Philologische Akribie, polemischer Furor

Galileo Galileis "Lettera a Cristina di Lorena" auf deutsch übersetzt und reichhaltig kontextualisiert

Von Michael GamperRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Gamper

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Galileo Galilei gibt viel zu schreiben. Dies kommt nicht von ungefähr, denn der 1564 in Pisa geborene Gelehrte ist einer der Gründungsväter der experimentell und mathematisch verfahrenden Naturwissenschaften und gleichzeitig durch seine Konflikte mit der katholischen Kirche auch die Galionsfigur eines modernen Weltbildes, das auf exakter Beobachtung und Vernunft, nicht mehr auf Glaube, Religion und Autoritätenwissen fußt. Wissenschaftshistorisch waren seine Bedeutung für die Durchsetzung des Kopernikanismus im Verhältnis zu Kepler, aber auch seine kinematischen Forschungen und die Begründung der Elastizitätstheorie zu beschreiben, und Horst Bredekamp hat Galilei jüngst aus kunsthistorischer Sicht als Zeichner gewürdigt. Die Biografen hingegen, zuletzt besonders 2003 William R. Shea und Mariano Artigas, faszinierte die schillernde Persönlichkeit des Florentiner Hofmathematikers, die in deren Darstellungen zwischen kämpferischem Aufklärertum und höflingshaftem Karrieristentum oszilliert.

Diese umfangreiche und teils kontroverse Literatur haben Michael Titzmann und Thomas Steinhauser nun um ein 618 Seiten starkes Buch vermehrt, dessen Kern eine deutschsprachige Edition der 1636 erstmals gedruckten "Lettera a Cristina di Lorena" ist. Dieser Brief von 1615 ist die erweiterte und präzisierte Variante eines anderen Briefes, den Galilei bereits im Dezember 1613 an seinen Schüler Benedetto Castelli schrieb und der auf Diskussionen am Florentiner Hof reagierte, ob eine mit dem Kopernikanischen System verträgliche Bibelauslegung möglich sei. Galilei bejahte dies und exemplifizierte seine Haltung an einer Auslegung von Josua 10: 12-14, einer der wenigen Stellen der Bibel, in denen von astronomischen Erscheinungen die Rede ist, die ein ptolemäisches Weltbild nahe legen. Gleichzeitig nutzte er die Gelegenheit, um in grundsätzlicher Weise das Verhältnis von theologischem und wissenschaftlichem Erkenntnisanspruch zu klären - womit die "Lettera" als ein Gründungsdokument der nova scientia einzustufen ist.

Galilei war damals seit einigen Jahren ein berühmter Mann. 1609 hatte er das in den Niederlanden entwickelte Fernrohr in Venedig eingeführt und der Signoria das - freilich illusorische - alleinige Nutzungsrecht der Erfindung überlassen. Technische Verbesserungen des Instruments ermöglichten ihm noch im gleichen Jahr, astronomische Beobachtungen von zuvor unerreichter Präzision zu machen; die Entdeckung der rauhen Mondoberfläche, der Jupitermonde, später der Venusphasen und der Sonnenflecken waren empirische Evidenzen, die klar gegen die aristotelische Naturphilosophie und für den Kopernikanismus sprachen. Mit der Publikation des "Sidereus Nuncius" verschaffte sich Galilei 1610 schlagartig hohes Ansehen und die begehrte Stellung des Hofmathematikers bei den Medici. Der Brief an Castelli und dann die verbesserte Version an die Großherzoginmutter, die in verschiedenen Abschriften zirkulierten, weiteten die Konsequenzen der astronomischen Beobachtungen massiv aus: diese wurden nun nicht mehr als mathematische Berechnungen von hypothetischem Status verstanden, sondern als mögliche Beschreibung realer physikalischer und damit wahrer und tatsächlicher Verhältnisse. Damit war die Theologie herausgefordert, und die katholische Kirche reagierte rasch auf diese Provokation: 1616 suspendierte die Indexkongregation Kopernikus' "De revolutionibus" und weitere Schriften; Galilei und seine Werke blieben unbehelligt, der berühmte und auch von mächtigen Männern der Kirche protegierte Verfasser der "Lettera" wurde lediglich ermahnt - 1633 sollte er im Inquisitionsprozess dann nicht mehr so glimpflich davonkommen.

Die "Lettera" ist damit, auf Grund der programmatischen Auseinandersetzung über das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft, ein Schlüsseltext in der ersten Konfrontation Galileis mit der Inquisition. Diese Relevanz des Dokuments haben Titzmann und Steinhauser in ausführlichen eigenen Textbeiträgen herausgearbeitet. Sie rahmen den im italienisch-deutschen Paralleldruck 95 Seiten einnehmenden "Brief" (Übersetzung Steinhauser) mit einer 78-seitigen Einleitung zum historischen Ort des Briefes (Steinhauser), 27 Seiten Anmerkungen zum Text (Steinhauser) und einem 336 Seiten starken Nachwort zur "Emanzipation der Wissenschaft im denk- und wissensgeschichtlichen Kontext" (Titzmann). Ein biografischer Anhang zu den erwähnten Personen (28 Seiten) und ein Literaturverzeichnis (37 Seiten) runden den Band ab.

