Völlige Ahnungslosigkeit
Evelyn Grills neue Romane "Schöne Künste" und "Das römische Licht"
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Schauplatz von Evelyn Grills Kriminalroman "Schöne Künste" ist die kurpfälzische Stadt Mannheim, die namentlich nicht erwähnt wird, aber durch die Nennung prägnanter Straßen-, Platz- und Bauwerknamen unschwer zu erkennen ist. Eigentlich spielt die Stadt auch gar keine Rolle - und die abgründigen Verhältnisse und merkwürdigen Entwicklungen der Romanhandlung um die Ermordung des extravaganten, exaltierten, tyrannischen und schwulen Museumsdirektors Carlo Morwitz haben sicherlich auch nichts mit einem realen Fall zu tun.
Doch kommt man gerade aufgrund der Aberwitzigkeit dessen, was hier beschrieben wird, nicht umhin, sich an ein ähnlich skurriles Ereignis zu erinnern, das sich ebenfalls in Mannheim, nämlich im März 2006, zugetragen hat. In der langen Nacht der Museen stahl ein promovierter dortiger Anwalt aus der Kunsthalle Spitzwegs kleines Gemälde "Friedenszeit", wollte es nachher verkaufen, ging dabei aber verdeckten Ermittlern auf den Leim, wurde verurteilt und - wie man hört - will nach seiner Freilassung nun als Kunstberater tätig werden. Das hat mit schöner Kunst gar nichts zu tun.
Anders als bei diesem realen Fall, wo der Aufklärung des Diebstahles freilich viel Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, Mannheim dadurch auch wieder in den Besitz des Spitzwegs kam und die Öffentlichkeit sich auch verwundert und erschüttert zeigte ob der enormen kriminellen Energie eines scheinbar unscheinbaren Mitgliedes der bürgerlichen Gesellschaft, spielt die Aufklärung des Mordes in Grills Kriminalroman, dessen Titel den Namen zahlreicher Museen imitiert, nur eine untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt des Textes stehen die persönlichen Verhältnisse des Opfers, seine neurotischen und letztlich menschenverachtenden Vorlieben, unter denen besonders seine Schwester zu leiden hat. Die schon verstorbene, andere Schwester stellt die verwandtschaftliche Beziehung zu Viktor Escher her, der nicht nur finanziell unabhängig, sondern auch als Kunstförderer in Erscheinung getreten ist und in den besten gesellschaftlichen Kreisen verkehrt. Privat allerdings speist er jeweils zum Frühstück und Abendessen mit einer seiner verstorbenen Frau täuschend echt nachgebildeten Puppe, die er auch zum Vollzug anderer ehelicher Gewohnheiten nutzt, deren Spuren dann von der diskreten Haushälterin entsorgt werden.
Wenn Carlo Morwitz, der Apologet der modernen, längst schon totgeglaubten Happening- und Eventkunst und gleichzeitiger Verächter aller konventionellen Gattungen wie Malerei oder Skulptur, seinen letzten Atemzug im erwärmten Fett eines Beuys-Stuhls tut, das nach dem Erkalten der Leiche seine Totenmaske birgt und als Gesamtkunstwerk bei Sothebys für eine Rekordsumme versteigert wird - von dem spektakulären Erfolg von Damian Hirsts Auktion im November 2008 konnte Grill freilich noch nichts ahnen -, dann hat das wenig mit klassischer Kriminalliteratur zu tun, wie wir sie etwa von Ulrich Ritzel oder Andrea Maria Schenkel kennen.
Zwar werden auch in deren Romanen nicht nur vordergründig Kriminalfälle und deren Auflösung gezeigt, sondern auch die verborgenen Leidenschaften und Verstrickungen, die zum Verlassen der bürgerlichen Ordnung führen konnten. Doch zeichnet Grills Roman vor allem der bitterböse und humorvolle Ton aus, der die Grundlage auch für die satirischen Seitenhiebe auf die Mechanismen der Kunstwelt und des Kunstmarktes bildet. Am Ende ist der Tod nur ein weiteres Kunstprodukt einer ohnehin schon künstlichen Welt, als deren paradigmatischer Vertreter der nach außen hin bieder wirkende und lebende, ansonsten aber an Huysman'sche Ästhetizisten gemahnende Viktor Escher gelten kann. Gerade in seinem Falle wird die Nähe von Grills Auffassung der Bedeutung und Funktion einer Kriminalgeschichte zu französischen Vorbildern wie Simenons "Die Phantome des Hutmachers" deutlich, in dem in ähnlicher Weise sprachlich lakonisch die zahlreichen Spleens, Wahnvorstellungen und -handlungen eines verkannten menschlichen Monsters geschildert werden.
Ist es Evelyn Grill mit ihrem nicht subtilen, aber unterhaltsamen, nicht psychologische Abgründe auslotenden, aber stimmungs- und humorvollen Roman "Schöne Künste" noch gelungen, an ihren Erfolg mit "Vanitas oder Hofstätters Begierden" (2005) anzuknüpfen, so betritt sie mit dem jüngst erschienenen, schmalen Roman "Das römische Licht" nicht nur thematisch neuen Boden. Auch von dem Witz und dem Gespür für die Darstellung von Stimmungen ist in diesem Roman nichts zu bemerken, in dem sich eine Banalität an die nächste reiht.
