"Sie wiederholen nur immer, dass sie modern sein wollen"

Ein Überblick über die neueste Forschungsliteratur zur Wiener Moderne

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 1. Januar 1890 erschien das erste Heft der von Eduard Michael Kafka herausgegebenen Monatsschrift "Moderne Dichtung", die bereits im Titel das Schlagwort der Jahrhundertwende führte. Wahrgenommen wurde die "Moderne Dichtung" als Organ der naturalistischen Schriftsteller in Österreich, doch schon Hermann Bahrs in der ersten Nummer erschienener Aufsatz "Die Moderne" nahm vorweg, was er in seiner "Überwindung des Naturalismus" (1891) forderte: Eine "Mystik der Nerven" sollte entstehen, aus der die Moderne geboren werden sollte. Die Protagonisten des Kreises, die diese Leistung vollbrachten, waren zumeist junge Männer aus dem gehobenen Bürgertum, die "etwas abseits vom schweren Leben" (Peter Altenberg) standen: Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten, Leopold Andrian, Richard Beer-Hofmann und eben Bahr selbst.

Revolutionär wie das "jüngste Deutschland" wollte man jedoch nicht sein, das Alte sollte überwunden werden, ohne auf die Traditionen der "alten" Dichtung zu verzichten. Jung Wien - wie sie sich selbst bezeichneten - wollte, so Bahr in seinen "Studien zur Kritik der Moderne", das Alte "für ihre neuen Zeiten richten" und "es auf die letzte Stunde bringen". Ein Programm hatte man dabei nicht: "Sie haben keine Formel. [...] Sie haben keine Ästhetik. Sie wiederholen nur immer, daß sie modern sein wollen. [...] In allen Dingen um jeden Preis modern sein - anders wissen sie ihre Triebe, ihre Wünsche, ihre Hoffnungen nicht zu sagen."

Modern sein um jeden Preis - die Vertreter dieser Prämisse brachten eine Literatur hervor, die in ihrer thematischen und stilistischen Vielfalt ebenso interessant wie revolutionär ist. Die Wahrheit, wie jeder sie empfindet, das Innere, die Gefühle und die "Nerven" gaben die Richtung vor.

Ebenso vielfältig wie das Œuvre Jung Wiens ist auch die Literatur über die Wiener Moderne. Jedoch ist das Interesse der Forschung erstaunlich einseitig. Während die Studien und Aufsätze zu Schnitzler und Hofmannsthal beinahe unüberschaubare Ausmaße annehmen, sieht die Situation bei Beer-Hofmann oder Andrian schon wesentlich übersichtlicher aus. Im Falle Saltens schließlich kann man die gesamte Forschung bequem innerhalb einer Woche sichten. Erst in jüngster Zeit scheint das Interesse an diesem Autor im Gefolge einer Ausstellung im Jüdischen Museum der Stadt Wien im Jahr 2006 - zu der auch ein hervorragender Ausstellungskatalog erschienen ist - wieder zuzunehmen.

Überblicke und Gesamtdarstellungen

Will man sich einen Überblick über die Schriftsteller Jung Wiens, deren Werk, deren Einflüsse und den damaligen Literaturbetrieb verschaffen, so kommt man an dem überaus fundierten, 1995 in erster Auflage erschienenen Band "Wiener Moderne" von Dagmar Lorenz nicht vorbei. Nun liegt in der Sammlung Metzler eine zweite, wesentlich erweiterte und überarbeitete zweite Fassung vor. Nirgends sonst findet man auf knapp 230 Seiten eine solche Menge an Informationen und zwar kurzen, aber gewissenhaft zusammengestellten Exkursen zu wissenschaftlichen und geistigen Vorbildern der Epoche, den programmatischen Ideen und Einflüssen der Schriftsteller sowie zur Rezeption und Wirkung des Jungen Österreich.

