Luft- und Seifenblasen

Ein von Marie Luise Angerer und Christiane König herausgegebener Sammelband konfrontiert die Gender Studies mit der Herausforderung durch die Lebenswissenschaften

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine von mehreren zum Teil gegenläufigen Tendenzen der aktuellen Gender Studies zielt auf die "Umarbeitung des Performativitätskonzepts in Richtung einer ontologischen Vorstellung von Materialität". Dies trifft auch auf einige der Aufsätze des von Marie Luise Angerer und Christiane König herausgegebenen Bandes "Gender goes Life" zu, dessen von Luciana Parisi verfasstem Beitrag "Die Nanogestaltung des Begehrens" das Zitat entnommen ist.

In den "einführende[n] Überlegungen" erklärt die Herausgeberin gar, "der Traum von gender" sei "einer Luftblase gleich (wie die new economy) [ge]platzt". Ist das Bild schon darum etwas schief, weil Luftblasen nicht platzen, sondern ganz andere Eigenschaften haben wie etwa diejenige, in Flüssigkeiten an die Oberfläche zu steigen, so kann ihr Hinweis auf die Konfrontation der Gender Studies mit einer "neo(neuro)biologischen Grundsteinlegung" allenfalls insofern zur Erklärung für einen möglicherweise anstehenden Paradigmenwechsel herangezogen werden, als etliche Gender-TheoretikerInnen auf die Neurowissenschaften starren wie das Kaninchen auf die Schlange; wohl kaum aber in etwaigen Erkenntnissen über geschlechterspezifische Differenzen, wie sie Gehirnforschung und Neurobiologie unter lautem Werbetrommelgewirbel hinausposaunen.

Denn tatsächlich erweisen sich die vermeintlich "neuen Einsichten über die Natur des Menschen", mit denen uns die Neurobiologie Angerer zufolge "täglich beliefert" bei genauerem Blick auf deren Herstellung mittels aufwändiger 'grundsteinlegender' Bildgebungsverfahren als Luftschlösser, die sich auflösen wie eine flimmernde Fata Morgana, wenn ihre heiße Luft erkaltet.

Auskunft darüber, was moderne, computergenerierende Bildgebungsverfahren und deren Interpretationen leisten und was nicht, bietet etwa eine hervorragende Untersuchung, die unlängst von den WissenschaftshistorikerInnen Lorraine Daston und Peter Galison unter dem Titel "Objektivität" vorgelegt wurde. Auch Arbeiten feministischer Natur- und Biowissenschaftlerinnen erhellen die argumentativen und beweistechnischen Schwächen (neuro-)biologischer Theorien der Geschlechterdifferenz. Genannt seien hier nur Anne Fausto-Sterling und Sigrid Schmitz. Wie sie und andere zeigen, sind es tatsächlich die vermeintlich umstürzenden Geschlechtertheorien neurobiologischer Provenienz, die zwar nicht wie Luft-, wohl aber wie Seifenblasen platzen.

Immerhin konzediert auch Angerer, dass "nicht eindeutig" auszumachen sei, "[o]b die Lebenswissenschaften [...] wirklich das gesamte Wissenssystem der Gender Studies auf den Kopf stellen und zur neuen Leitdisziplin aufsteigen werden". Doch beharrt sie darauf, es lasse sich "mit großer Sicherheit behaupten", "dass das Soziale und seine Akteure derzeit einem umfassenden Renaturalisierungsprozess unterworfen sind."

Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Ließe sich doch mit weit mehr Recht sagen, dass sich das Soziale oder besser gesagt die Kultur immer stärker der 'Natur' inklusive der menschlichen Biologie bemächtigt, indem die Menschen ihre Umwelt und sich selbst gemäß ihren Vorstellungen und Wünschen zurichten. Das reicht von Genmais über Brustvergrößerungen bis hin zu Designerbabys und konzentrations- oder ausdauerfördernden Drogen und Dopingmitteln.

Nicht nur Angeres recht unkritischer Blick auf die Neurobiologie gibt zu denken. So versucht sie etwa, die konservativen Phantasien in Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete" auf das Niveau von Donna Haraways seinerzeit bahnbrechendem Cyborg-Manifest zu hieven. Damit tut sie der ehemaligen Viva-Moderatorin denn doch allzu viel der Ehre an.

