Welche Moderne?

Peter Gay legt eine Verfallsgeschichte der künstlerischen Moderne vor

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die neue Attraktivität der Moderne hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sie als Paradigma gesellschaftlicher, kultureller und künstlerischer Existenz in den letzten 150 Jahren verstanden wird. Das aber steht gegen eine Auffassung, die die Moderne - wenn wir uns hier auf die Kunst-Moderne konzentrieren - als abgeschlossene künstlerische Phase behandelt wissen will, die ihre historischen Verdienste hatte, sich jedoch im Kern als Fehlentwicklung erwiesen hat. Die Wertschätzung, die am Kunstmarkt die (wahlweise) Moderne, Klassische Moderne oder Avantgarde genießt, verstärkt dies noch.

Der Widerspruch zwischen beiden Denkmustern ist das Resultat von differenten Haltungen zur Gegenwart und deren Ableitung aus der jüngeren Vergangenheit, die, wenn nicht politisch, so doch mindestens kulturell und habituell zu verstehen sind.

Die Offenheit des Horizonts der Kunst der Moderne, die Zerschlagung von Ordnungs- und damit Orientierungssystemen, die Durchbrechung der Schranke zwischen Kunst und Leben gehören zu den Kernparadigmen der Moderne wie der modernen Kunst. Das umfasst auch den Status des Künstlers, dessen ambivalente Position des internen Außenseiters zwar als gesellschaftliche Instanz Anerkennung findet, jedoch zugleich und unhinterschreitbar auf Distanz zur Gesellschaft geht und diese gleichermaßen kritisch wie belehrend betrachtet und beschreibt.

Dass diese Position ideologisch und damit gesellschaftlich funktional ist, ist den Künstlern wie ihren Apologeten dabei nicht notwendig bewusst (wie nicht nur die Beispiele Julius Langbehn, Filippo Tommaso Marinetti oder Raoul Hausmann zeigen). Die Zivilisations-, Kultur- und Technikkritik, die im 19. Jahrhundert zum Kernthema der Intellektuellen und Künstler gerät, zeigt zudem an, dass sich die Gesellschaft grundlegend ändert und dass damit auch die Position, der Status und die Rolle der Künstler neu bestimmt werden. Die Provokation der Gesellschaft wird damit ebenso zu einer seiner Verhaltens- und Haltungsvarianten wie die Kritik von Gesellschaft (die in einem breiten Variationsspektrum entwickelt wird). Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt sich der Künstler aber zu einem polyvalenten Medienarbeiter, der sich in einem selbstbezüglichen und deutlich segmentierten System gesellschaftlicher Interpretation und Kreation bewegt, dabei von der Gesellschaft im Allgemeinen anerkannt und im Glücksfall auch bezahlt wird.

In der Linie dieser Entwicklung ist es konsequent, wenn die Kunst (sei diese bildend, musikalisch oder literarisch) sich um kategoriale Grenzen wenig gekümmert hat, zumal nicht um die zwischen Kunst und Leben. Genauer besehen ist sie sogar dazu gezwungen, diese Grenze habituell und in ihren Produktionen aufzugeben. Denn nur in der Doppelcharakteristik als spezifische Bearbeitung von Realität und ihrer Verweigerung ist Kunst als Kunst vollständig - ein Widerspruch, der in dem zwischen funktionsloser Kreativität und dem Warencharakter der Kunst wiederkehrt. Eindeutigkeit ist von Kunst nicht zu erwarten, ebenso wenig wie eine Beschränkung auf gesicherte Positionen. Auch das gehört zu den Eigenschaften, die Peter Bürger der Moderne (in seiner Studie "Prosa der Moderne") zugeschrieben hat, nämlich konzeptionell auf die Ausformung der Extreme ausgelegt zu sein. Eine solche Beschreibung der Position und Funktion der Kunst in der Gesellschaft ist mit einer Sicht auf die Moderne als abgeschlossene Periode künstlerischer Produktion kaum vereinbar, die als Bewältigungsstrategie die anscheinend immer noch schwelenden Provokationspotentials zu verstehen ist.

In diesem Feld nun ist Peter Gays soeben auf Deutsch erschienene "Geschichte" der Moderne zu verorten. Dass von Peter Gay eine aufschlussreiche Studie zu diesem Thema erwartet werden kann, liegt nicht allein daran, dass er mit zahlreichen lesenswerten Studien zur Geschichte und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts hervorgetreten ist, darunter - um eine einigermaßen thematisch naheliegende Publikation zu nennen - eine Studie zum Verhältnis von "Bürger und Boheme" im 19. Jahrhundert. Zugleich ist von einem Historiker zumindest ein origineller Blick auf die Kunst der Moderne denkbar, weniger abgelenkt von den kunsthistorischen Details, mehr geleitet von dem Wissen um den Zusammenhang von Gesellschaft, Geschichte und Kultur mit der Kunst.