Ausführlich geht die Autorin auf die Rahmenbedingungen ein, von denen die Autoren Jung Wiens geprägt wurden, ohne dass Lorenz darüber das Ganze aus den Augen verliert. Immer wieder kommt sie auf die Fragestellungen zurück, die den geistigen Kosmos der Texte konstituieren: Das Ich und die Seele, der Traum und die Wünsche, das Leben zwischen Kunst und Realität, die Unzulänglichkeiten der Sprache. Lorenz verortet diese im avantgardistischen Mikrokosmos zwischen Ernst Machs "Analyse der Empfindungen", Sigmund Freuds Psychoanalyse, dem Feuilletonismus Karl Kraus' und des untergehenden Habsburgerreiches und zeigt das Wien der Jahrhundertwende als Kulminationspunkt einer zentraleuropäischen Moderne.

Zusammen mit Gottharts Wunbergs Textsammlung zur Wiener Moderne sollte diese Einführung in keinem Regal eines jeden fehlen, der sich mit der Literatur Jung Wiens beschäftigt. Über den üblichen Rahmen eines ersten Überblickes hinaus gehen die zahlreichen Anregungen und Anstöße zur weiteren Forschung, die Lorenz in diesem Band bietet. Abgerundet wird das Buch von einer mehr als 25 Seiten umfassenden Bibliografie und einem ausführlichen Register.

Nicht nur mit der Wiener Literatur der Jahrhundertwende beschäftigt sich das von Sabine Haupt und Stefan Bodo Würffel herausgegebene "Handbuch Fin de Siecle", das den Versuch unternimmt, die Epoche und deren stilistische, literarische und künstlerische Vielfalt in einen umfassenden, paneuropäischen Kontext zu fassen. Dieser Versuch ist in weiten Teilen gelungen, auch wenn sich die Autoren auf den deutschsprachigen Raum fokussieren, nicht ohne jedoch die Entwicklungen in anderen europäischen Ländern zumindest zu streifen. Ein eigenes Kapitel "Länderpanorama" gibt einen zwar knappen, dafür aber in seiner Informationsfülle überaus befriedigenden Überblick über die Situation in Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und Russland, aber auch in den Balkanländern und in Skandinavien, die vor allem für den Naturalismus und den Symbolismus von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Die mehr als vierzig Seiten umfassende Einleitung von Würffel stellt informativ die scheinbar unvereinbar erscheinenden, vielfältigen Strömungen und Entwicklungen der Zeit in oftmals ungewohnte Kontexte, reißt die wichtigsten Rahmenbedingungen an und zeichnet ein schillerndes Bild jener Epoche des Übergangs zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert. Er schildert anschaulich dieses Nebeneinander von Avantgarde und Reaktion, den Aufbruch der Moderne in einer "Welt von Gestern".

Diese "Welt von Gestern" und die anvisierte "Welt von Morgen" wird in knapp zehn Kapiteln zu Politik, Kultur und Gesellschaft in vielen - oft unvermuteten - Aspekten beleuchtet, interessant sind hier vor allem Andrea Henneke-Weischers Ausführungen zur "deutsch-jüdischen Kulturgesellschaft" oder Sabine Haupts Überblick über Themen und Motive, so etwa zur femme fatale oder zur Soziologie und zur Wahrnehmung des "Molochs" Stadt. Die geistigen Zentren der Avantgarde in Paris, Wien, Berlin, London, München oder St. Petersburg werden ebenso untersucht wie die zahlreichen Künstlerkreise und -gruppen, seien es der George-Kreis oder die Kolonie am Monte Verita. Bisweilen erscheinen diese allerdings etwas zu kurz, etwa die Ausführungen Ulrich Linses zu den libertinären und theosophischen Strömungen des fin de siecle oder die nicht einmal zwanzig Seiten zu den "schreibenden Frauen" (Irmgard Roebling). Dies ist aber vor allem ein Grundproblem jedes "Handbuches", das auf seinem knappen zur Verfügung stehenden Platz nicht immer jeden Aspekt ausreichend beleuchten kann.