Allerdings sollte man sich durch derlei keinesfalls von der Lektüre des Bandes abhalten lassen, dessen Beiträge aus Sicht verschiedener Disziplinen danach fragen, "[w]ie das Denken des Sexuellen und Geschlechtlichen sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit der Physik, Biologie, mit den Medien und den Künsten verbindet, wie diese Verbindungen getrennt, verschoben, neu gedacht werden, und wie sehr sich heute alte Verbindungen in neuer Formatierung herausschälen". So erörtert Paul Verhaeghe "das Kernproblem menschlicher Sexualität" aus psychoanalytischer Sicht, Volkmar Sigusch bietet einen "Ausblick auf eine Theorie der Hylomatie", Astrid Deuber-Mankowsky fragt nach "Gender als epistemische[m] Ding" und Hans-Jörg Rheinberger durchstreift "[b]iologische Forschungslandschaften um 1900". Ebenfalls der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende gilt das Interesse von zwei Autorinnen. Mitherausgeberin König zeigt anhand einer "besonderen Begehrenskonstellation zu Beginn des 20. Jahrhunderts" eine "genealogische Linie von queeren Sexualitäten" auf und Kerstin Palm beleuchtet im Vorgriff auf ihre bislang noch unpublizierte Habilitationsschrift "Neovitalismus um 1900 als produktives Krisenphänomen".

Auch Jackie Stacey greift einem noch nicht veröffentlichten Buch aus eigener Feder vor und geht Analogien zwischen der "Herstellung von Leben und der Animation von Gender" im Film nach. Die Kunsttheoretikerin Sabeth Buchmann spannt einen weiten Bogen von verschiedenen historischen und aktuellen Bild-, Farb- und Filmtheorien über "Kunst- und Wahrnehmungsdiskurse" bis hin zu einer Gemeinsamkeit zwischen Körpern und Bildern, die darin bestehe, "dass wir sie 'nur' über ihre Referenten kennen." Rosi Braidotti geht von der "Tatsache" aus, "dass die sozioökonomischen Gegebenheiten des fortgeschrittenen Kapitalismus eine globale Politik produzieren." Diese sei ebenso "posthuman" wie "post-anthropozentrisch" und neige dazu, "zutiefst unmenschlich zu sein." Am Ende ihrer reichlich hermetisch wirkenden Ausführungen schlägt Braidotti "als eine mögliche Antwort auf diese Herausforderung eine posthumanistische Dimension eines nicht-anthropozentrischen Vitalismus oder eine transformative nomadische Politik vor."

Manuela Rossini plädiert hingegen für einen "neuen, feministischen Materialismus". Unabhängig davon, dass sie damit auf den philosophisch längst diskreditierten materialistischen Ansatz rekurriert, weist sie zurecht darauf hin, dass den Naturwissenschaften selbst ein "kritisches Potential zur Infragestellung und Dekonstruktion der vermeintlichen Stabilität von materiellen Strukturen und der durch diese legitimierten Unveränderbarkeit von Gegebenem aufzuspüren", innewohnt. Wie die Dekonstruktion materieller Strukturen mit dem von ihr geforderten Materialismus vereinbar sein soll, verrät sie allerdings nicht. Statt dessen erklärt sie, dass feministische TheoretikerInnen, die "Diskriminierung aufgrund bestimmter identifizierbarer Erkennungsmerkmale" ablehnen und sich darum gegen Rassismus und (Hetero-)Sexismus wenden, folgerichtig "mit gleicher Vehemenz" dagegen sein müssten, "dass Tiere aufgrund ihrer Spezies ausgebeutet, geschlachtet und gegessen werden."

So richtig interessant wird Rossinis Aufsatz im letzten Abschnitt, der sich zunächst mit dem Science-Fiction-Roman "A Mouthful of Tongues" von Paul Di Filippo befasst, der auch das "Ribofunk"-Manifestes schrieb, dem das gleichnamigen Genre seine Bezeichnung verdankt. Di Filippos Roman ist Rossini zufolge geradezu die "Verkörperung der posthumanistischen, anti-speziestischen Idee". Die Grundlage hierfür bilde seine Bezugnahme auf die von der Mikrobiologin Lynn Margulis entwickelte antidarwinistische "Herkunftsgeschichte" des Lebens aus "eukariotischen Zellen".