Wie erwartet betont Gay auch seine Absicht, die moderne Kunst in ihren sozialhistorischen Kontext einzubetten und sie daraus zu begründen. Als Historiker sei er darum bemüht, "die Werke der modernen Künstler" einigermaßen "in den Rahmen jener Welt zu stellen, in der sie lebten." Erfolg habe die Moderne nur deshalb gehabt, so schreibt er, "weil die Bedingungen gut ein Jahrhundert lang oder auch länger günstig für sie waren". Die moderne Kunst habe "gewisse(r) gesellschaftliche(r) und kulturelle(r) Voraussetzungen" bedurft. So sei die Moderne auf "einen Staat und eine Gesellschaft relativ liberaler Ausprägung angewiesen" gewesen. Außerdem sei die moderne Kunst nur in einer "fortgeschrittenen Phase der westlichen Zivilisation" entstanden, in der "gewisse soziale Einstellungen und Gewohnheiten" ihre "Aufnahme begünstigten".

Das habe aber nichts mit der politischen Haltung der Künstler zu tun: Der "modernen Kunst", so hält Gay fest, "liegt keine demokratische Ideologie zugrunde". Darauf komme es nicht an. Zahlreiche moderne Künstler seien Antidemokraten, ja Faschisten gewesen. Mit anderen Worten, "die Rebellion der modernen Kunst" ging "aus allen Lagern der politischen, intellektuellen und emotionalen Welt" hervor.

Denn nicht die Politik habe die Moderne in erster Linie interessiert, auch wenn sie sich zum Teil politisch positioniert hätte. Stattdessen seien die Künstler nur an zwei Dingen interessiert gewesen, am "Reiz der Häresie" (also am Skandal) und an der Erforschung ihrer selbst. Wenn es eine ideologische Grundlage der modernen Kunst gegeben habe, dann diese.

Nun sind beide Kriterien ideal für einen individualpsychologischen Erklärungsansatz, dem sich Gay auch sonst in seinen Publikationen verschrieben hat. Er kündigt entsprechend bereits zu Beginn seiner Studie an, immer wieder auf psychoanalytische Denk- und Erklärungsmuster zurückgreifen. Man darf also erwarten, dass Gay im Laufe seiner Geschichte der Moderne immer wieder auf psychische Dispositionen und Erklärungsmuster verweist, mit denen die Produkte der modernen Kunst erklärbar sind.

Mit anderen Worten: Wir haben ein Thema, wir haben eine Methode, wir haben eine These und wir haben einen Autor, dessen Routine und Verdienste bei der Aufarbeitung historischer Gegenstände außer Zweifel stehen. Und wir haben ein gründlich misslungenes Buch.

Misslungen aus verschiedenen Gründen: weil der Begriff der modernen Kunst nicht ausreichend geklärt und die Moderne auf ein allzu schmales Spektrum von Künstlern und Werken beschränkt wird, das unter der Hand nach Geschmackskriterien zusammengestellt wird, weil die Einbettung und Ableitung aus dem sozialhistorischen Kontext nicht vorgenommen wird. Statt psychoanalytischer Erklärungen werden nur Allerweltsweisheiten geboten und die Moderne wird schließlich historisch und phänomenal mit dem Beginn der Nachkriegsmoderne abgeschlossen, um die späteren Entwicklungen als Niedergang abgrenzen zu können.

Gay dampft den Gegenstand, die moderne Kunst, auf eine Reihe exemplarischer Repräsentanten ein, die im Ganzen vor allem eins sind: konsensfähig. Von Charles Baudelaire über Pablo Picasso bis Andy Warhol, in der Bildenden Kunst, der Literatur, der Musik, im Tanz, in der Architektur, im Design, im Theater und im Film - die allesamt von Gay skizzenhaft abgehandelt werden - findet sich alles, was in eine ganz normale Kunstgeschichte des späten 19. und laufenden 20. Jahrhunderts gehört. Zugegeben, insofern ist Gays Band umfassend und systematisch. Anders gewendet, ist Gays Moderne aber das, was jedes Konversationslexikon als moderne Kunst bezeichnen würde - womit weder etwas gegen Konversationslexika noch gegen Gays Position gesagt ist.