Der dritte Abschnitt des Handbuchs beschäftigt sich dann mit der Literatur des fin de siecle. Auf beinahe 200 Seiten bietet das Werk einen umfassenden Überblick über die Lyrik (Maria-Christina Boerner und Harald Fricke), das Drama (Rémy Charbon) und die Prosa (Helmut Koopmann und Reto Sorg) der Jahrhundertwende, der in dieser kompakten Form nur selten anzutreffen ist. Doch trotz der Fülle finden sich hier auch einige unverständliche Verknappungen. Der Abschnitt zur Wiener Moderne etwa konzentriert sich auf die üblichen Verdächtigen wie Schnitzler und Hofmannsthal. Ein zeitgenössischer, überaus wichtiger Akteur wie Salten findet als Prosaautor lediglich zweimal eine kurze Erwähnung, nur als Feuilletonist wird ihm eine tragende Rolle zugestanden, was zweifelsohne der Fall ist. Nur hat Salten in den Jahren zwischen 1900 und 1920 mehr als 20 Romane und Novellenbände veröffentlicht, die keineswegs wenig beachtete Ladenhüter oder von minderer literarischer Qualität waren.

Die beiden abschließenden Kapitel befassen sich mit der Kunst und der Wissenschaft des fin de siecle, auch hier werden die wichtigsten Strömungen und Entwicklungen von der Architektur bis hin zur Musik und zum Tanz, von der Philosophie über die Technikgeschichte hin zur Medizin knapp, aber kompetent vorgestellt. Eine schöne und überaus nützliche Idee des Handbuches sind die knapp zweihundert Seiten umfassenden Bio-Bibliografien, die kurz das Leben, und das Werk der zuvor angesprochenen Autoren, Wissenschaftler und Künstler der Geburtsjahrgänge 1850-1890 beschreiben, sowie diese in einen gesellschaftlichen und historischen Kontext einordnen. Ein weiterer Grund, das "Handbuch fin de siecle" trotz seiner - wenn auch kleinen und wenig ins Gewicht fallenden - Mängel als wichtiges Nachschlagewerk zu bezeichnen, das in seiner Informationsfülle und Handhabbarkeit seinesgleichen sucht.

Imagination, Identität und Maske - Einzeluntersuchungen zu Arthur Schnitzler

Arthurs Schnitzlers 1924 erschienene Novelle "Fräulein Else" ist der Untersuchungsgegenstand von Ester Salettas Dissertation "Die Imagination des Weiblichen. Schnitzlers Fräulein Else in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit", bei der einen schon bei der Lektüre der Vorbemerkung ein ungutes Gefühl beschleicht. Pathetisch schildert da die Autorin, wie sie zum Thema der Arbeit kam, detailliert wird dem Leser der Gang durch die Universität Wien beschrieben, der Doktorvater als "brillante[r] und kreativ[er]" Kopf gelobhudelt, der inmitten des "Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben" "auf der Suche nach einer rettenden Eingebung war", um der zukünftigen Studie "neuen Glanz und den Hauch des Innovativen" zu geben. Nicht nur der Vorbemerkung, auch der darauf folgenden Arbeit hätte ein weniger hart an der Grenze zur Stilblüte vorbeischrammender Tonfall gut getan. Saletta kümmert sich rein gar nicht um akademische Standards, der lockere Plauderton zieht sich durch den gesamten Text und bald ist man es leid, dauernd die Wendung "nach meiner Meinung" zu lesen. Meinungsstark ist die Autorin durchaus, die Erklärungen bleibt sie aber eins ums andere Mal schuldig. Else etwa wird von ihr einmal als femme fatale propagiert, was sie zwar anhand einiger Beispiele plausibel erläutert, einmal aber auch als süßes Mädel - was einigermaßen verwundert. Eine ehemalige Liebschaft Schnitzlers - ein ebensolches Mädchen aus der Vorstadt - soll das Vorbild für Else gewesen sein, wie Saletta unter heftigem Wedeln mit Schnitzlers Biografie ausführt, außerdem die Schauspielerin Adele Sandrock, die gleich im Anschluss mit dürren Worten in küchenpsychologischer Manier analysiert wird.

