Jeder kann was

Richard Sennetts großartiges Buch über das "Handwerk"

Von Karen StruveRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karen Struve

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich habe mit Bedauern festgestellt, dass Soziologen, die versuchen, sich an die Allgemeinheit zu wenden, dazu neigen, zusammenzufassen und zu vereinfachen. Mit anderen Worten: Sie sprechen von einem Podest herab, sie sind herablassend." So beschreibt der amerikanische Soziologe und Kulturphilosoph Richard Sennett in seiner Dankesrede zum Gerda-Henkel-Preis im November 2008 nicht nur seine Berufskollegen, sondern auch das Gegenbild zu seinem eigenen Auftreten wenige Monate zuvor im Literaturhaus Hamburg. Ein freundlicher und zugewandter Sennett las dort aus seinem neuesten Buch "Handwerk". Der prunkvolle Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Journalisten und Interessierte, Soziologen und Historiker waren gekommen, um Sennett lesen zu hören und ihm in sein nächstes Interessensgebiet zu folgen, das wie immer mit dem Leben der Menschen zu tun hat.

Es geht Sennett nicht mehr um Menschen- und Stadtkörper oder um das tyrannisierende Geplapper über intime Details, nicht mehr um Autoritätsformen oder die Arbeitsbedingungen im Spätkapitalismus, die den "flexiblen Menschen" biegen und formen. Das "Handwerk" steht nun im Zentrum seines Interesses. Doch bevor die Lesung begann, klopfte noch ein Tippelbruder an die Türen des Kulturhauses und wurde eingelassen - um später als ein Mann aus dem Handwerksleben mit Sennett über die praktische Umsetzung seiner Überlegungen diskutieren. Im hamburgischen Saal vollzog sich die Verbindung von Gedachtem und Geschriebenem, von der Theorie und der Lebenspraxis der Menschen schon während der Lesung auf das Schönste.

Sennett legt mit "Handwerk" den ersten Teil eines dreibändigen Werks vor, in dem er auf unterschiedliche Weise über die materielle Kultur nachdenkt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei der Mythos der Büchse der Pandora, mit der alles Unheil und damit auch die Arbeit über die Welt gekommen ist. Doch was ist Arbeit: eine Strafe? Selbstzweck? Ein Rädchen im Räderwerk der industrialisierten Gesellschaft? Eine Fertigkeit? Sennett hat eine grundlegendere Antwort, denn sein Buch "handelt von den handwerklichen Fertigkeiten, von der Fähigkeit, Dinge so herzustellen, dass sie wirklich gut sind." Sennetts These ist daher bestechend einfach, aber wirkungsvoll: Ob Goldschmied oder Töpfer, ob Politiker oder Pianist, ob Programmierer oder Musiker - all diese Menschen gehen einem Handwerk nach, das nach technischer Perfektion strebt und Selbstversunkenheit zur Folge hat. Damit sind Handwerker all jene, die den Wunsch verspüren, "etwas Konkretes um seiner selbst willen gut zu machen." Dieser Wunsch und das Erlebnis, ganz in seiner Arbeit an einem Werkstück - sei es ein Musikstück, ein Computerprogramm, die Naht einer Wunde oder ein Holztisch - zu versinken, ist das, was die moderne (Arbeits-)Psychologie als "flow" beschreibt. Und es ist das, was Menschen in der modernen Welt scheinbar eher in ihrer Freizeit und nur selten eben bei der Arbeit erleben.

Sennett bedient sich zahlreicher konkreter historischer wie aktueller Beispiele und schaut in verschiedenen Werkstätten, Laboren oder Musikzimmern den Menschen bei der Arbeit über die Schulter. Er sieht zu, wie der Töpfer aus einem Klumpen Ton einen Krug dreht, der mit jedem Arbeitsvorgang zweckmäßiger, schöner und klarer wird und zeigt daran, wie handwerkliches Tun funktioniert. Hier schließen sich die weiteren großen Thesen des Buches an: Sennett geht zum einen auf das Problem ein, das Meister haben, wenn sie ihren Schülern eine Tätigkeit mit Worten erklären sollen, die sich doch im manuellen Tun vollzieht; zum anderen behauptet der Autor, dass Motivation wichtiger als Talent ist.