Immerhin hat ein solches Vorgehen Einiges für sich, vor allem dass Gay endlose Differenzierungsdebatten um das oder die Moderne einfach unterläuft und stattdessen auf den common sense setzt. Dass die Moderne besser zu erkennen als zu definieren sei, mag zudem angesichts der zahlreichen auseinanderdriftenden Definitionsversuche nachvollziehbar sein. Der Aufgabe, sich in diesem Feld zu positionieren, enthebt das aber auch Gay nicht. Und mit Formulierungen wie der, dass "eine beträchtliche Menge zuverlässiger Belege aus allen Bereichen der gehobenen Kultur eine gewisse Einheit in der Vielfalt, ein bestimmtes ästhetisches Denken, einen identifizierbaren Stil - den modernen Stil - erkennen lässt", demonstriert Gay leider vor allem eins, nämlich dass er sich dieser Aufgabe verweigert hat, vielleicht weil ihm allzu klar war, wovon denn in seinem Buch zu reden sein würde.

Aber selbst in dem Rahmen, den er selbst vorzuweisen vorgibt, bleibt er derart oberflächlich und allgemein, dass sein Bild der Moderne eine auffallende Verzerrung aufweist. Das zeigt sich zum Beispiel bereits an den zitierten Elementen der Moderne.

Was sind etwa die angeblich günstigen Bedingungen, die die moderne Kunst befördert haben? "Gewisse" kulturelle und gesellschaftliche Bedingungen, "relativ" liberale Regimes und "gewisse" soziale Einstellungen und Gewohnheiten? Was soll das sein, wenn sämtliche Standards der Moderne-Debatte der vergangenen Jahrzehnte - und wir reden hier ausdrücklich von der Kunst der Moderne -, also Urbanisierung, Industrialisierung, Wanderungsbewegungen, Fragmentierung von Biografien und Wahrnehmung, der Widerspruch zwischen der Freisetzung und Ermächtigung des Subjekts auf der einen Seite und seiner Entmündigung und Funktionalisierung auf der anderen Seite nicht angesprochen werden. Die Dynamisierung der gesellschaftlichen Entwicklung, die Verflüssigung sämtlicher Institutionen, von denen bereits Karl Marx und Friedrich Engels im "Kommunistischen Manifest" schrieben, und die Auflösung von Handlungsroutinen, die in der soziologischen Diskussion eine große Rolle spielen, kommen bei Gay nicht vor. Rätselhaft wird Gays Theorieverweigerung, wenn er in seinem Kapitel über die "Exzentriker und Barbaren" der Moderne zwar ein verdecktes Walter-Benjamin-Zitat benutzt, das aber so beiläufig einsetzt, dass man seinen Status (oder Gays Hintergrundwissen) nicht einzuschätzen weiß: "Seit einigen Jahren", heißt es dort, "vertreten Historiker der Nazikultur die These, die deutschen Machthaber von 1933 bis 1945 hätten nicht nur die Kultur politisiert, sondern auch die Politik ästhetisiert." Ein Satz, der nicht erläutert, eingebunden oder etwa widerlegt würde.

Merkwürdig widersprüchlich ist auch Gays Skizze zu den totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts. Zwar beschäftigt er sich in einem eigenen Abschnitt mit ihnen, zugleich aber betont Gay, dass die Sowjetunion, Nazi-Deutschland oder das faschistische Italien die moderne Kunst generell unterdrückt und in der Entwicklung gehemmt hätten. Grundsätzlich wird man solchen Sätzen zustimmen wollen, zumal die Moderne bis heute positiv konnotiert ist. Zutreffend sind sie allerdings nicht, und zwar einfach deshalb, weil sie viel zu allgemein sind. Was ist denn mit dem Aufbruch der Moderne in der frühen Sowjetunion? Was mit Salvador Dali im franquistischen Spanien? Was mit den Futuristen und ihrem Verhältnis zum faschistischen Italien? Zweifelsohne haben sich Nazi-Deutschland und die stalinistische Sowjetunion unisono gegen die Avantgarden gewandt und vor allem ihre avantgardistischen Zweige unterdrückt, sei es aus strategischen, sei es aus ideologischen Gründen. Dennoch haben beide Regimes spezifische Formen der Moderne ausgebildet, auch in der Kunst. Die Technikorientierung beider Regimes ist bekannt, was sie auf Dauer zwar nicht davor bewahrt hat, im Technologiewettlauf mit den westlichen Staaten ins Hintertreffen zu geraten. Mindestens aber der Nationalsozialismus hat so etwas wie ein modernes, urbanes Kultursegment zugelassen, jenseits der völkischen Ideologie, die das Regime gleichfalls gepflegt hat. Und der Formalismusvorwurf etwa der DDR-Kulturpolitik gegen Künstler wie Bertolt Brecht oder Hanns Eisler hat dieselbe Kulturpolitik nicht davon abgehalten, um Autoren wie Lion Feuchtwanger, Heinrich oder Thomas Mann zu werben. Sicherlich ist dies nicht zuletzt aus politischen Gründen geschehen, der Modernität dieser Autoren tut das aber keinen Abbruch. Auch die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte sind nicht von allzu großer Offenheit gegenüber den Avantgarden gekennzeichnet. Die Skandale um die Wiener Gruppe oder die Gruppe SPUR und die Provokationskraft, die einigermaßen simplen kulturpolitischen Aktionen innewohnte, sind gleichfalls keine tauglichen Exempel für offene oder liberale Systeme.