Auch Elses unschlüssiges Schwanken zwischen der Ablehnung des Mütterlichen und ihren Geburtsfantasien wird von ihr mit einem knappen Satz beschieden: Es wäre Elses "Überzeugung", "kinderlos zu bleiben und nie mit einem Mann eine feste Beziehung einzugehen". Ein paar Worte mehr dazu hätten nicht geschadet. Zu oft fegt die Autorin mit wenigen Worten über ihren Untersuchungsgegenstand hinweg und vergisst über allerlei Randbemerkungen ihr eigentliches Ziel. Es wird zwar klar, dass sich die männliche und die weibliche Imagination von Weiblichkeit unterscheiden, viele der emanzipatorischen Aspekte der Zwischenkriegszeit werden von ihr zwar erwähnt, aber nur wenig überzeugend in den Kontext von "Fräulein Else" gestellt. Und die Behauptung, dass derlei emanzipatorische Positionen bei Schnitzler keinen Raum finden, darf mit Recht angezweifelt werden.

Zusätzlich irritierend sind die zahlreichen historischen Fehler, die sich in Salettas Studie finden und die vom Lektorat offenbar übersehen wurden. Dass der antisemitischen Wiener Bürgermeister Karl Lueger bereits 1910 gestorben ist und somit nicht mehr im "politischen Panorama der Zwischenkriegszeit [...] die Partei der Kleinbürger" ergreifen konnte, hätte sie auf dem Straßenschild vor der Wiener Universität nachlesen können. Dass der Ferienort, in dem Else weilt, zwar zum Zeitpunkt der Niederschrift der Novelle nicht mehr, aber zum erzählten Zeitpunkt eben noch in der k. u. k.-Monarchie lag, ist nur ein weiterer Patzer. Die nationalsozialistische Bücherverbrennung verlagert sich bei ihr innerhalb von zehn Seiten gar aus dem Jahr 1933 ins Jahr 1938. Richtig ernst nehmen kann man die Studie daher nicht und man muss sich schon fragen, wieso ein solches Werk in einem renommierten Verlag wie Böhlau erschienen ist.

Ganz anders verhält es sich dagegen mit einer anderen Arbeit über Schnitzler, die aus einer Magisterarbeit an der Universität Hamburg hervorging. Die Literaturwissenschaftlerin Julia Freytag wendet sich in ihrer Studie "Verhüllte Schaulust" der 1925 - ein Jahr nach "Fräulein Else"- erschienenen "Traumnovelle" zu, die sie - unter Mitberücksichtigung von Stanley Kubricks Verfilmung "Eyes Wide Shut" (1999) - in den Kontext psychoanalytischer Untersuchungen zu Scham und Peinlichkeit stellt. Als Grundlage dient ihr Leon Wurmsers "Maske der Scham" (1990), und sie stellt Fridolins Reise durch die Nacht nach dem ihn grundlegend erschütternden Geständnis Albertines als den Versuch einer gescheiterten Emanzipation des Mannes dar. Fridolin möchte an den Grundfesten seiner Bürgerlichkeit rütteln, scheitert aber immer wieder an sich selbst, da er genau diese Werte gar nicht aufgeben möchte, sondern sich lediglich jeweils hinter einer Maske versteckt. Doch diese Rollen, in die er sich zurückzieht, bieten keine Sicherheit. Er wird immer wieder demaskiert und sieht sich der Beschämung ausgesetzt. Dieses Wechselspiel zwischen der Position des Voyeurs und der peinlichen Demaskierung stellt Freytag überzeugend und plausibel dar und zeigt Fridolin als ein in seinen Ängsten und bürgerlichen Zwängen gefangenen Mann, der - im Gegensatz zu Albertine - nur hinter der Maske seine Wünsche und sein Begehren scheinbar ausleben kann. Ein paar kleine Schwächen leistet sich die Autorin nur in jenen Kapiteln, die sich mit Kubricks Film beschäftigen, hier ist die Studie gelegentlich etwas vage formuliert - und was etwa an der schauspielerischen Leistung von Tom Cruise denn so besonders sein soll, bleibt das Geheimnis der Autorin.

