"Drum ist ein Jauchzen sein Wort"

Schweizer Literaturwissenschaftler Boris Previšic entschlüsselt Hölderlins Rhythmus

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten folgen häufig konventionalisierten und standardisierten Gestaltungsweisen, die einen ungetrübten Lesefluss erschweren, wenn nicht sogar hemmen. Bereits der unprätentiöse Titel der Zürcher Dissertation von Boris Previšic - "Hölderlins Rhythmus" - nährt den Verdacht, dass in diesem Falle ein anspruchsvolles Thema wissenschaftlich solide und ergebnisorientiert untersucht, damit aber auch den Standards und Konventionen der Fachdisziplin entsprechend behandelt wurde - mit allen Konsequenzen. Das macht aber nichts.

Previšic tritt mit dem Anspruch auf, eine objektiv feststellbare Lücke in der germanistischen und komparatistischen Literaturwissenschaft schließen zu wollen: Er untersucht den Rhythmus der Gesänge Friedrich Hölderlins aus den Jahren 1795 bis 1808 und konstatiert dabei einen tiefgreifenden Wandlungsprozess, welcher als "metrische Dekomposition" bezeichnet wird. Die weitreichenden Ergebnisse seiner klar gegliederten Studie, deren Untertitel "Ein Handbuch" den Stellenwert der Erkenntnisse unterstreicht, sind materialreich entfaltet und hinreichend verifiziert.

Die Leitfrage des Handbuches ergibt sich nach einer Musterung der Sekundärliteratur zur Hölderlin-Forschung, die sich bislang um die extrem beherrschte Rhythmisierung der Gesänge nicht hinreichend bemüht und ferner eine historische Kontextualisierung im Sinne der Frage, "wie der poetische Rhythmus zu Zeiten Hölderlins produziert und wahrgenommen wurde", kaum geleistet habe. Dies führt den schweizer Forscher zu der These, dass sich an Hölderlins Entwicklung der Übergang von der antikisierenden Dichtkunst hin zu einer Lyrik, die sich deutscher Metriken bediene, exemplarisch nachzeichnen lasse. Insoweit vertritt Previšic den epistemologischen Ansatz einer Korrespondenz von Stoff und Rhythmus, der bereits in der zeitgenössischen Äußerung Hölderlins, überliefert in Bettina von Arnims "Günderode", angedacht war: "Und so habe den Dichter der Gott gebraucht als Pfeil, seinen Rhythmus vom Bogen zu schnellen, wer dies nicht empfinde und sich dem schmiege, der werde nie weder Geschick noch Athletentugend haben zum Dichter [...] und keine poetischen Formen werden sich ihm offenbaren."

Methodisch liegt der Studie ein induktives Verfahren zugrunde, das die metrisch-rhythmischen Phänomene als Bausteine für die Entwicklung einer allgemeinen Systematik des genuin Literarischen begreift. Der Autor Hölderlin begann nicht als creator ex nihilo, vielmehr schrieb er unter Rückgriff und Kenntnis der metrischen Praxis seiner Zeitgenossen - vor allem Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Gottlieb Klopstock und Karl Philipp Moritz sind hier stellvertretend zu nennen. Daran anknüpfend zeigen die Übersetzungen Hölderlins nach 1800 eine spezifische Aneignung des griechischen Rhythmus: Während er in einer ersten "metrischen Phase" die so genannte äolischen Perioden des antiken Chorgesangs von Sophokles direkt von der Vorlage übernimmt, entfernt er sich in den folgenden Übersetzungen zusehends davon. Je mehr sich der Dichter rhythmisch vom griechischen Original distanziere und sich Freiheiten erlaube, desto mehr imitiere er wiederum dessen Grundrhythmus, wie Boris Previšic in seiner profunden Analyse unter der Kapitelüberschrift "Voraussetzungen für den freien Vers" herausarbeitet.

Diese Gegenläufigkeit in der Übersetzungstätigkeit Hölderlins, die so genannte "hesperische" Tendenz, bilde die rhythmische Grundlage der großen Gesänge wie etwa "Friedensfeier", "Der Rhein" und "Patmos", die neben der "Wanderung", "Germanien" und dem "Einzigen" im Kapitel "Der Rhythmus der Gesänge" ausführlich untersucht werden. Hölderlin-Kenner werden unschwer erkannt haben, dass es sich bei den genannten Gesängen vorrangig um solche handelt, die als "fertige Einheiten" überliefert sind.

Der sicherlich für den Leser anspruchsvollste Teil der Arbeit von Previšic verbirgt sich hinter der harmlos wirkenden Überschrift "Appendix". Der Autor skizziert zunächst die metrischen und rhythmischen Muster der Gesänge und liefert nach dieser phänomenologischen Fundierung eine präzise Rhythmisierung der oben genannten Gesänge gemäß Moritz' "Versuch einer deutschen Prosodie". Abgerundet wird der Band durch ein Literatur-, Siglen- und Abkürzungsverzeichnis.

Mit dem Handbuch von Boris Previšic liegt eine solide Studie zur metrisch-rhythmischen Gestaltungsfülle Hölderlins vor, die zu dem klaren Ergebnis gelangt, dass der Dichter zwischen den Jahren 1800 und 1802 "vom gebundenen zum freien Vers" übergeht. Die Motivation für das vertiefte Interesse an Hölderlins Gesängen resultierte bei dem nicht nur germanistisch gebildeten Wissenschaftler, dessen Vita auch fundierte musikalische Fähigkeiten aufweist, sicherlich aus einer interdisziplinären Orientierung. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die erhöhte akustische Sensibilität samt einer stupenden Detailtreue, die vor allem den umfangreichen Appendix der Studie prägt. Gegen die Mainstream-Position um den "freien Vers" in der germanistischen Forschung, die von einer Verfallserscheinung ausgeht, kann Boris Previšic zeigen, dass Hölderlins Rhythmus eine neue Stufe reflektierter Poetologie repräsentiert, die sich als verstärke Adaption und Assimilation des griechischen Modells im Sinne einer "hesperischen Poetologie" entpuppt.

Für die Forschung leistet die Studie einen wichtigen Anstoß, der sicherlich sowohl zu kontroversen als auch innovativen Neubetrachtungen Anlass bieten wird. Für den interessierten Leser bietet die Studie darüber hinaus eine wichtige Hilfe für das Deklamieren von Hölderlin-Versen, da auch strittige Fälle eindeutig kategorisiert und rhythmisiert worden sind, sodass ein Nutzungswert für den Alltagsgebrauch in nuce gegeben ist.

Previšic leistet also auf wissenschaftlichem Gebiet mit seinem Handbuch das, was Hölderlin in der ersten Strophe des Gesangs "Friedensfeier" mutatis mutandis von einem guten Hausherrn verlangt - für Ordnung und klare Verhältnisse zu sorgen, wenn er dichtet:

"Der himmlischen, still wiederklingenden,

Der ruhigwandelnden Töne voll,

Und gelüftet ist der altgebaute,

Seeliggewohnte Saal, um grüne Teppiche duftet

Die Freudenwolk' und weithinglänzend stehn,

Gereiftester Früchte voll und goldbekränzter Kelche,

Wohlangeordnet, eine prächtige Reihe,

Zur Seite da und dort aufsteigend über dem

Geebneten Boden die Tische."


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Boris Previsic: Hölderlins Rhythmus. Ein Handbuch.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
320 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783861091851

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