Biologie nach der Mode

Charles Darwin als Leser ästhetischer Theorien und Seismograph kultureller Entwicklungen

Von Winfried MenninghausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Winfried Menninghaus

Charles Darwin gebraucht im zweiten und längeren Teil seines Buches "The descent of man selection in relation to sex" (1872) konsistent leitende Begriffe der philosophischen Ästhetik. Nicht nur spricht er wieder und wieder allgemein von "beauty", er verwendet auch die genuinen Leitchiffren der anthropologischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts wie "taste for the beautiful" oder "sense of beauty". In Übereinstimmung mit dieser Tradition hebt er einen positiven Reizwert von "novelty" und "variety" für die ästhetische Rezeption hervor. Des weiteren bezieht Darwin sich insbesondere auf umkämpfte Kategorien der Arabesken-, Grotesken- und Ornamentästhetik des 18. Jahrhunderts, namentlich auf den Kernbegriff "ornament". Schließlich zögert er nicht, mit Rücksicht auf das Tierreich von "fashion" und "caprices of fashion" zu sprechen. Die Begriffe "caprice" beziehungsweise "whim" sind ebenfalls kurrente und Darwin zweifellos bekannte Kategorien insbesondere der britischen Ästhetik. Ihre deutschen Äquivalente sind "Laune", "Marotte", "Tick" und "Manier". Immanuel Kants wunderbarer Absatz über die "launichte Manier" in § 54 der "Kritik der Urteilskraft" bietet sich als direkte Vergleichsgröße für Darwins Sprachgebrauch an.

Die Evolutionsbiologie pflegt diese Terminologie gern systematisch wie eine peinliche Erinnerung an vorwissenschaftliche Schreibweisen mit Lizenzen zu losen Metaphern zu vermeiden. In Reformulierungen Darwins kommen solche Begriffe seit etlichen Dekaden schlicht nicht mehr vor. Alle assoziationsreicheren Terme Darwins werden tendenziell auf den Begriff "physical attractiveness" reduziert - ein Begriff übrigens, der selbst durchaus reich an aktueller kultureller Semantik und mithin keineswegs wissenschaftlich ,clean' ist. Im Gegensatz dazu möchte ich gerade die ästhetisch-kulturellen Semantiken in Darwins Konzept eines "sense of beauty" hervorheben. Im Einzelnen betrachte ich fünf Aspekte:

- die historische Konfiguration von Biologie und Ästhetik, in der Darwin verortet werden kann;

- die historische Semantik von "beauty", die Darwin fortschreibt;

- seine sehr speziellen Rekurse auf Positionen der Ornamentästhetik;

- seine Referenzen auf den zeitgenössischen Modemarkt;

- seine Neubegründung und zugleich Brechung des klassischen Ideals des menschlichen Körpers.

Meine Ausführungen werden primär Darwins Aneignung der Ornamentästhetik und seiner neuen Perspektive auf die klassische Debatte um die Schönheit des menschlichen Körpers gelten. Grundsätzlich kann die Funktion kultureller Semantiken in den Wissenschaften nach zwei Polen differenziert werden: sie ermöglichen Erkenntnis und sie begrenzen sie zugleich. Mein Fokus wird darauf liegen, Darwins Verwendung kultureller Semantiken nicht so sehr als Trübung und Begrenzung, sondern als Ermöglichung neuer biologischer Einsichten zu lesen.