Einem bislang von der Schnitzler-Forschung nur wenig beachteten Thema wendet sich Nikolaj Beier in seiner Arbeit "Vor allem bin ich ich. Judentum, Akkulturation und Antisemitismus in Arthur Schnitzlers Leben und Werk" zu, nämlich der Frage nach der jüdischen Identität im Werk und im Leben Schnitzlers. Angesichts der häufigen und expliziten antisemitischen Anfeindungen, denen sich Schnitzler nach Erscheinen seines Stückes "Professor Bernhardi" und vor allem nach der Uraufführung des "Reigen" im Jahr 1920 ausgesetzt sah, ist dies geradezu erstaunlich. Mit seiner Dissertation schließt Beier daher ein Stück weit eine Forschungslücke. Auf über 600 Seiten zeigt er in seiner materialreichen Studie zunächst, inwieweit der zunehmende Antisemitismus die politische Entwicklung in Österreich zu Beginn des 20. Jahrhundert prägte und welche Auswirkungen dieser auf das assimilierte, bürgerliche Judentum Wiens hatte. Beier konzentriert sich nicht nur auf die Biografie des Autors, sondern zieht auch die Werke Schnitzlers heran und untersucht, ob und in welcher Weise die antisemitischen Erfahrungen des Autors dort ihren Niederschlag finden. Drei Werke dienen ihm dabei als Orientierungs- und Kulminationspunkte: Der Roman "Der Weg ins Freie" (1908) sowie die beiden Theaterstücke "Professor Bernhardi" (1912) und der "Reigen" (1906), wobei letzterer eine eher untergeordnete Position einnimmt, da hier der Antisemitismus eher in der Rezeption als im Werk selbst eine größere Rolle spielt. Beier arbeitet sorgfältig und genau, er hat einen Blick fürs Detail, ohne dass er seine eigentlichen Thesen aus den Augen verliert. Überzeugend findet der Autor einen Weg zwischen den soziohistorischen und den literaturwissenschaftlichen Forschungen zum Thema, ohne dabei die Kontraste zwischen Person und Werk zu verwischen, seine Studie ist weder eine bloße Quellensammlung noch lediglich eine Textanayse, die die äußeren Umstände der Entstehung vernachlässigt. Er vertritt einen interdisziplinären Ansatz zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft auf der einen und einer soziologisch-historischen Sichtweise auf der anderen Seite, schafft es hierbei aber, weder in Beliebigkeit noch in bloßes Stückwerk zu verfallen. Kritisiert werden muss aber jedoch die sprachliche Ungenauigkeit Beiers, der doch das eine oder andere Mal problematische Formulierungen und Benennungen unreflektiert übernimmt, was den Blick auf diese Studie doch ein wenig trübt.

Für das Verständnis der jüdischen Identität in Leben und Werk Schnitzlers ist die Arbeit von Beier dennoch ein wichtiges Dokument, das man nicht übersehen sollte. Was für eine Arbeit hinter diesem Werk steht, sieht man auch am überaus umfangreichen Anhang, der neben einer ausführlichen, mehr als 30 Seiten umfassenden Bio-Bibliografie und einem Register auch zahlreiche Tabellen enthält. Diese jedoch - und das nur als weiterer Kritikpunkt - hätte man sich auch sparen können, als Ausweis einer Fleißarbeit sind sie zwar ganz gut geeignet, als bloße Statistik dagegen sind diese eher uninteressant. Ein wenig stiefmütterlich innerhalb des sonstigen Materialreichtums wirkt auch die Behandlung des "Reigens", dem gerade mal zwanzig Seiten gewidmet sind. Sicherlich gibt es hier bereits ausführlichere Untersuchungen zur Rezeption des Stückes und der Aufführung - vor allem die umfangreiche Materialsammlung von Alfred und Kristina Pfoser - doch ein wenig mehr zu diesem Thema hätte der ansonsten überzeugenden Arbeit gut zu Gesicht gestanden und das Ganze abgerundet.