Der an der Universität Regensburg tätige Wissenschaftshistoriker Steinhauser arbeitet in seinem Vorwort zunächst die intellektuellen und politischen Machtkonstellationen zwischen Padua, Rom und Florenz im frühen 17. Jahrhundert heraus und skizziert so das konfliktreiche Milieu, in dem Galilei in den frühen 1610er-Jahren eine außergewöhnlich dynamische und produktive Existenz führte. In einem zweiten Teil wendet er sich Form, Funktion und Inhalt der "Lettera" zu, wobei er vor allem die Tatsache hervorhebt, dass Galilei diesen Text im Volgare schrieb. Damit unterstützte Galilei die lokalen Bemühungen der seit 1583 bestehenden Accademia della Crusca, die sich der Pflege der Florentiner Volkssprache verschrieb und 1612 ihr erstes "Vocabulario" veröffentlicht hatte. Galilei stellte damit unter Beweis, dass die autochthone Sprache von Florenz in der Lage war, auch komplexe und abstrakte Sachverhalte auszudrücken - ein Umstand, der den kulturellen Suprematsanspruch der Großherzoge unterstrich.

Galilei band sich damit einerseits noch enger ins Machtgefüge von Florenz ein, dessen Protektion Galilei zeitlebens vor gravierenderen Konsequenzen seines publizistischen Handelns schützte. Anderseits versuchte er so aber auch, die neue Wissenschaft über die Erschließung neuer Zielgruppen zu etablieren. Denn Galilei wandte sich mit seinem volkssprachlichen Text nicht nur an seine Patronage und die Entscheidungsträger der Kirche, sondern auch an die gebildeten Laien, also Stadtbürger und Höflinge in den mittel- und oberitalienischen Zentren, die er für das neue Wissen gewinnen wollte. Neben der Sprachverwendung ließen sich solche Aspekte auch an den verwendeten Gattungen - Galilei bediente sich vorab des Traktats, des Dialogs und eben des Briefs - und an den Argumentationsweisen zeigen - Steinhauser legt hier die Spur zu weiterführenden Untersuchungen, die sich, anschließend an die bestehenden Arbeiten von Steven Shapin und Simon Schaffer zum englischsprachigen Raum, der rhetorisch-literarischen Durchsetzung der Naturwissenschaften auch in Italien zuwenden könnten.

Das Vorwort Steinhausers und seine Anmerkungen, die viele für das Verständnis unerlässliche wissensgeschichtliche Hinweise und weiterführende philologische Befunde enthalten, erschließen den Text auch den Nicht-Fachleuten in fast mustergültiger Weise. Titzmanns Nachwort, das eher den Umfang einer eigenständigen Monografie hat, greift dann weit aus und versucht, das Auftreten der sich auf Experiment und Mathematisierung stützenden Wissenschaften des frühen 17. Jahrhunderts als einen entscheidenden wissensgeschichtlichen Paradigmenwechsel nachvollziehbar zu machen. Dieser These zu folgen fällt freilich nicht schwer, und Titzmann versorgt die Lesenden mit viel, oft allerdings etwas zu allgemein und zu sehr "denkgeschichtlich" aufbereitetem Material zu den systemimmanenten Problemen des Christentums, zur Charakteristik von Renaissance und Humanismus, zur Praktik der Bibel-Exegese von der Antike bis zur Frühen Neuzeit, zur Genese von Inquisition und Index, zur Naturphilosophie der Renaissance, zum Konzil von Trient und vielem anderem mehr, bevor er sich dann, und dies ist der im vorliegenden Kontext interessanteste Teil, dem Konflikt um den Kopernikanismus zuwendet, für den auch die spezifische Stellung Galileis herausgearbeitet wird.

Spätestens wenn sich der an der Universität Passau tätige Germanist Titzmann dann im letzten Teil dem noch immer bestehenden Konflikt zwischen Wissenschaft und Theologie in der Gegenwart widmet, wird deutlich, dass hier weniger eine historische Fallstudie intendiert ist, sondern eine Auseinandersetzung mit konservativen katholischen Kreisen um diese Frage geführt wird. Im polemischen Furor überschreitet Titzmann dabei des öfteren die Grenzen sachlich-argumentativer Diktion: Formulierungen wie "Die Folgerung ist evident debil" oder Qualifizierungen wie "beknackter Unfug" und "pseudowissenschaftlicher Quark" (um nur einige wenige Beispiele zu nennen) lassen zwar großes Engagement erkennen, schwächen aber eher die Argumentation des Verfassers. Ins Analytische gewendet, begründet sich die angriffige Diktion am Ende der Abhandlung folgendermaßen: "Die Entscheidung für Rationalität und Wissenschaft ist eine Wertentscheidung, folglich selbst weder rational noch wissenschaftlich". Über die von Titzmann daraus gezogenen Schlüsse hinsichtlich des Stils lässt sich freilich streiten.

Als Fazit bleibt so: dass die Herausgeber einen wichtigen legitimatorischen Text der frühen Naturwissenschaften in einer skrupulösen Übersetzung, die der komplizierten Syntax des Originals folgt und so Abstriche bei der Lesbarkeit für Genauigkeit in der Übertragung auch der Textstruktur in Kauf nimmt, für den deutschsprachigen Raum zugänglich gemacht und durch Kontextualisierung erschlossen haben. Gerade bei der Erschließung, so muss freilich konstatiert werden, wäre weniger aber wohl mehr gewesen.


Titelbild

Michael Titzmann / Thomas Steinhauser (Hg.): Galileo Galilei. Lettera a Cristina di Lorena / Brief an Christine von Lothringen.
Verlag Karl Stutz, Passau 2008.
618 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783888490712

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