1. Biologie und Ästhetik

Das Prädikat "schön" verschränkt in den meisten westlichen Sprachen seit je Präferenzen für natürliche Körper mit Präferenzen für kulturelle Artefakte. Ich verweise exemplarisch auf Platos Konzept des Eros nach dem Schönen beziehunsgweise des tókos en kaló, der Zeugung im Schönen, sowie Edmund Burkes Deutung der Attraktion durch körperliche Reize als List der Natur zum Zwecke der Beförderung der Fortpflanzung. Das Denken der "Lebhaftigkeit" und "Lebendigkeit" von Darstellungen ist spätestens seit der Renaissance ein topisches Desiderat der Poetik; die Ästhetik des 18. Jahrhunderts schließt dieses Denken direkt an den zeitgenössischen Diskurs über "Leben" überhaupt an. Kants Rede von einer ästhetischen "Beförderung des Gefühls des Lebens" und seine Definition sowohl der ästhetischen Lust als auch des Lebens selbst als Selbstfortsetzung, als Autopoiesis, bezeugen diese Verschränkung von Biologie und Ästhetik nachdrücklich. Von Alexander Gottlieb Baumgarten bis Kant und darüber hinaus wird die Ästhetik geprägt und transformiert durch solche Interferenzen mit biologischen Diskursen; Darwin dagegen transformiert das biologische Denken durch zahlreiche Interferenzen mit ästhetischen Diskursen. Indem er die Konfiguration von Biologie und Ästhetik fortsetzt, setzt er mithin historisch eine fundamentale diskursive Formation der philosophischen Ästhetik fort. Darwins evolutionsbiologische Theorie der Schönheit ist insofern keineswegs ein Kuriosum am Rande eines ansonsten Biologie-freien Diskurses. Im Gegenteil: gerade als biologisch argumentierende gehört seine Ästhetik durchaus zur Überlieferung der historischen und philosophischen Ästhetik.

2. Schönheit als autonomer Aufwand

Darwin hat vor allem deshalb mehrere Jahrzehnte über "beauty" nachgedacht, weil sie ein Problem für die Theorie der natürlichen Selektion darstellt. Schmückende Federn, Hörner und Geweihe etwa sind bei etlichen Tierarten "carried to a wonderful extreme": sie haben eine solche Größe beziehungsweise eine solche Form angenommen, dass sie in den "general conditions of life" eher hinderlich und als Waffen nur noch wenig tauglich sind. Ein kardinaler Text der philosophischen Ästhetik, den Darwin auch mehrfach explizit zitiert hat, scheint ganz direkt sein Fragen nach "beauty" und "taste" angeleitet zu haben: Edmund Burkes "A Philosphical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and the Beautiful" (1756).

Burke behandelt bereits Darwins kardinales evolutionstheoretisches master example, die "extreme beauty" des Pfauenschmucks, und er tut dies auch bereits in Darwins Begriffen eines Konflikts mit natürlicher "fitness" und einer Irreduzibilität als schön empfundener Körperformen auf das Prinzip, etwa für einen praktischen Überlebenszweck "well adapted" zu sein. Die Selektion für schöne Ornamente folgt nach Darwins Einsicht einer fortgesetzten Selbstverstärkung, eines Differenzgewinns um des Differenzgewinns willen - ein Prinzip übrigens, dessen Entdeckung Darwin Alexander von Humboldt zuschreibt. Formulierungen wie "beauty for beauty's sake" oder "variety for the sake of variety" betonen massiv - und ganz im Stile dessen, was gern die Autonomie-Ästhetik genannt wird - die Selbstgesetzlichkeit ästhetischer Präferenzen gegenüber pragmatischen Rücksichten. Darwin denkt Schönheit zuallererst als exorbitanten Eklat, als tendenziell selbstschädigende Verschwendung, fast könnte man mit Bataille sagen: als souveräne Verausgabung.

Wie allerdings selbst Kant und die idealistische Ästhetik die Begriffs- und Zwecklosigkeit des Schönen an eine Zweckmäßigkeit eigener Art knüpfte, so auch Darwin: was in den "general conditions of life" eher hinderlich ist, verschafft Konkurrenzvorteile im hochspezifischen Kontext der sexuellen Werbung. Die Unterscheidung natürlicher und sexueller Selektion erlaubt Darwin, die konfligierenden Merkmale ästhetischer Zwecklosigkeit und ästhetischer Zweckmäßigkeit durch Aufteilung auf zwei verschiedene Rücksichten zu entparadoxieren. Die nicht-adaptiven Effekte im Register der allgemeinen Lebensbedingungen begründen die ,Autonomie' des Ornaments, der adaptive Bezug auf die Art-eigenen Geschlechtsrollen dagegen die Zweckmäßigkeit des zwecklosen Ornaments.

Gewiss wird die Kantische Interesselosigkeit des ästhetischen Urteils in Darwins Theorie vom idealistischen Kopf eines rein "intellektuellen Interesses" auf die Füße eines markanten sexuellen Interesses gestellt, doch zugleich gilt: nicht allein die verwendeten Begriffe, auch die Denkfiguren - namentlich die Verschränkung von selbstgesetzlicher Zwecklosigkeit und Zweckmäßigkeit des Schönen - sind durchweg der überlieferten Ästhetik entlehnt. Darwin spricht nicht in losen Metaphern, er gibt eine durchaus ernstzunehmende Reinterpretation der überlieferten Ästhetik.