Vergessen und verkannt - Felix Salten

So vielfältig die Forschungen zu Schnitzler oder Hofmannsthal mittlerweile sind, so vereinzelt sind diejenigen zu einem der zu Unrecht vergessenen Hauptvertreter der Wiener Moderne, dem Schriftsteller und Feuilletonisten Felix Salten. Den Hauptteil der Forschung machen - wohl inspiriert von Kurt Riedmüllers eher zweifelhafter Dissertation über "Felix Salten als Mensch und Dichter" aus dem Jahr 1949 - die Gesamtübersichten über das Werk Saltens aus. Diese versuchen mittels kurzer Inhaltsangaben und Textanalysen das bislang immer noch nicht als Gesamtausgabe vorliegende, schwer zu beschaffende und verstreute Schaffen des Autors zu erschließen. Ein wichtiger Schritt zur Erforschung des Werkes war die 2002 erschienene Dissertation Jürgen Ehneß', die nicht nur aufgrund der bislang fehlenden Übersicht einen wichtigen Teil der Salten-Forschung darstellt. Daher verwundert es ein wenig, dass jüngst ein der Studie Ehneß' recht ähnliches Werk erschienen ist, das ebenso den "literarischen Entwicklungsgang" nachzeichnen und "vor allem durch den Inhalt der Werke begründete [...] Schwerpunkte" herauskristallisieren möchte. Michael Gottstein möchte mit seiner Dissertation "Felix Salten (1869-1945). Ein Schriftsteller der Wiener Moderne" frühere Interpretationen ergänzen und korrigieren, wie er in seinem Vorwort bemerkt. Bei einigen untersuchten Novellen und Erzählungen gelingt ihm dies auch, wie etwa in seinem erfreulich umfangreichen Kapitel zu Saltens Renaissance-Novellen "Der Schrei der Liebe" und "Die Gedenktafel der Prinzessin Anna", die bei Ehneß recht kurz abgehandelt wurden. Eines fällt aber im gesamten Verlauf von Gottsteins anerkennenswerter Fleißarbeit negativ auf: Die ständigen geschmäcklerischen Wertungen, die in den Text eingestreut werden, und dies, obwohl er im Vorwort versichert: "Nicht das Werturteil, sondern die literaturhistorische Erschließung ist aber die vorrangige Aufgabe dieser Studie." Diese hehre Absicht verliert er aber das ein oder andere Mal deutlich aus den Augen, da rücken "viele Werke Saltens in bedenkliche Nähe zur Trivialliteratur", die experimentellen frühen Novellen hätte man "ohne Verfasserangabe kaum Salten zugeordnet", die Figuren sind mal "psychologisch unglaubwürdig", mal erscheint es ihm fraglich, ob es der Schriftsteller schafft, den "labilen Plot [...] zu retten" und die Geschichte "einigermaßen glaubhaft zu untermauern". Etwas weniger Meinungsjournalismus und etwas mehr Ernsthaftigkeit wäre hier angebrachter gewesen. Die Frage etwa nach der subversiven Kraft gerade der erotischen Novellen Saltens stellt sich für Gottstein nicht, für ihn hat der Autor nach dem Frühwerk keine größeren Form- und Stilexperimente mehr gestartet, sondern sich einem dem psychologischen Realismus verpflichteten Personalstil verschrieben, der im Spätwerk dann - so Gottstein - zu literarisch bedeutungslosen Routine wird. Eine Sichtweise, der man schon mit einem Hinweis auf die zahlreichen subversiven Elemente und Parallelen und zwischen der "Josefine Mutzenbacher" (1906) und dem Kinderbuch "Bambi" (1925) begegnen kann. Trotz seiner Schwächen ist Gottsteins Buch aber zumindest im Hinblick auf einige ergänzende und zur weiteren Erforschung Saltens anregende Ansätze ein lobenswertes Unterfangen, gerade auch seine Ausführungen zur bislang noch kaum beachteten Lyrik Saltens - einige schwer zu findende Gedichte sind dankenswerterweise im Anhang abgedruckt - sind umfassend.

