Die Welt, ein Straucheln

Libuse Moníkovás postum veröffentlichtes Romanfragmnet "Der Taumel"

Von Diemut RoetherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Diemut Roether

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wer nicht liest, kennt die Welt nicht." Dieser Satz von Arno Schmidt war für die aus Prag stammende, Deutsch schreibende Autorin Libuse Moníková erklärtermaßen Leitmotiv ihres Lebens und Schreibens. Lesend, schreibend erfuhr sie in ihren Büchern die Welt, oft bevor sie ihre Kenntnisse reisend bestätigte. Grönland hat sie in ihrem Roman "Treibeis" so genau beschrieben, dass sie es wiedererkannte, als sie es besuchte. Ihre Romanfiguren durchquerten die Weiten und überschritten leichtfüßig Grenzen - auch solche, die bis 1989 als undurchlässig galten. Denn Phantasie zählte die Autorin neben Gedächtnis und Genauigkeit zu den literarischen Kardinaltugenden.

In den letzten Monaten vor ihrem Tod im Januar 1998 hatte Libuse Moníková an einem Buch gearbeitet, in dem sie literarisch - wie bereits in ihrem wohl berühmtesten Roman "Die Fassade" - in die CSSR der siebziger Jahre zurückkehrte. Die Niederschlagung des "Prager Frühlings", die Okkupation durch die sozialistischen Brudervölker liegt gerade mal zehn Jahre zurück. Viele tschechische Intellektuelle haben das Land verlassen - wie Libuse Moníková, die 1971 ausreiste, obwohl sie, wie sie später einmal erklärte, von Prag "besessen" war und ihre Stadt zeitlebens vermisste. In ihrem Romanfragment "Der Taumel", das der Hanser Verlag postum veröffentlicht, beschreibt Moníková die Situation der Zurückgebliebenen, für die die Frage Ausreisen oder Bleiben keine freie Entscheidung ist. "Das Volk hält den Mund und lacht. Mit Witz halten sie sich über Wasser. Kein Stolz", stellt ihre Romanfigur, der Künstler Jakub Brandl, fest.

Wie Josef K. im "Prozess" wird Brandl ohne ersichtlichen Grund immer wieder aufgefordert, sich im Stadtgericht einzufinden, wo er das Verhör durch einen Beamten über sich ergehen lässt, ohne zu erfahren, was ihm - außer mangelnder Kooperationsbereitschaft - überhaupt vorgeworfen wird. Das System setzt auf Verunsicherung: Wer eine Vorladung erhält, wird sich schon denken können, warum. Jeder bespitzelt jeden, keiner soll dem anderen über den Weg trauen.

Offensichtlich ist Jakub Brandl auch ein im Ausland gefragter Künstler, ein Schweizer Galerist möchte seine Werke ausstellen, ein deutscher Fernsehsender zeigt Interesse. Doch Brandl verzichtet auf Privilegien und Reisemöglichkeiten, er hat sich eingerichtet in seinem ärmlichen Atelier, mit seinen Schülern und den beiden Aktmodellen Dora und Tina, die regelmäßig bei ihm einfallen, seine Vorräte plündern, in seinen Büchern stöbern und irgendwann kichernd wieder abziehen. Diese Beschreibung eines böhmischen Künstlerlebens, einer echten Bohemien-Existenz, ist nicht nur eine Hommage an die "kluge Prager Jugend", sie ist Teil einer Utopie eines menschlichen Miteinander, wie sie Libuse Moníková in vielen ihrer Bücher entworfen hat: Rasche, witzige Wortwechsel und gemeinsame Mahlzeiten gehören ebenso dazu wie die Selbstverständlichkeit, anderen Menschen den Schlüssel zur eigenen Wohnung zu überlassen oder ein Gespräch über Dalí, de Chirico und den schädlichen Einfluss von Künstlerfrauen.

Auch Jakub Brandl ist ein Reisender. Doch mehr noch als mit seinen Büchern reist er mit Gemälden: Mit dem "Zöllner" Rousseau nach Paris, zu jenem legendären Fest, das Pablo Picasso für den verkannten Künstler ausrichtete, nachdem er eines seiner Werke für fünf Francs bei einem Trödler erstanden hatte. Und weiter nach Mexiko, wo Rousseau am Feldzug Napoleons III. teilgenommen hatte, bevor dessen Landschaften ihn zu seinen surrealen Dschungelbildern inspirierten. Mit Piero de la Francesca reist Brandl zu den Madonnen von Arezzo und mit den grauen Wolkenschatten des holländischen Malers Hercules Seghers entflieht er dem tristen Büro, in dem Major Schramm sich vergeblich bemüht, ihn zu einer Aussage zu bewegen.

Wie ein Reiseführer nimmt Libuse Moníková auch in diesem Fragment gebliebenen Buch ihre Leser an die Hand, begleitet sie durch die Stadt Prag und ihre Geschichten, wandert mit ihnen durch die Zeiten und die Regionen. Nationale Mythen werden aufgegriffen und völlig gewendet, denn Moníkovás Anliegen war es, die Geschichte aus der Sicht der Verlierer und der Verschütteten neu zu erzählen: anekdotisch und mit einem wunderbar subversiven, "typisch tschechischen" Sinn für Humor. Das Episodische ihrer Romane ist häufig kritisiert worden - dabei war es Teil ihres antitotalitären Literaturkonzepts.

Ihre Romanfiguren sind meist Exilanten oder Reisende, die die Idee von Mitteleuropa und die Sehnsucht nach der Silhouette Prags immer im Gepäck tragen. "Ein versteinerter Wald. Böhmen am Meer, Schlamm!" schlägt Jakub Brandl einer polnischen Künstlerin als Bühnenbild für eine Inszenierung an einem Pariser Vorort-Theater vor. Eine deutliche Anspielung auf Shakespeare und Ingeborg Bachmann, mit denen Libuse Moníková den Traum eines "Böhmen am Meer" teilte, eines weit zu fassenden mitteleuropäischen Sprach- und Kulturraums. Der Austausch zwischen Tschechen und Deutschen, das alltägliche Miteinander war ihr mehr noch als die politische Aussöhnung ein Anliegen. "Der Taumel" ist eine Möglichkeit, sich noch einmal von dieser Autorin durch Prag und die Welt führen zu lassen - um dann die Reise mit ihren früheren Büchern fortzusetzen.

Titelbild

Libuse Monikova: Der Taumel.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
192 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3446198490

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