3. Darwins Ornament-Ästhetik

Darwins Rede von Ornamenten, die "carried to a wonderful extreme" sind, alludiert an die Debatte über maßlose, arabesk-groteske Ornamente, von denen sich der Klassizismus im Namen des Maßes und auch einer 'Natürlichkeit' des Geschmacks abzusetzen suchte. Seine Position ist deutlich: auch die vom Klassizismus inkriminierten Ornamente sind alles andere als 'unnatural'; die Auswüchse und Digressionen des Körpers - eine Ästhetik der extravaganten, der wunderbaren Arabeske - sind vielmehr quer durchs Reich natürlicher Lebewesen anzutreffen.

Darwins Rede von sexuellen Körper-"Ornamenten" schließt den evolutionsbiologischen Diskurs treffsicher an eine zentrale Kategorie der philosophischen Ästhetik an. Ornamente galten spätestens seit Karl Philipp Moritz und Kant als Inbegriff des zweck- und begriffslosen Schönen. Arabesken, ornamentale Ranken und Säume aller Art figurieren darin als Zutaten, als "Parerga". Diese scharfe Differenz von Ornament und Ornamentiertem - die übrigens Darwins Ornament-Begriff als einen genuin modernen ausweist - erzielt in der Anwendung auf natürliche Körper eine gezielte Veräußerlichung, eine Brechung ihrer integralen Ganzheit. Darwin macht in der Tat und ohne Abstriche die Zumutung, bestimmte Körperteile in voller Analogie zur Applikation von Ornamenten zu denken. Der Agent dieser Ornamentierung ist nicht länger ein Schöpfergott, der die Natur nicht nur weise, sondern auch schön 'verziert' eingerichtet hat. Es sind vielmehr sexuelle Wahlakte von Seiten des anderen Geschlechts, die über sehr lange Zeiträume bestimmte "Ornamente" erblich gemacht und verstärkt haben. Darwins ist der erste und vielleicht einzige Autor in der Geschichte der Ästhetik, der den schönen Körper - und nicht nur, wie Michail Bachtin, den grotesken Gegenpol zum schönen Körper - stringent mit den Mitteln der Ornament-, Grotesken- und Arabesken-Ästhetik gedacht hat. Diese Perspektive impliziert einen gründlichen Bruch mit holistischen Gestalttheorien und eine radikale Partialisierung der ästhetischen Objekte des Begehrens.

Die Poetik der caprice pointiert die Unmotiviertheit, Arbitrarität, Zufälligkeit, auch die Unsinnigkeit eines in seiner Art gleichwohl aufwendigen und stringenten Phänomens. Die launischen Präferenzen für exuberanten Feder-Kopfschmuck sind letztlich genau so erratisch wie die launischen Capricen, denen sich die pinkfarbenen Hinterteile mancher Affen verdanken. Als Tick, Marotte oder beliebiges Steckenpferd hat dieses Phänomen durchaus etwas Liebenswertes; das Moment des Unsinnigen und Schrägen, in extremeren Fällen des ernsthaften Verrückten wird dadurch aber nicht aufgehoben. Alles dies denkt Darwin am Pfauenrad mit - und letztlich an allen sexualästhetischen Präferenzen im weiten Reich der Natur. Die Wesen, die diesen strukturell kapriziösen Präferenzen folgen, müssen schon einigermaßen durchgeknallt sein. Anders, so denkt es zumindest Darwin, hätten ganze Spezies nicht aus den abwegigsten Körperornamenten so großen Ernst gemacht.

In der Literatur erinnert die Darwin'sche capriciousness of taste nicht nur von fern an die launischen Digressionspoetiken des "Tristram Shandy" und ihre romantischen Verwandten. Darwin gebraucht für natürliche Körper buchstäblich dieselben Kategorien, die von der historischen Literarästhetik adaptiert beziehungsweise neu semantisiert wurden, um die provokativen Hervorbringungen Lawrence Sternes, Ludwig Tiecks oder E.T.A. Hoffmanns zu begreifen. Das Erkenntnispotential dieser - wie mir scheint - konsistenten und gezielten Intervention in den ästhetischen Diskurs scheint bislang weder von Seiten der Evolutionsbiologie noch der Ästhetik im engeren Sinn ausgeschöpft worden zu sein. Die kulturellen Semantiken des Textes sind es gerade, die seinen Reichtum an Nuancen und seine transdisziplinäre Statur ausmachen.