Untersuchungen zu Einzelaspekten des Salten'schen Œuvres finden sich in der Literatur aber nur vereinzelt. Abgesehen von einigen wenigen Aufsätzen zur "Josefine Mutzenbacher" sind zumeist nur die Kinder- und Jugendliteratur Felix Saltens sowie dessen Zeitungsarbeiten in der Forschung bislang etwas genauer beachtet worden. Jüngst erschien ein Band, der die Ergebnisse eines Symposiums der österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung, das im Jahr 2005 in der Wiener Urania stattfand, versammelt. Unter dem Titel "Felix Salten. Der unbekannte Bekannte" finden sich in dem von Ernst Selbert und Susanne Blumesberger herausgegebenen Buch zwar auch Untersuchungen zu "Bambi", "Bambis Kinder", "Bob und Baby" sowie "Die Jugend des Eichhörnchens Perri". Doch der Band beschränkt sich nicht nur auf die Kinderliteratur, sondern bezieht auch die anderen Werke Saltens mit ein.

Norina Procopan untersucht etwa die Motive der Ausgrenzung und Auserwähltheit in den Erzählungen "Die kleine Veronika", "Das Schicksal der Agathe" und im Roman "Olga Frohgemuth" und zeigt dabei Parallelen in den zunächst sehr unterschiedlich erscheinenden Werken auf. So stellt die rumänische Literaturwissenschaftlerin den Bruch mit den gesellschaftlichen Erfahrungen und Erwartungen mit korrespondierenen Phasen der Auserwähltheit und des Ausgestoßensein aus den sozialen Bezugsmöglichkeiten als poetologisches Mittel in den genannten Erzählungen Saltens heraus. Bemerkenswert sind unter den Beiträgen auch Rembert J. Schleichers Aufsatz zu Saltens Palästina-Reisebericht "Neue Menschen auf alter Erde" und Rahel Rosa Neubauers Untersuchung zu "Felix Salten als Autor jüdischer Kinder- und Jugendliteratur", die sich mit der Frage der jüdischen Identität in Leben und Werk Saltens sowie dessen Hinwendung zum politischen Zionismus beschäftigen. Auch wenn Neubauers Aufsatz Manfred Dickels umfangreiche Studie zu Saltens Zionismus nicht erwähnt, so bietet er dennoch einen Überblick über diese Phase im Leben des Autors, die in dessen Reisebericht - der Titel ist ein klarer Verweis auf Theodor Herzls "Altneuland"-Roman - ihren deutlichsten Niederschlag findet. Auch Schleicher unterschlägt die Forschungen Dickels, unternimmt aber eine durchaus lesenwerte Analyse von Saltens "Palästinafahrt" und deren stilistischen und psychologischen Besonderheiten. Eine "Kampfschrift" war "Neue Menschen auf alter Erde" nicht - wie Schleicher richtig bekundet -, doch ist der Reisebericht mit seiner poetischen Kraft und seinem sicheren Gespür für kleinste Details in Nuancen des Lebens in Palästina zu Unrecht vergessen.

Diesen Aspekt der jüdischen Identität Saltens behandelt - wie bereits erwähnt - äußerst kenntnis- und umfangreich Manfred Dickels mehr als 900 Seiten umfassende Jenaer Dissertation "Zionismus und Jungwiener Moderne. Felix Salten - Leben und Wirken" (2002), von der nun eine stark gekürzte Fassung im Heidelberger Universitätsverlag Winter erschienen ist. Dickel zeigt, dass sich Saltens Engagement für den Zionismus nicht nur im Verfassen schöner Reiseberichte niederschlug, sondern dass er - gerade in seinen feuilletonistischen Arbeiten - als einer der herausragensten Verfechter eines politischen Zionismus Herzl'scher Prägung gelten kann. Salten arbeitete für zahlreiche Tages- und Wochenzeitungen, unter anderem für die "Wiener Allgemeine Zeitung", "Die Zeit" und die "Neue Freie Presse", aber auch regelmäßig für Theodor Herzls neu gegründete zionistische Monatszeitung "Die Welt". Und gerade in diesen Publikationsorganen verfolgte Salten - wie Dickel zeigt - eine geschickte Strategie. Er bevorzugte in den liberalen Blättern eine differenzierte Sicht der "Judenfrage", die weder das nichtjüdische noch das jüdisch-assimilierte Publikum vor den Kopf stoßen konnte, jedoch immer dem jüdischen Zielen treu blieben. In zionistischen Kreisen und Publikationen hingegen wurde er deutlicher und vertrat dediziert antiassimilatorische und kämpferische Positionen. Dickel verdeutlicht diese Strategie anhand zahlreicher Beispiele und fügt so ein neues Bild des Schriftstellers zusammen, der zu Unrecht auf ein paar frivole Geschichten und "jüdelnde Hasen" (Karl Kraus) beschränkt wird. Ausgehend von einer eingehenden Beschäftigung mit den biografischen Voraussetzungen schafft es Dickel, ein ungemein differenziertes Bild von Felix Salten mit all seinen Widersprüchen und Brüchen zu zeichnen und dessen Anschauungen in die zeit- und gesellschaftsgeschichtlichen Vorgaben und Entwicklungen einzuordnen, ohne dass dies konstruiert wirkt. Saltens frühes Eintreten für die Positionen Herzls und für die zionistische Bewegung und deren Ziele werden von ihm überzeugend recherchiert und zusammengefügt.