Im zweiten Teil seiner Arbeit widmet sich Sennett der Frage nach der Verbindung von körperlicher Praxis und Fertigkeit und der Versprachlichung handwerklicher Tätigkeiten. Dafür greift Sennett auf ein historisches Beispiel zurück, nämlich auf das große Projekt der Aufklärung, die "Encyclopédie" von Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d'Alembert. Die Enzyklopädisten stellten das Wissen ihrer Zeit zusammen und zielten dabei nicht nur auf die Rehabilitierung handwerklichen Wissens und Könnens, sondern sahen sich mit dem Problem der Beschreibung handwerklicher Herstellung konfrontiert. Ihre Lösung ist bestechend einfach: Das körperliche Handwerk wurde nicht beschrieben, sondern gezeigt in zahlreichen Kupferstichen von Werkstätten, Werkzeugen und Herstellungsverfahren. Diese ausdrucksstarke Form der Anleitung ist es, die Menschen erlaubt, ihre Fertigkeiten zu verfeinern und zu verbessern; für Sennett, die oftmals sprunghafte und nicht-lineare Form des Fortschritts.

An diese Idee von Fortschritt knüpft Sennett dann im dritten Teil seiner Studie an, in der er die Idee widerlegt, großes Können würde nur mit einem großen Talent einhergehen - so unerreichbar für die Masse und so schmeichelhaft für den Einzelnen. "Die Fähigkeit, gut zu arbeiten," schreibt Sennett dagegen, "ist unter den Menschen gleich verteilt." Wichtiger als ein irgendwie geartetes Talent ist für Sennett die Motivation eines Menschen. Nur wer motiviert und hartnäckig ist, kann aus Fehlern lernen, aus Scheitern Verbesserungen entstehen lassen. Diese Motivation ist nicht perfektionistisch, denn das würde die Arbeit eher behindern, sondern feiert den Akt der Herstellung auf immer wieder neue und zufriedenstellendere Weise.

Was zunächst technokratisch und anachronistisch scheint, nämlich die Beschäftigung mit dem Handwerk, ist in Sennetts Buch ein aktueller und brisanter Perspektivwechsel auf die Arbeit. Dieses Interesse stellt nicht nur eine weitere Etappe in seinem wissenschaftlichen Parcours dar, der sich mit den Auswirkungen des Spätkapitalismus auf die Sinnhaftigkeit menschlichen Tuns und Seins beschäftigt. Es ist auch biografisch motiviert: Sennett war ein begnadeter Cellist und auf dem Weg zum Berufsmusiker, als ihm eine missglückte Handoperation diesen Berufsweg versperrte. Als Musiker und als Wissenschaftler kennt Sennett also selbst den Moment des Übens und des mühevollen Erarbeitens von Techniken - seien es Schreibtechniken für wissenschaftliche Aufsätze oder Streichtechniken auf dem Cello - und den Moment der Freude und der Identifizierung mit der eigenen Arbeit.

"Handwerk" liest sich wie ein wunderbar erzähltes Lese- und Geschichtsbuch, und man kann in Sennetts Sinne sagen, dass es mit großem handwerklichen Können geschrieben ist. Sennett zeigt sich in diesem Buch selbst als Handwerker, indem er seine komplexe, aber klare Argumentation mittels einer ausdrucksstarken Sprache mit beispielhaften Erläuterungen und viel Textregie baut. Man mag seinem Band eine Romantisierung der Arbeit vorwerfen, eine Verkennung der Arbeitszwänge der Menschen in der Gegenwart, die naive Begeisterung für Arbeitsformen, wie denen bei "Google", in denen die Mitarbeiter einen Teil ihrer Arbeitszeit eben auf eigene Projekte verwenden dürfen, die nicht nur die Arbeitsfreude und Kreativität stärken, sondern sich doch wieder in profitable Projekte des Unternehmens übersetzen lassen. Theoretische Überladenheit oder wissenschaftliche Selbstbespiegelungen finden sich in diesem Werk nicht. Die zahlreichen Verweise auf DenkerInnen aus den Geistes-, aber auch den Natur- und Technikwissenschaften dienen Sennett nur dazu, sein weites Panorama an menschlichen, von ihm als handwerklich begriffenen Tätigkeiten und deren Sinn- oder Unsinnhaftigkeit aufzublättern. Und das ist alles andere als herablassend oder reduzierend, sondern demonstriert schlicht sein Können.


Titelbild

Richard Sennett: Handwerk.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff.
Berlin Verlag, Berlin 2008.
432 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827000330

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