Grenzerfahrungen

Elke Krafts Erinnerungsbuch "Annedore" zeigt "Zwei Leben in Briefen"

Von Daniel JurischRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Jurisch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war im März 1922, als das Versenden privater Briefe zu etwas zutiefst Unheimlichem wurde: "Die leichte Möglichkeit des Briefschreibens muß - bloß theoretisch gesehen - eine schreckliche Zerrüttung der Seelen in die Welt gebracht haben. Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern...". Entschieden positionierte sich Franz Kafka gegen die so traditionsreiche wie verkitschte Annahme, Briefe wären so etwas wie intime Gespräche zwischen Abwesenden, denen ihre Anwesenheit auf nächster Ebene zurückgeschenkt würde. Der Anfang einer, durch die heutige Nachbarschaft elektronischer Medien weitaus deutlicher stilisierten Entrückung der Briefkommunikation ins Esoterische war genommen, die Möglichkeit eines wahrhaften Austausches in Briefen galt fortan als annulliert. Die postalische Dialektik von Authentizität und Täuschung ist in der Tat komplex: Sie hat jedoch vor allem Liebende und Erkenntnistheoretiker interessiert, die eine wechselseitige Präsenz der Briefpartner unbedingt heraufbeschwören oder verabschieden wollten. Wohl kommt es darauf an, was man von Briefen verlangt. Auch Kafka, ein Liebender, verfasste sein postalisches Verdikt schließlich in einem Brief an Milena.

In Elke Krafts Erinnerungsbuch "Annedore. Zwei Leben in Briefen", das im Leipziger Plöttner Verlag erschienen ist, ist jedenfalls von papiernen Trugbildern so wenig zu erleben, wie von der Lust am erschriebenen Verschmelzen, vielmehr dafür von Freundschaft. 20 Jahre lang tauschte die Herausgeberin Briefe mit ihrer Freundin Annedore, bis zu deren Tod im Jahr 1997. Entstanden ist daraus ein äußerst vielschichtiges und sensibles Doppelporträt zweier Frauen voller erfrischender, lebensnaher und in ihrem Gehalt oft überraschend aktueller Briefe. Die beiden Protagonistinnen sind zu Beginn ihres Briefwechsels 19 beziehungsweise 23 Jahre alt, sie sind jung und gierig nach Erlebnissen. Und sie schreiben sich ihre Briefe zwischen Hannover und Dresden, über die deutsch-deutsche Grenze hinweg.

Es wäre daher keineswegs verkehrt, in ihrem Briefkonvolut zuerst die zeitgeschichtliche Relevanz entdecken zu wollen. So wird berichtet von abgefangenen Briefen, die später in Stasiakten wieder auftauchen, es gibt Einreiseverbote in das geliebte Drittland Polen, Bespitzelungsversuche und vieles mehr, das von der historischen Tragik deutsch-deutscher Beziehungen zeugt, die den Nachgeborenen umso unverständlicher erscheinen muss. Es ist jedoch nicht das Exemplarische, was den Wert dieser Lektüre ausmacht, es bedingt ihn bestenfalls. Erschwerte Lebensbedingungen und chaotische Liebesgeschichten finden sich auf beiden Seiten. Vor allem anderen sind es aber die Ansichten geteilten Alltags, die in diesen Briefen berührend hervortreten: Das Andauern einer Freundschaft, die in diesen Briefen und durch sie gelebt wird, schließt den profanen Büroalltag mit ein. Es umfasst die Sehnsüchte der jungen Frauen, ihre Versuche, aus der Eingebundenheit ihrer oft allzu realen Umgebungen auszubrechen. Erst diese Simultanität von Leichtem und Schwerem ist es, die diese Briefe zum Dokument einer Freundschaft macht, die den Wandel zweier Persönlichkeiten in einer, in ihrem Gesamteindruck zuweilen fast romanhaft scheinenden Doppelhelix sichtbar werden lässt.

Ohne Grenzen entstehen keine Briefe, Briefe aber werden in "Annedore" zu ihrem positiven Medium, zu Grenz-Gebieten und Reibungsflächen: Ihre Abschaffung (und die des damit verbundenen Briefverkehrs) ist nur eines der Themen dieses Briefwechsels, nicht sein bestimmendes; wo verschiedene Lebensläufe sich mitteilen, braucht es fast in gleichem Maße die Bereitschaft zu ihrer Akzeptanz. Je mehr Anne versucht, den Umgang mit ihren Grenzen zu vermeiden, umso romanesker, umso hermetischer werden auch ihre Briefe. Der Briefwechsel zwischen Anne und Elke zeigt nicht zuletzt zwei junge Frauen, die sich aus einer Isolation herauszuschreiben versuchen, in der sie sich - in beiden deutschen Staaten gleichermaßen - durch eigene und fremde Emanzipationsansprüche gefangen fühlen. Die pragmatischere Elke wird Wege finden, den darin verborgenen Ambivalenzen trotzig zu begegnen. Ihrer Freundin Anne wird das zusehends schlechter gelingen. In der Lautlosigkeit dieser Entwicklung liegt das wirklich Gespenstische, darin die Trauer der Erinnerung, auch und gerade in ihren fröhlichsten Momenten. Die von der Herausgeberin eingeschobenen Kommentare, die oft nachträglich von den persönlichen Begegnungen mit Anne erzählen, begleiten in melancholischer Knappheit den Blickwinkel eines Lesers, der bereits zu Anfang vom zu frühen Tod der Freundin erfahren hat. So wohltuend sensibel und sensationsfern wie das ganze Buch, ist auch die Entscheidung gewesen, Fotos und Abdrucke von Originalbriefen ans Ende des Bandes zu stellen. Sie hätten den Briefen jenen musealen Gestus verliehen, dem ihre Gegenwärtigkeit so entschieden widerspricht. Warum jedoch der Plöttner Verlag sich entschieden hat, das Buch als Briefroman anzupreisen, bleibt unverständlich. Die Lebensfülle dieses zu keiner Zeit langatmigen Briefwechsels hat eine strategisch gemeinte Fiktionalisierung nicht nötig.


Titelbild

Elke Kraft: Annedore. Zwei Leben in Briefen.
Plöttner Verlag, Leipzig 2008.
450 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783938442548

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