4. Die Zeit der Mode

Kulturelle Moden denkt Darwin als Verlängerung und Substitut der durch sexuelle Selektion gebildeten Capricen am natürlichen Körper sexueller Lebewesen. Mode ist der runaway-Prozess der kulturellen Formung und Durchsetzung ästhetischer Präferenzen. Mode steigert die Geschwindigkeit evolutionsbiologischer Differenzgewinne zwischen den Geschlechtern radikal. Sie verwandelt die arbiträre Emergenz, Verbreitung und Stabilisierung gewünschter Merkmale aus dem Takt der Jahrtausende und Jahrhunderte in Phänomene von immer kürzerer Dauer, verfügt über weitaus gesteigerte Freiheitsgrade gegenüber der Physis und kann ständig mit kapriziösen Umkehrungen überraschen. Das Darwin'sche Prinzip der Pfauen-haften Capricen der (sexuellen) Natur kann nunmehr jederzeit und überall begegnen.

Zahlreiche Dokumente bezeugen, dass die überraschende Parallele von Kleidermode und biologischer Evolution der physischen Erscheinung zu Darwins Zeit einen starken Evidenzcharakter hatte. Darwins Verwandter George H. Darwin veröffentlichte 1872 einen Aufsatz über "Development in dress", der mit folgendem Satz beginnt: "The development in dress presents a strong analogy to that of organisms, as explained by the modern theories of evolution." Der Aufsatz unterscheidet Phänomene der Mode-Evolution, die nach dem Muster der "natürlichen Selektion" primär als Adaption an neue pragmatische Gegebenheiten der Umwelt beschreibbar sind, von solchen, in denen eine Analogie zum Modell der "sexuellen Selektion" gegeben ist: "Besides the general adaptation of dress [...], there is another influence which has perhaps a still more important bearing on the development of dress, and that is fashion. The love of novelty, and the extraordinary tendency which men have to exaggerate any peculiarity, for the time being considered a mark of good station in life, or handsome in itself, give rise I suppose to fashion." Das ausführliche Kapitel über "Badges and costumes" in Herbert Spencers Buch "Ceremonial institutions" setzt diese evolutionäre Betrachtung der Kleidungsmode auf konsequente und originelle Weise fort. Darwins Theorie des "taste for the beautiful" schließt also einerseits an eine philosophische Tradition an, die ihrerseits eine starke biologische Dimension enthält; andererseits ist sie durch einen komplementären Transfer geprägt, dem gerade das überaus kulturelle Phänomen der Kleidungsmoden als ein besonders plausibles Analogon biologischer Evolutionsprozesse erschien.

Nach Walter Benjamin ist das 19. Jahrhundert "das erste Jahrhundert der Mode". Die massenhafte Produktion von Artikeln, die allein immer flüchtigeren Moden dienen, ist das Kernargument dieser Diagnose. Darwins Theorie der Schönheit ist insofern eminent zeitgenössisch, sie ist sowohl eine Theorie der Mode als auch eine Theorie à la mode, nach der Mode nämlich der überlieferten Ästhetik. Schreibt die Ornament- und Capricen-Semantik der Darwin'schen Ästhetik Nuancen ein, die auf die Ästhetik des späteren 18. Jahrhunderts ebenso wie die romantischen Capriccios des frühen 19. Jahrhunderts zurückgehen, so zeigt sich Darwin als Mode-Theoretiker ganz auf der Höhe seiner Zeit. Ohne zu zögern benutzt er den allerneuesten Schrei der Kultur zur Diagnose uralter evolutionärer Prozesse.

Fast ergibt sich so eine weitere, eine formale und schreibstrategische Parallele zu Benjamin: als radikale Überblendung natürlicher Körper mit neuen und neuesten kulturellen Ästhetiken ergibt Darwins Denken so etwas wie "dialektische Bilder". Diese Bilder stammen aus genau der Zeit, der Benjamins Urgeschichte des 19. Jahrhunderts gilt. Und sie haben ein ähnliches Ziel: eben eine Einsicht in diejenige Mode zu gewinnen, aus der wie kommen und die wir sind.