Wie Rossini darlegt, stellt sich Margulis "gegen die darwinistische Idee der sogenannten 'modernen Synthese', welche Biodiversität und die Entstehung neuer Spezies im Verlaufe der Evolution mit der natürlichen Auslese zufälliger Genmutationen begründet". Statt dessen vermutet die Mikrobiologin, dass "neue Zellsorten, neue Organe und sogar neue Arten" durch "gemeinsame parasitäre Kohabitation von bakteriellen Zellen und dann durch den Austausch genetischen Materials zwischen unterschiedlichen Lebewesen" entstehen. Wie Rossini referiert, entwickeln sich "[b]iologische Neuheiten" Margulis zufolge entgegen Darwins Evolutionstheorie durch die "Aufnahme von systemfremden Genen, die dann permanent im Genom der neuen Lebensform vorhanden sind." Es lasse sich also die These vertreten, argumentiert Rossini im Anschluss an Margulis, dass der "menschliche Körper" weder "einen 'sexuellen Dimorphismus' aufweist, noch je rein menschlich war/ist". Vielmehr sei er als "ein durch heterogenen Austausch mit seiner Umgebung entstandenes, intersexuelles, instabiles und unfertiges Resultat" zu verstehen. "[S]esshafte', feste und binäre Spezies-Identität[en]" erweisen sich Rossini zufolge somit als "Fiktion[en]". Darum schlägt sie vor, sich nicht an Merkmalen von Körperoberflächen zu orientieren, sondern "sich in einem 'tieferen' Sinn mit unserer materiellen Konstruiertheit [zu] beschäftig[en] und 'Leben' als Zoë [zu] versteh[en]". Ihr Plädoyer bündelt sie in der Forderung nach einer "kritisch-posthumanistische[n] Zoontologie, die auch eine posthuman(n)ozentrische wäre."

Letztlich begründet Rossini ihren Antispeziesmus damit, dass es keine klar von einander getrennten Spezies gibt. Das mag tatsächlich so sein, doch wenn die Spezieszugehörigkeit kein Kriterium sein kann, das es erlaubt, bestimmte Lebewesen anders zu behandeln als andere, etwa sie zu verspeisen, zu Hemden oder zu Hütten zu verarbeiten, so bringt das einige moraltheoretische wie auch praktische Probleme mit sich.

Zwar spricht Rossini mit Jacques Derrida einerseits von "the living in general", doch übernimmt sie andererseits auch dessen antispeziestischen Begriff "zoontologies", der ja nur Tiere umfasst. Allerdings fällt mit dem Speziesargument auch die Trennung zwischen Flora und Fauna. Denn wenn Spezies nicht eindeutig von einander getrennt sind, dann sind sie es ebenfalls nicht. Doch da sich Rossinis antispeziestische Haltung offenbar auf Tiere beschränkt, spricht sie an keiner Stelle von Pflanzen. Argumentiert man jedoch antispeziestisch, gilt es entweder Tiere und Pflanzen gleich zu behandeln oder aber ein ethisches Kriterium aufzufinden beziehungsweise zu entwickeln, das den unterschiedlichen Umgang mit beiden zu begründen und zu rechtfertigen vermag.

Es ergibt sich noch ein weiteres Problem. Wenn alle Lebewesen gleichermaßen und auf gleiche Weise unter den Schutz der Ethik fallen, warum dann nicht auch unter ihre Anforderungen. Muss man einen Wolf also daran hindern, das Schaf zu fressen, das man selbst nicht essen darf? Und wenn ja, wie rettet man ihn dann vor dem Hungertod?

Weder wirft die Autorin derlei Probleme auf, noch nennt sie gar ein ethisch relevantes Kriterium, das sie lösen könnte. Denkbar wäre beispielsweise das auch von dem australischen Philosophen, Tierrechtler und Anthropozentrismuskritiker Peter Singer ins Auge gefasste Kriterium der Leidensfähigkeit, das wiederum in eine Mitleidsethik eingebettet werden könnte. So schlägt etwa die Singer-Kritikerin Ursula Wolf eine "Moral des generalisierten Mitleids" vor.