Aus der Ich-Perspektive schildert die Malerin Xenia ihre Eindrücke und Kunsterlebnisse ihres Aufenthaltes in Rom, der ihr durch ein Stipendium ermöglicht wurde. Im Schmelztiegel moderner italienischer Lebensart und der abendländischen Kulturmetropole hofft sie nicht nur künstlerische Anregungen für ihre offenbar schon längst versiegte künstlerische Inspiration und Schaffenskraft zu finden, sondern sich auch von der übermächtigen, egomanischen Schriftsteller-Mutter zu emanzipieren, unter deren Gefühllosigkeit sie ihr ganzes Leben lang gelitten hat. In die nicht erst seit Goethe für die deutsche Rom-Literatur und Rom-Sehnsucht klassischen Motive der (künstlerischen) Selbstfindung auf römischem Boden und dem sezessionistischen Antrieb als Ausgangspunkt versucht Grill das verzweifelte Ringen ihrer Erzählerin Xenia um Anerkennung einzuflechten, hinter dem sich letztlich eine wenig überzeugende Sehnsucht der Ich-Erzählerin nach Geborgenheit und Liebe verbirgt. Das liegt vor allem daran, dass die Beziehung zur Mutter, die schon zu Beginn des Romans im Sterben liegt, was am Ende auch zur vorzeitigen Rückkehr der Tochter nach Deutschland führt, kaum entwickelt wird und von ebenso banalen, gefühlsduseligen Überlegungen und Äußerungen von Xenia geprägt ist wie deren Beschreibungen ihrer Kunst-Erlebnisses.
Bisweilen scheint es, als habe sich die Autorin alle paar Seiten auf den Titel ihres Romans besonnen. Immer wieder werden in kaum erträglicher Verkitschung die verschiedenen Spielarten des römischen Lichts und die Begegnungen mit den prominentesten Beispielen der römischen Kunst beschrieben, was allerdings in jedem billigen Reiseführer noch anschaulicher, vor allem aber korrekter nachzulesen ist. Da wird Caravaggios "Berufung des Heiligen Matthäus" in der französischen Nationalkirche San Luigi dei Francesi schnell mal zur "Berufung des heiligen Matthias" oder der Cappuccino wird aus einer "bauchigen Cappuccino-Schale" getrunken - ein Trinkgerät, das man in Italien lange suchen müsste.
Die Erzählerin legt großen Wert darauf, nicht zu den "stranieri" oder "tedeschi" gerechnet zu werden, kommt aber selbst nicht einmal über die Banalität touristischer Kommentare, wie man sie nur allzu oft vor jedem beliebigen römischen Bauwerk, auf jedem beliebigen römischen Platz zu hören bekommt, hinaus. Im Gegenteil. Zwar könnte man verteidigend die vielen Fehler bei der Beschreibung der Topografie Roms, die in ihrer Funktion nicht nachvollziehbaren Einsprengsel italienischer Vokabeln in noch weniger nachvollziehbarer unterschiedlicher Schreibweise - so wird etwa "Cappuccino" recte geschrieben, die dazugehörigen "Cornetti" aber immer kursiv - als die bewusst naiv gehaltene Figurenrede und Gedanken einer letztlich von ihrer Mutter zerstörten jungen Malerin halten. Doch passt diese Naivität in der Begegnung mit den Kunstwerken gerade nicht zu einer ansonsten als ambitioniert auftretenden Künstlerin. Wer kann eine Künstlerin noch ernst nehmen, die sich nicht entblödet, zu meinen, dass "Caravaggio, das Bild für mich gemalt [hat], gegen mich gemalt, auch für mich, auch gegen mich" oder die gerne "eine Skulptur in den Vatikanischen Mussen gerne gewesen [wäre]".
Die hier erzählte und verunglückte Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung und einer künstlerischen Sinnkrise hat mit Rom gar nichts zu tun und Rom auch nichts mit der Geschichte - ebenso gut könnte das ganze in Kassel oder Freiburg spielen. Das ist insofern bedauerlich, weil der Roman selbst auf eine tatsächliche Begegnung - und zwar auch aufgrund eines römischen Stipendiums - der Autorin selbst zurückgeht. Diese Künstlerstipendien waren einmal der Garant für das Fortleben - und sei es nur in Form einer Hasstirade gegen die Stadt und die Lobgesänge auf sie wie etwa bei Rolf Dieter Brinkmann - einer langen Tradition deutschsprachiger Italien- und Romliteratur, in der sich zumindest eine halbwegs intelligente Auseinandersetzung mit der Stadt und ihrem Schrift gewordenen Erbe erkennen ließ. Allerdings ist Grills Rom-Roman keine Ausnahme: spätestens seit dem von völliger Ahnungslosigkeit zeugenden und ebenfalls auf ein Stipendium (Villa Massimo) zurückgehenden Produkt seines römischen Aufenthaltes, seit Feridun Zaimoglus "Rom intensiv" (2007), wissen wir, dass die deutschen Stipendiaten offenbar nur noch um des Stipendiums willen nach Rom fahren und die Ergebnisse ihrer Aufenthalte gar nichts mehr von einem Grundwissen über die "lorbeerumschattete Wiege des abendländischen Geisteslebens" (Levin Schücking) erkennen lassen.
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