5. Die Menschenmode der nackten Haut

Darwins Reflexionen über die ästhetische Evolution des menschlichen Körpers stehen weitgehend quer zu den Paradigmen der heutigen Attraktivitätsforschung. Mehr noch: sie werden in dieser Forschung gar nicht erwähnt, obwohl andererseits deren theoretische Grundannahmen weithin auf Darwins generellem Konzept der sexual choice beruhen. Darwin spricht nicht von waist-to-hip-ratio, von Kindchenschema, body mass-Index und all den anderen Folterinstrumenten des heutigen Schönheitskults. Ihn interessiert am menschlichen Körper nur ein Ornament, das er allerdings für zentral hält. Genau dieses Ornament wird meist gar nicht für ein solches gehalten, sondern eher als Nullstufe der Ornamentierung angesehen. Gemeint ist das Abwählen der haarigen Hautoberfläche unserer Vorfahren, also das sonderbare Phänomen der nackten Haut. Sie ist unbestreitbar der augenfälligste Unterschied in der Gesamterscheinung von Mensch und Affe.

Nacktheit der Haut meint für Darwin nicht die Abwesenheit von Bekleidung und damit etwa das Zeigen der Geschlechtsteile. Nein: Nacktheit der Haut ist positiv das erste Ornament des Menschen. Anders als fast alle anderen von Darwin betrachteten Ornamente ist es ein Ganzkörper-Ornament, kein addendum hier oder da. Darwins Erzählung von diesem Ornament nimmt ihren Ausgang von den Affen, bei denen es fehlt, bei denen aber andererseits irgendein Merkmal gegeben sein muss, von dem die menschliche Caprice der nackten Haut ihren Ausgang genommen haben könnte. Als den evolutionären Ansatzpunkt der Entwicklung zur nackten Haut identifiziert Darwin die als sexuelle Signale wirkenden Haar-freien Partien um die (weibliche) Genitalregion vieler Affen und im Mandrill-Gesicht. Sexuelle Selektion, die über sehr lange Zeit der ästhetischen Präferenz für solche enthaarten Hautpartien gefolgt ist, konnte dann trotz unverkennbarer praktischer Nachteile - wie dem Verlust eines thermischen und mechanischen Körperschutzes - das affentypische Attraktivitätsmerkmal immer weiter verstärken und bis zur fast völligen Enthaarung insbesondere des weiblichen Körpers führen. Im Resultat entstand so eine fast durchgängig sexualisierte Körperoberfläche, die ein Novum in der Naturgeschichte der Körper zu sein scheint.

Ergänzend zur spektakulären Ausdehnung der hot spots des Affenkörpers unterliegt die Ästhetik des Menschenkörpers einer direkten Umkehrung der Merkmals haarlos versus behaart: während bei vielen Affen gerade und nur die genital-erogenen Zonen enthaart sind, sind am menschlichen Körper ausgerechnet an diesen Stellen Haare 'gewählt' worden. Des weiteren wird die relative Enthaarung des menschlichen Körpers kontrastiv durch eine besonders haar-reiche Kopfhaut verstärkt, die ein ganzes Spektrum einer neuen Haar-Ästhetik (Farbe, Glanz, Textur, Duft, Bewegung) an einem ansonsten weithin enthaarten Körper hervorgebracht hat. Beide Phänomene sind insbesondere als sekundäre weibliche Geschlechtsmerkmale bestens etabliert. Der Wechsel von den oft grellen Signalfarben an den enthaarten hot spots der Affen hin zu einem dezent abgetönten farblichen Kontinuum der menschlichen Haut kann gleichfalls als direktionaler evolutionärer Bruch mit der ,Affenmode', als Abkehr von der bunten und höchst indezenten Kolorierung einiger unserer Vorfahren an ihren wenigen nackten Hautpartien verstanden werden. Vor die Aufgabe gestellt, durch die Verstärkung einiger ursprünglich minimaler Abweichungen den Schimpansen-Look in eine neue Körpermode zu verwandeln, hätte ein Spitzen-Designer schwerlich ein so überzeugendes Resultat hervorbringen können wie der von Darwin beschriebene Prozeß sexueller Selektion mittels fortgesetzter ästhetischer Differenzgewinne, die sich allein auf eine multiple, einerseits kapriziöse und andererseits in sich konsistente Prozessierung der Differenz behaart versus unbehaart stützen.