Auch in der etwas undurchsichtigen Angelegenheit der PEN-Club-Tagung in Ragusa 1933, in deren Folge Salten aufs Schärfste für seine angeblich zu nachgiebige Haltung gegenüber der gleichgeschalteten reichsdeutschen Delegation kritisiert wurde, kann Dickel zur Aufklärung beitragen. Salten war zu dieser Zeit Präsident des österreichischen PEN-Clubs, reiste in dieser Funktion zur Konferenz und vertrat dort eine explizit neutrale Linie den Deutschen gegenüber, die vorher im Vorstand beschlossen wurde. Auch wenn sich diese Haltung als äußerst fragwürdig erweisen sollte, die österreichische Delegation sich als zerstritten und unglücklich agierend zeigte, so machte Salten in einer Stellungnahme in der "Neuen Freien Presse" seinen persönlichen Standpunkt klar: "Vielleicht ist es nur ein Versehen, dass meine Bücher bisher auf keinem Scheiterhaufen brannten. Sollte ihnen aber dennoch dieses Schicksal zuteil werden, dann befände ich mich in der besten Gesellschaft, in der ich zu weilen gewohnt bin".

Wünschenswert wäre, dass das Interesse an Felix Salten und dessen Werk weiter zunimmt, hier gibt es noch Vieles zu entdecken, das eine wissenschaftliche Erforschung lohnt. Die Studien von Dickel und die Beiträge des Sammelbandes, die bislang zusammen mit einer Handvoll Einzelaufsätze nur sehr vereinzelt das stilistisch wie inhaltlich abwechslungsreiche Schaffen Saltens beleuchten, könnten und sollten eine Anregung für eine weitere Beschäftigung mit jenem "bekannten Unbekannten" sein.


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Ester Saletta: Die Imagination des Weiblichen. Schnitzlers Fräulein Else in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit.
Böhlau Verlag, Wien 2006.
220 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3205774566
ISBN-13: 9783205774563

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Manfred Dickel: Ein Dilettant des Lebens will ich nicht sein. Felix Salten zwischen Zionismus und Jungwiener Moderne.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2007.
526 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783825353407

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Ernst Seibert / Susanne Blumesberger (Hg.): Felix Salten. Der bekannte Unbekannte.
Praesens Verlag, Wien 2007.
177 Seiten, 29,20 EUR.
ISBN-13: 9783706903684

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Michael Gottstein: Felix Salten (1869-1945) - Ein Schriftsteller der Wiener Moderne.
Ergon Verlag, Würzburg 2007.
308 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783899135855

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Julia Freytag: Verhüllte Schaulust. Die Maske in Schnitzlers "Traumnovelle" und in Stanley Kubricks "Eyes Wide Shut".
Transcript Verlag, Bielefeld 2007.
140 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3899424255

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Dagmar Lorenz: Wiener Moderne. 2., aktualisierte und überarbeitete Auflage.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2007.
230 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783476122902

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Sabine Haupt / Stefan B. Würffel (Hg.): Handbuch Fin de Siecle.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2008.
952 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783520833013

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Nikolaj Beier: Vor allem bin ich ich ... Judentum, Akkulturation und Antisemitismus in Arthur Schnitzlers Leben und Werk.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
620 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302556

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