Nach dem Weltuntergang
Einige Vorbemerkungen zu dieser Ausgabe
Von Jan Süselbeck
Wer heute durch das hübsche italienische Städtchen Riva del Garda wandelt, stößt unweit des Hafens auf ein unscheinbares Denkmal. Der Mann, an den damit erinnert werden soll, dürfte den meisten deutschsprachigen Touristen unbekannt sein. Doch ob auch die Italiener, die hier am Gardasee ihren Spaziergang machen, im 21. Jahrhundert noch auf Anhieb wissen, was Cesare Battisti von der österreichischen k.u.k. Militärjustiz angetan wurde, die an diesem Ufer vor etwa hundert Jahren herrschte, ist fraglich.
Der frühere Wiener Abgeordnete kämpfte im Ersten Weltkrieg auf italienischer Seite, wurde von den Österreichern gefangen genommen und 1916 in Trient wegen "Hochverrats" qualvoll hingerichtet. Die Fotos dieser Masseninszenierung wurden von den Österreichern zunächst propagandistisch verwertet, dienten dann aber den Italienern als Beleg für die Barbarei der Kriegsgegner. Das Denkmal am Gardasee erinnert also zumindest diejenigen, die sich über die Hintergründe informieren, auch allgemein an die Monströsitäten eines modernen Krieges, der nicht nur in den Formen seiner Propaganda, sondern auch mit den vergessenen Gräueltaten, die in ihm begangen wurden, in vielerlei Hinsicht bereits auf die unvergleichlichen Exzesse des Zweiten Weltkriegs vorausdeutete.
Karl Kraus erkannte die besondere Signifikanz des Hinrichtungsfotos, auf dem Battistis furchtbares Ende festgehalten wurde, früh und ließ es auf dem Frontispiz der Erstausgabe seiner unaufführbar umfangreichen "Tragödie" aus jener Zeit abbilden, über die Theodor W. Adorno 1944 in seinen "Minima Moralia" schrieb: "Karl Kraus tat recht daran, sein Stück 'Die letzten Tage der Menschheit' zu nennen." Adorno fügte im Blick auf den Zweiten Weltkrieg und die Shoah, die unter den Augen der Weltöffentlichkeit damals gerade in vollem Gange war, hinzu: "Was heute geschieht, müßte 'Nach Weltuntergang' heißen."
Die Dezemberausgabe von literaturkritik.de setzt den im November begonnenen Themenschwerpunkt zum Ersten Weltkrieg und der anschließenden Novemberrevolution in einem zweiten Teil fort. Diesmal geht es jedoch nicht allein um die soeben skizzierten Zusammenhänge, die nur ein Beispiel für die vielfältigen Formen der Erinnerung an den modernen Krieg sind. So erinnern wir auch an Alfred Döblins historischen Monumentalroman "November 1918" und beschäftigen uns nicht zuletzt ausführlicher mit dem enormen Interesse, das die Kulturwissenschaft dem Thema Krieg neuerdings in allen nur erdenklichen Facetten entgegenbringt.
Es geht in dieser Ausgabe aber nicht nur um den Krieg. So gilt es etwa, den runden 100. Geburtstag des großen Ethnologen Claude Lévi-Strauss zu feiern. Dass allerdings auch sein Leben von der Gewalt des Zweiten Weltkriegs nicht unbehelligt blieb, ist eine andere Geschichte.
Für diejenigen Leser, denen solche niederschmetternden Themen für die Weihnachtszeit unangemessen erscheinen, haben wir zu unserer Entschuldigung nichts vorzubringen. Die Literatur war und ist nach alledem eben nicht nur heiter. Sie war es, genauer besehen, noch nie. "Das Tröstliche der großen Kunstwerke liegt weniger in dem, was sie aussprechen, als darin, daß es ihnen gelang, dem Dasein sich abzutrotzen", schreibt Adorno. "Hoffnung ist am ehesten bei den trostlosen." Oder, mit den vielleicht noch etwas versöhnlicher klingenden Worten Thomas Bernhards aus seinem Stück "Über allen Gipfeln ist Ruh" (1982): "Wenn das Werk lacht / weint der Dichter / und umgekehrt".
Herzliche Grüße
Ihres
Jan Süselbeck
Anmerkung der Red.: Das abgebildete Foto stammt vom Autor.