Die ästhetische Souveränität gegen andere Rücksichten der "fitness" teilt die Enthaarung der Haut mit dem exorbitanten Hirschgeweih oder dem exzessiven Federkleid einiger Vögel. Darwin behauptet nicht, dass die menschliche Haut - ob vor oder nach der Enthaarung - nicht auch andere biologische Funktionen wahrnimmt; seine Spekulation ist daher nicht prinzipiell unvereinbar mit den alternativen Erklärungsansätzen zur nackten Haut, von denen sich bis heute keiner definitiv durchgesetzt zu haben scheint. Darwin versucht allein plausibel zu machen, dass "to a certain extent" - eine denkbar vorsichtige Formulierung - die extreme Mutation vom fast vollständig behaarten Affen zum fast vollständig ,nackten' Menschen auch ein ästhetischer runaway-Prozess ist, der sexuellen Zwecken dient. Das Nacktwerden des Affen gehorcht insofern etwa der gleichen Inflation eines unterscheidenden Merkmals, nach der die Mode kurzer Röcke kraft ihrer eigenen Dynamik bald zur völligen Entblößung der Beine neigt.

Tatsächlich definiert sich menschliche Schönheit in der Mehrzahl ihrer Parameter durch Verstärkung der Differenzen zum Affen. Rein Ornament-gestützte Differenzgewinne dieser Art sind gerade unter nahestehenden Verwandten vielfach beobachtet worden: "in many taxa of arthopods and vertebrates closely related species differ most in secondary sexual characters" (James L. und Carol G. Gould: Partnerwahl im Tierreich, 1990). Darwins Beobachtung: "to our taste, many monkeys are far from beautiful" entspricht damit einer generellen Regel modischer Distanzierung unter eng verwandten Arten. Im evolutionären Maßstab begünstigt dieses Phänomen die Vermeidung hybrider Paarungen und damit die Artenisolation; aus sexueller Selektion hervorgegangene Aussehensunterschiede sind damit besonders relevant für die Ausdifferenzierung ehemals gleicher Lebewesen in unterschiedliche Spezies.

Viele Insektenarten sind überhaupt nur durch ihre sexuellen Ornamente (einschließlich skurriler Penismoden), etliche Vogelarten nur durch die sexuell bevorzugte Farbgebung zu unterscheiden. Oder anders: modisch-ästhetische Unterscheidungen, gerade unter eng verwandten Wese, machen viele Spezies erst buchstäblich zu dem, was sie sind. Die Evolutionstheorie vermag daher zu erklären, warum etwa Burke feststellen konnte: "There are few animals which seem to have less beauty in the eyes of all mankind [than monkeys]." Oder warum in Goethes "Wahlverwandtschaften" Affen die nur scheinbar paradoxe Doppelattribution als "menschenähnlich" und gleichzeitig ästhetisch "abscheulich" erfahren. Es geht dabei um die ästhetische Verwerfung einer eigenen ehemaligen Körpermode, die nunmehr als absolut ,uncool' wahrgenommen wird - genau so wie Benjamin die Textilmode der eigenen Eltern als "das gründlichste Antiaphrodisiacum" der jeweiligen Nachfolgegeneration bestimmt hat.

Darwins Blick für Biologie gewordene ästhetische Präferenzen bestimmt die Haut als das Gegenteil einer ,nackten Tatsache': als ein hochgradig unwahrscheinliches Unterscheidungsmerkmal, das von den Menschen buchstäblich ,gewählt' wurde und das als umfassende Nacktheit am ganzen Körper bei anderen Primaten, ja beinahe in der gesamten Tierwelt unbekannt ist. Die klassische Ästhetik hatte daher vollkommen recht, die Nacktheit des Körpers als unverzichtbares Datum der griechischen Plastik zu verteidigen. Auf diese unerhörte, extrem unwahrscheinliche Oberfläche mit ihren einzigartigen haptischen Qualitäten und visuellen Linienverläufen zu verzichten, wäre etwa dasselbe, wie den Pfau ohne sein kardinales Ornament darzustellen.