Auch ein nur auf Tiere bezogener Antispeziesmus würde jedoch noch weitere Fragen aufwerfen. Darf man etwa eine Tsetsefliege erschlagen, um keine Malariainfektion zu riskieren? Wiederum ist es Singer, der eine Antwort anbietet, indem er ein (nicht-anthropozentristisches) Kriterium dafür nennt, welche Lebewesen unter das Tötungsverbot fallen und welche nicht. Es ist das der Person. Als solche bezeichnet er Wesen, "[d]ie sich selbst als distinkte Entität mit einer Vergangenheit und Zukunft bewusst sind". Eigenschaften, die er etwa Primaten und bestimmten andere Spezies zuspricht.

Allerdings führt Singers Argumentation zu Problemen, die zumindest ebenso schwerwiegend sind wie diejenigen, die Rossinis Antispeziesmus aufwirft. So erklärt er explizit, dass zwar keine Primaten getötet werden dürfen, wohl aber Neugeborene, da diese sich ihrer selbst noch nicht bewusst sind. Er hält deren Tötung aufgrund seiner, wie er sagt, "utilitaristischen Position" sogar dann für geboten, wenn sie schwerstbehindert sind, etwa an einer offenen Wirbelsäule leiden und somit nur die Aussicht auf wenige Monate Lebensdauer haben.

Doch damit nicht genug. Nicht nur Neugeborenen, auch bewusstlosen, komatösen oder schlafenden Menschen käme nach der obigen Definition Singers nicht der schützende Status einer Person zu. Auswege werden in der Diskussion um die grundsätzliche Potenz eines Wesens, sich seiner selbst bewusst zu sein oder zu werden, gesucht. Mit Argumenten, die der Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls so ähnlich für den von ihm präferierten Begriff der "moralischen Persönlichkeit" vorbringt, die schon "als eine Möglichkeit, die sich gewöhnlich im Laufe der Zeit verwirklicht", ethisch relevant wird. Darum fallen auch Babys unter den Schutz der von ihm entworfenen Gerechtigkeitstheorie.

Rossinis Antispeziesmus interessiert sich für Fragen und Problemen wie die hier angedeuteten zwar nicht weiter. Ersatzlos streichen lässt sich die Spezieszugehörigkeit als ein Kriterium dafür, wie ein Wesen welchen anderen gegenüber handeln und wie es von welchen anderen behandelt werden darf, jedoch nicht.

Luciana Parisi, von der eingangs bereits die Rede war, huldigt weder dem Antispeziesmus, noch argumentiert sie mikrobiologisch, sondern dringt noch etwas tiefer in den Mikrokosmos vor und unternimmt es in ihrem von ihr selbst als "spekulative philosophische Geste" bezeichneten Beitrag zu zeigen, "wie durch den nanomimetischen Versuch, Natur von Grund auf zu imitieren, die Nanogestaltung der Materie virtuell verändert, was wir für das Körpergeschlecht halten." Ihrer originellen These zufolge weist die "elementare Manipulation des Materiestaubes" (gemeint ist die Manipulation atomarer und subatomarer Teilchen) "nicht vornehmlich" auf einen "metaphysischen Zustand der Unsicherheit gegenüber der Bio-Logik der Geschlechterdifferenz" hin. Vielmehr impliziere die technowissenschaftliche Fokussierung auf den "atomaren und subatomaren Aufbau von Materie" eine "Neugewichtung der metaphysischen Aktivität von Materie". Damit biete die "Affirmation a-humaner (nicht biologischer) Nanodimensionen des Körpergeschlechts" einen "produktiven Ausgangspunkt für eine Neukonzeptionalisierung von Geschlechterdifferenz und Sexualität fernab der Sackgasse von Essentialismus-Konstruktivismus zwischen Sex und Gender." Ihr "Versuch, eine neue Form der Metaphysik des Geschlechts" zu entwickeln, zielt auf eine "Metaphysik der sexuellen Differenz" ab, die weder von einer "Ontologie der Essenz" noch von "semiotischen Strukturen" und "Identität und Signifikation" abhängt. Innovative Beiträge wie dieser sind auch dann noch anregend, wenn man nicht mit ihnen konform gehen mag. Gerade dann!


Titelbild

Marie-Luise Angerer / Christiane König (Hg.): Gender goes Life. Die Lebenswissenschaften als Herausforderung für die Gender Studies.
Transcript Verlag, Bielefeld 2008.
262 Seiten, 26,80 EUR.
ISBN-13: 9783899428322

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