Nicht Fisch, nicht Fleisch

Vier dürftige Romane - ein Buch

Von Dorothee HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothee Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welche Art Roman wollte Hanns-Josef Ortheil schreiben? Was mit ihm bewirken? Das sind Fragen, die sich der Leser bei der Lektüre von "Faustinas Küsse" ermüdet stellt.

Sollte es ein Spionageroman werden? Vielleicht, aber Spionagegeschichten haben in der Regel einen Spannungsbogen und sollten packend auf den Leser wirken, was hier nicht der Fall ist. Immerhin muß der Leser ungefähr drei Viertel des Buches verfolgen, wie der junge Römer Giovanni Beri - im Auftrag des "Heiligen Vaters" - Johann Wolfgang Goethe hinterherspioniert.

Es wäre auch möglich, daß Ortheil die Entwicklung Beris darstellen wollte. Der junge Tagedieb lernt durch die Bekanntschaft mit Goethe, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Aber irgendwie ist die Figur nicht sehr spannend, und der Leser würde lieber etwas mehr von Goethe erfahren, den er bei Beginn der Lektüre im Mittelpunkt des Geschehens glaubte.

Dies wiederum könnte auch das Ziel Ortheils gewesen sein. Den Lesern ein menschliches Bild vom Dichterfürsten zu malen, sie eintauchen zu lassen in SEINE Welt, in SEIN Rom. Aber weshalb muß man hundert Seiten warten, bis Beri überhaupt weiß, daß es sich um Goethe handelt, und noch eimal hundertfünfzig, bis er sich ihn zum Freund gemacht hat und der Leser ihm dadurch auch näher kommen kann? Es bleiben hundert Seiten. Aber auch dort kommt man Goethe nicht wirklich nahe, weil man gezwungen ist, ihn durch die Augen Beris zu sehen - und dessen Sichtweise ist nun wieder sehr beschränkt und deshalb nicht besonders interessant. So wirkt die Gestalt Goethes recht blutleer und ist nicht dazu angetan, den Leser zu veranlassen, sich über die Lektüre hinaus ein Bild von ihm zu machen.

Im Grunde ist die Figur Goethe sogar austauschbar und, wer weiß, vielleicht täte es der Geschichte gut, wenn es um einen fiktiven Dichter gehen würde: man hätte nicht allzu große Erwartungen an den Roman gehabt. Ein großer Name weckt große Erwartungen, die nur schwer zu erfüllen sind.

Der Titel verheißt eine Liebesgeschichte. Ist es das, was Ortheil wollte, eine Liebesgeschichte schreiben? Beri beginnt ein Verhältnis mit der schönen Witwe Faustina, die in einer Wirtschaft als Kellnerin arbeitet. Als es ihm an einem Abend geglückt ist, mit Goethe Freundschaft zu schließen, gehen die beiden in die besagte Wirtschaft - und Goethe gewinnt Faustina für sich, was Beri in große Verzweiflung stürzt. Dieser Teil der Handlung ist überzeugend. Daher ist es schade, daß es hundertsiebzig Seiten dauert, bis Beri und Faustina ein Verhältnis beginnen, und noch einmal hundert, bis sich Goethe unwissentlich in die Beziehung drängt.

Auch der gewollte Bezug zu Goethes "Die Leiden des jungen Werther" ist dürftig. Beri erleidet zwar ähnliche Qualen wie Werther, geht jedoch gestärkt daraus hervor. Dabei stützt er sich bewußt auf Goethes "Werther"-Roman, den er in seiner eigenen Leidensphase wie seinen einzigen Freund behandelt. Die Idee ist durchaus passabel, doch hätte man sich eine originellere Umsetzung gewünscht. Man wird von Beris Leiden einfach nicht mitgerissen, wie es bei "Werther" der Fall ist. Dieser Bezug wirft wieder das bekannte Problem auf: Offensichtliche Parallelen zu einem Werk der Weltliteratur wecken eben auch entsprechend hohe Erwartungen und laden die Leser zu Vergleichen ein.

Welchen der vier Romane wollte Ortheil nun schreiben? Einen Spionage-, Entwicklungs-, Goethe- oder Liebesroman? Vielleicht wollte er sich auch gar nicht entscheiden, sondern in einem Buch vier Romane vereinen. Aber es ist ihm nicht gelungen, das in einer adäquaten Form zu tun. Kein Thema ist erschöpfend behandelt und deshalb ist auch keines wirklich interessant oder spannend. Auch in ihrem Zusammenspiel bilden sie kein abgerundetes Ganzes. Der Roman "Faustinas Küsse" ist nicht Fisch, nicht Fleisch: In den thematischen Ansätzen und sprachlich-stilistisch durchaus nicht schlecht, fehlt es ihm jedoch erheblich an Leben und Farbe. Vielleicht hätte die Konzentration auf nur ein Thema den Roman lesenswert gemacht. So ist er es nicht.

Titelbild

Hanns-Josef Ortheil: Faustinas Küsse.
Luchterhand Literaturverlag, München 1998.
350 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3630869742

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