Die nackte Haut ist mithin nicht allein eine Nullstufe, sondern eine über lange Generationen ausgewählte Bekleidung des menschlichen Körpers. Darin ist sie den elaboriertesten Ornamenten von Fell und Gefieder analog, auch wenn sie ,rhetorisch', mit Quintilian zu reden, über detractio statt über additio funktioniert. Doch es kommt noch ein zweites hinzu: gerade weil die nackte Haut das einzige Ornament ist, das zuallererst durch Abwesenheiten definiert ist - durch das Fehlen von Federn, Haaren und Fell -, kann sie ihrerseits zum Schauplatz für supplementäre Ergänzungen und ornamentale Markierungen aller Art werden. Die nackte Haut ist insofern eine Meisterleistung der sexuellen Selektion: aus der polarisierenden Verstärkung ästhetischer Präferenzen hervorgegangen, bietet sie ihrerseits dem Spiel modischer "variety" und "novelty" eine unvergleichlich flexible und vielfältig bestimmbare Fläche. Niemand hat den menschlichen Körper so sehr als ein Organ der Mode gedacht wie Darwin.

Die klassische Ästhetik der Plastik war zu dem gleichen Resultat gelangt. Sie erklärte es für unverzichtbar, den menschlichen Körper unbekleidet wiederzugeben, und zwar weniger um der Präsentation der sexuellen Merkmale willen als deshalb, weil Kurvatur und Oberflächeneigenschaften der Haut den Menschen auf markante Weise als Menschen bestimmen. Wir sind, mit Desmond Morris zu reden, the naked ape. Darauf in der Kunst der Plastik zu verzichten, hieße deshalb nicht weniger als unser erstes Ornament zu verneinen. Darwins Überlegungen verschaffen der klassischen Verteidigung der weitgehend unbekleideten Skulptur insofern ein starkes Argument. Der unbehaarte Mensch, den der klassische Diskurs der Plastik denkt, ist insofern zugleich der enthaarte Mensch, den Darwins Ästhetik der menschlichen Erscheinung in vergleichender und evolutionärer Perspektive denkt.

Der provokante, ganz und gar unklassische Ausgang von Mandrill und Affenhintern ebenso wie der Vergleich mit Pfauenrad und Hirschgeweih gibt Darwins neuer Grundlegung der klassischen Statuen-Ästhetik aber zugleich einen anti-klassischen turn ins Arabeske und Groteske. Vergleichend und funktional betrachtet wird das sanft geschwungene, nur von sehr geringen Farbdifferenzen geprägte Kontinuum der menschlichen Haut - das die klassische Ästhetik als die natürliche und dezente Auszeichnung des menschlichen Körpers feiert - an sich selbst als eine total verrückte Mode, als volles Äquivalent, ja sogar totalisierende Überbietung der groteskesten Ornamente in Tierreich und Kunst lesbar. Anders gesagt: mit Darwin können wir unversehens im klassischen Ideal des schönen menschlichen Körpers zugleich eine grelle romantische Groteskarabeske lesen.

Weit entfernt, historische Semantiken der überlieferten Ästhetik nur zu benutzen, hat Darwins Denken also das Potential, diese Semantiken selbst zu verändern und neu zu rekonfigurieren. Denkbar ist, dass bestimmte Darstellungstechniken des Jugendstils, die schöne menschliche Körper und Motive der arabesken Ornamentik überblenden, Darwins Doppelperspektive auf den menschlichen Körper historisch fortsetzen. Eine Lektüre Darwins aus der Perspektive der philosophischen und historischen Ästhetik erschließt damit Seiten seines Denkens, die in der evolutionsbiologischen ebenso wie der empirisch-experimentellen Rezeption seiner Theorie der Schönheit gänzlich fehlen.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag basiert auf einem Vortrag zur Jahrestagung 2008 des "Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin". Sie hatte den Titel "Kultur der Evolution. Rethinking evolutionary theory from the perspective of cultural studies". Wir danken dem Autor und Sigrid Weigel, der Herausgeberin der 2010 in gedruckter Form erscheinenden Tagungsdokumentation, für die Genehmigung zur Vorpublikation.