Auch ist nicht die Liberalität der Gesellschaften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts für die Entwicklung der modernen Kunst zentral (auch wenn der politische Liberalismus aus dem 19. Jahrhundert stammt; seine Positionierung in diesem Feld sei vorerst dahin gestellt). Stattdessen ließe sich ein anderes Argument ins Feld führen: Demnach wäre die Kunst nicht notwendig auf liberale, sondern auf sich öffnende, dynamisch verändernde Gesellschaften mit großen traditionellen Beständen angewiesen, in denen sie eine Provokationskraft entwickeln kann, die sie in späteren Phasen nicht mehr hat, weil die Integration von Provokation und Innovation ins gesellschaftliche System weiter vorangeschritten ist. Demnach sind die strukturellen Homologien zwischen Kunst und Gesellschaft notwendig vorhanden, ihre Provokationskraft aber ist strukturell bedingt und damit erst einmal historisch. Allerdings wäre zudem zu bedenken, inwieweit nicht die Containerisierung der modernen Kunst als historische Moderne damit zusammenhängt, dass sich die Provokationslinien verschoben haben, wie der Widerwille gegen avantgardistische Inszenierungen der Gegenwartsavantgarden, der Postmoderne oder den Kunstmarkt anzeigen, den nicht nur Gay äußert.

Die Provokationskraft der modernen Kunst liegt zudem weniger im Reiz, den die "Häresie" auf die Künstler ausgeübt hat. Selbst dies müsste als Haltung erst einmal implementiert werden, bevor es wirksam werden kann. In den sich im Laufe des 19. Jahrhunderts selbst umbauenden Gesellschaften, die zu modernen Industriegesellschaften und machtvollen Nationalstaaten wurden, die eine ungeheure Wirtschaftsmacht und technologische Kompetenz entwickelten, dabei zugleich zu Massen- und Wohlstandsgesellschaften wurden, die in der Regel repräsentativ-demokratische Regierungsformen wählten, bilden relativ starre Verhaltens- und Haltungsnormen ein - wenn man so will - notdürftiges, aber zugleich notwendiges Orientierungsmuster, das vor allem im sich neu formierenden Bürgertum große Verbreitung fand. Diese zugleich vorläufige wie sich unbeugbar gebende Ordnung steht der Entgrenzung und Offenheit des Subjekts entgegen, das die Basis der gesellschaftlichen Entwicklung ist. Nur mit Individuen, die aus den sozialen Ordnungen entbunden sind, und mit Subjekten, die sich mit dem Zwang und dem Potential konfrontiert sehen, sich selbst neu entwerfen zu müssen, ist die Moderne denkbar und machbar. In diesem Zusammenhang ist das Profil der Künstler der Moderne vielleicht immer noch extrem - extrem deshalb, weil im Normbereich der subjektiven Entwürfe vorgefertigte Muster gewählt werden, während die Künstler zum Teil wenigstens echtes habituelles und konzeptionelles Neuland betraten. Aber das bedeutet andererseits nichts anderes, als dass sie die Moderne und ihre Grundlinien wirklich ernst und beim Wort nahmen. Und wie der Umstand belegt, dass sie sich in vielem damit durchsetzen konnten, haben sie dies zurecht getan.

