Wenn Gedichte im Garten der Mathematik wildern
Zwei Amerikanerinnen laden ein, Gemeinsamkeiten zwischen Lyrik und Mathematik zu sehen
Von Ute Eisinger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseOriginell ist der Ansatz zu diesem Buch auf jeden Fall: Marcia Birken und Anne C. Coon laden ein, mit Hilfe der Mathematik in der Dichtung Muster zu finden. Die Autorinnen haben über 25 Jahre lang am renommierten Rochester Institute of Technology Berührungspunkte zwischen Mathematik und Dichtung gesucht, Studenten dazu angehalten, Bezüge zu erkennen und herzustellen. Das Ergebnis ist ein erfrischender Anstoß, die auf den ersten Blick disparaten Disziplinen einmal ganz neu zu betrachten.
Die Publikation bezieht sich auf die englischsprachige, mehrheitlich moderne amerikanische Dichtung. Vielleicht fängt ja der eine oder andere Student der Literaturwissenschaft oder Mathematik Feuer und beginnt auch die Dichtungen anderer Sprachen auf mathematische Muster zu untersuchen - zumal die (dem Wissenskanon der gymnasialen Oberstufe entsprechenden) Grundlagen übersichtlich und mit zahlreichen Grafiken illustriert werden.
Im Vorwort erinnern die Autorinnen daran, wie Kinder gleichzeitig mit Sprachmustern - Reim und Metrik - Zahlen lernen: Auszählsprüche sind ein gutes Beispiel für unser frühestes Lernen, das im Lauf der akademischen Bildung immer mehr in Zahlengedächtnis und Wortgedanken geschieden wird. Dann erklären sie die Grundlagen der Arithmetik, von den Mengen der Zahlen über die Reihen und Folgen, das Pascal'sche Dreieck, die Fibonacci-Reihe und den Goldenen Schnitt. Sie streuen immer wieder Gedichte ein, die auf diese Phänomene Bezug nehmen. Freilich sind das vereinzelte und vor allem von modernen Dichtern stammende Bezugnahmen (St. Vincent-Millay, Sandhurst).
Im nächsten Teil widmen sich Coon und Birken drei international gängigen Strophenformen und analysieren Sestine, Sonett und Villanelle, allesamt aus englischsprachigen, modernen Beispielen. Was überzeugt und in Zusammenhang mit dem Metier untypisch daherkommt, ist der völlig ungezwungene, unakademische Ansatz: So wird vor jedem Gedichtbeispiel vorgeschlagen, wie man den Text am besten lesen solle: laut, leise, skandierend oder gegen den Reim. Vor der Analyse raten die beiden Autorinnen zum ungezwungenen Sich-Einlassen und intuitiven Erfassen des Musters.
So zeigen sie anhand von Elizabeth Bishops "Sestina" mit einer Grafik die Permutationen der Reimwörter und stellen ein Swinburne-Gedicht mithilfe eines Rasters dar. Vor allem appellieren die Autorinnen, es doch selbst einmal zu versuchen, sich Muster auszudenken und in Erfüllung dieses Rasters ein Gedicht zu schreiben (Die französischen Oulipoten erwähnen die beiden bis hierher nicht).
Im dritten Kapitel geht es nun um arithmetische Formen und Muster wie die Spirale, die von konkreten Dichtern angewendet wurde, in Amerika aber ein eher unübliches Phänomen darstellt; darum führen die Autorinnen unter anderem auch Eugen Gomringer und Guillaume Apollinaire an. Zur Veranschaulichung von Akrostichen bis Sudoku-artigen Raster-Gedichten greifen Birken und Coon auf bekannte Vorläufer aus der Antike zurück. Nach ausführlichen Erklärungen der Mathematik der Symmetrie, die sowohl Bilder aus der Natur als auch zahlreiche Beispiele des niederländischen Grafikers M.C. Escher enthalten, geht es um die Nachahmung, Theorie und Nutzbarmachung dieser Baupläne für die Dichtung; als Konstruktionsprinzipien angewandt oder metaphorisch genommen. Auch in Bezug auf Fraktale, zu denen die Autorinnen sogar auf die Forschungsgeschichte eingehen, findet die Entdeckung durch Dichter auf dem Weg über die Grafik statt: Labyrinthartige grafische Gedichte sind eine Anwendung. Wieder sind es mehr als die Formeln, die philosophischen Aspekte dieser Phänomene - Ordnungsregeln im scheinbaren Chaos -, die Dichter veranlasst, in der Selbstähnlichkeit Parallelen zur eigenen Disziplin zu sehen oder Fraktale mit anderen Bezogenheiten zu thematisieren. Neben modernen Dichtern sehen die Autorinnen - und das ist das eigentliche Verdienst dieses Buches - aber auch selbstähnliche Muster in Strophenformen, die schon 700 Jahre vor Entdeckung von Fraktalen entwickelt wurden, zum Beispiel im Sonett. Hier fehlt allerdings der Hinweis auf die Musik, etwa bei Bach, der lange vor der Wahrscheinlichkeitsrechnung deren Prinzipien für Kompositionen angewandt hat.
Zu guter Letzt fordern Birken und Coon nun auf, dass wir selbst "Pattern for the Mind" erfinden: Der Beweis, das Paradoxon und die Unendlichkeit sind die Werkzeuge beziehungsweise Entitäten, mit denen die Mathematik agiert. Anhand der Sätze von Fermat und Cantor empfehlen die beiden, dass man sich von solchem Denken auf experimentelle Wege führen lassen solle. Unter den zahlreichen Beispielen, die sie nennen, werden höchst unterschiedliche Dichter genannt, die in selbstreflexiven Schreiben diese Taktik der Nutzbarmachung der Mathematik fürs Gedicht zugeben, vorschlagen oder erfinden. Dabei sollte man immer vor Augen haben, worin sich die beiden Disziplinen unterscheiden und was sie gemeinsam haben - worauf das Nachwort ebenfalls noch einmal hinweist.
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