenner der „Amazonen, Freaks, Gurus, Snobs und Zickzackdenker“, zu denen sich auch Holbein zählt, ist ihre Gestaltungskraft. Was wäre die Welt ohne ihre Originalität? Selbst dem närrischen Ernsten, dem im soliden Reihenhäuschen sein gleichfalls närrisches Tun nur selten bewusst wird, würde etwas fehlen.

Titelbild

Ulrich Holbein: Narratorium. 255 Lebensbilder.
Ammann Verlag, Zürich 2008.
1008 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783250105237

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