Im Unterschied dazu ist Gays Moderne zufällig und unbegründet. Sie ist einfach da, weil es - zugespitzt formuliert - seit Mitte des 19. Jahrhunderts einigen Künstlern gefiel, sich intensiver mit sich selbst zu beschäftigen und mit dem, was sie dabei herausfanden, ihr Umfeld heftig zu belästigen. Nicht einmal psychoanalytische Begründungen nutzt Gay für die Entstehung der Moderne, was man entweder als Untreue gegenüber seiner ureigensten Methode verstehen kann oder als Eingeständnis dessen, dass er mit seinem Gegenstand nichts anzufangen wusste.

Statt aber Ableitungen, Erklärungen und Begründungen für die Moderne zu lesen, seien sie thesenhaft formuliert oder aus dem Material abgeleitet, lernen wir vor allem Gays Kunstgeschmack kennen. Vom Dadaismus hält er nicht viel, lediglich seine typografischen Experimente findet er bedenkenswert. Die einigermaßen deftigen späten erotischen Zeichnungen Picassos lassen Gay immerhin die Ansicht äußeren, dass Picasso "beim Malen und Zeichnen von Sexualität oft die Maske der Sublimierung beiseite" gelassen habe, was wohl beim Leser einen Aha-Effekt auslösen soll. Auf derselben Seite wird zudem mitgeteilt, dass "Sexualität und Aggression" "natürlich" "unverzichtbares Rohmaterial für jeden Maler, Dichter oder Theaterschriftsteller" seien. Gay versteht sich außerdem zu Sätzen wie dem, dass "moderne Maler" sich nicht der "Schönheit verpflichtet" gefühlt hätten, "aber einige von ihnen schufen sehr schöne Bilder". Immerhin lassen sich bei Picasso, dem "altmodische(n) Spanier", zwar nur wenige Beispiele unter den erotischen Zeichnungen finden, in denen er sich "lange bei den zärtlichen Momenten der Liebe aufgehalten" habe, "aber die sind da und reizvoll anzuschauen". Das wollten wir von erotischen Zeichnungen aber auch gehofft haben.

In diesem Stil geht es durch das gesamte Buch. Zudem werden Biografien angerissen und Geschichten und Anekdoten erzählt. Gay berichtet von Bildern, Objekten, Kunstwerken und ihrer Wirkung, von der Armut der Künstler am Beginn ihrer Karriere und vom Reichtum einiger an ihrem Ende, von den Streitereien zwischen den Modernen und ihren Kompromissen mit der Gesellschaft, in der sie schließlich unhintergehbar zu leben hatten. Nichts von alledem wird zur Erklärung genutzt, nichts erhellt die Moderne wirklich, alles bleibt deskriptiv und zufällig.

Gelegentlich hebt Gay gar hervor, dieses oder jenes Phänomen sei symptomatisch, versäumt es aber mitzuteilen wofür. Belege bringt Gay zumeist nicht bei (wenn denn nicht die Vielzahl der Geschichten und Anekdoten als Belege gelten sollen). Die fast mystische Anrufung der Selbsterkenntnis der Künstler etwa steht dem Verweis auf die Häufung von Selbstporträts, die Gay in einem eigenen Kapitel zusammenstellt, gegenüber, ohne dass beides hinreichend argumentativ verknüpft würde. Warum aber nun gerade diese Künstlergeneration so intensiv den Blick nach innen gewandt hat, begründet Gay nicht weiter - vielleicht weil es ihm derart selbstverständlich ist, dass es ihm keiner weiteren Rede wert zu sein scheint.

Dafür ist seine größte Sorge, dass die Kunst sich von der Auflösung der Grenzen zwischen Kunst und Leben nicht mehr erholen werde. Verheerend nennt er Marcel Duchamps These, "wonach alles Kunst sein könne", mit anderen Worten, den "Wirklichkeit gewordenen Traum der Pop-Art" - und erinnert sich an die "lange und gute Zeit" der Moderne, als sie noch "ihre - oft exquisiten und stets neuartigen - Erzeugnisse aus den Markt der Kultur" geworfen habe und "damit Verwirrung" gestiftet, "die Menschen in Erstaunen" versetzt und "ihnen Vergnügen" bereitet habe. Aber diese Zeit ist nun, meint Gay, offensichtlich vorbei. Stattdessen bleiben weder Vergnügen noch Erstaunen, sondern nur Verwirrung, Ablehnung und ein überdrehter Kunstbetrieb, der das Maß und die Preise nicht mehr zu halten weiß. Ein deutlicheres Zeichen, dass Gay das Verständnis für die Kunst-Moderne seit den 1960er-Jahren fehlt, gibt es kaum. Aber das ist vielleicht auch eine Frage der künstlerischen Sozialisation.


Titelbild

Peter Gay: Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Bischoff.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
654 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783100259110

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