Das Begehren spricht

Joseph Breitbachs Roman "Die Wandlung der Susanne Dasseldorf" über die erste Nachkriegszeit entpuppt sich als Studie in Sachen moderner Sexualität

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass die 1920er-Jahre eine außerordentliche Zeit waren, ist nichts Neues, auch dass das Verhältnis zwischen den Geschlechtern dabei neu geregelt wurde und dabei Beziehungsthemen inklusive Sexualität neu aufgerollt und durchdacht wurden, ist keineswegs spektakulär. Man erinnere sich nur an Erich Kästners Roman "Fabian", in dem Fabian und seine spätere Geliebte Cornelia Battenberg die unauflöslichen Widersprüche, in denen sich die Geschlechter in der sich rasch verändernden Gesellschaft verwickelt fanden, mit melancholischem Unterton debattierten. Walter Benjamin hätte daran seine Freude haben können, wenn ihm der Blick auf Kästner nicht von anderen Themen verstellt gewesen wäre. Nun aber zu Joseph Breitbach und seinem Roman "Die Verwandlung der Susanne Dasseldorf" aus dem Jahr 1932.

Wie viele renommierte Texte der 1920er- und frühen 1930er-Jahre ist Breitbachs Roman bei Kiepenheuer erschienen und findet sich damit zwischen den Texten Marieluise Fleißers, Anna Seghers' oder auch Bertolt Brechts wieder. Und auch wenn Breitbach weder der Neuen Sachlichkeit noch der Avantgarde verpflichtet ist, macht er sich dort nicht schlecht. Der Roman ist ähnlich konzeptionell angelegt wie Kestens Romane der Weimarer Republik, aber weniger an Lebensläufen und Lebensentwürfen interessiert als der einflussreiche Autor und Kiepenheuer-Lektor. Breitbach visiert stattdessen einen Teilaspekt an, der allerdings bei den Bemühungen um eine biografische Selbstbestimmung eine zentrale Rolle einnimmt: die Sexualität, ihre Varianten und die Frage der Erfüllbarkeit des Begehrens.

Nicht mit seinem Thema, aber mit seiner Durchführung fällt Breitbachs Text nicht nur im literarischen Umfeld seiner Zeit auf. Auch im Vergleich zum eigenen Werk zeichnet den Roman eine bemerkenswerte Offenheit und Unvoreingenommenheit aus: Weder ist zwischen Hetero- und Homosexualität ein Gefälle zu bemerken, noch wird männliches und weibliches Begehren unterschieden. Eine Irritation und Bewertung, wie sie Fabian in Kästners Roman angesichts der offenen Avancen Irene Molls und der homosexuellen Aktivitäten Irene Reiters erkennen lässt (und die "realistisch" ist, insofern sie die Differenz zu einer angenommenen stabilen "Normalität" der Geschlechterbeziehungen aufnimmt), ist Breitbachs Personal fremd.

Am Beginn steht der Ausnahmezustand: Der Große Krieg ist verloren gegangen, die Amerikaner haben Koblenz besetzt, die selbstverständlich national (wenn auch nicht notwendig monarchisch) denkende örtliche Industriellenfamilie Dasseldorf muss einen amerikanischen Offizier als Quartiergast akzeptieren, was diese widerwillig hinnehmen, immerhin gehören sie zur Verlierernation. Das bedeutet aber nicht, dass sie mit der amerikanischen Besatzungsmacht fraternisieren, wie es zahlreiche Landsleute - trotz des Kontaktverbots - bereitwillig tun. Die beiden Töchter der Gärtnersfamilie Hecker "verloben" sich mit amerikanischen Soldaten. Und auch sonst sind die Schranken zwischen Amerikanern und Deutschen einigermaßen durchlässig.

Und damit kommen wir zur zentralen Figurenkomposition. Im Zentrum des Romans steht die titelgebende Tochter des Hauses, Susanne, die - selbst schon Mitte zwanzig - fasziniert ist von der präsenten Körperlichkeit des jugendlichen Hecker-Sohnes Peter. Selten ist die weibliche Faszination für den männlichen Körper klarer, eindeutiger und sexuell derart aufgeladen in der E-Literatur gezeigt worden - zumal in den frühen 1930er-Jahren -, wie in Breitbachs Roman. Susanne beobachtet Peter, sucht seine Nähe, Zeichen dafür, dass er sie gleichfalls wahrnimmt (und im biblischen Sinn zu erkennen begehrt), erlaubt sich am Ende jede Peinlichkeit und macht sich bedingungslos zur Närrin ihres Begehrens, das schließlich eine -allerdings allzu kurze - Befriedigung findet.

Jedoch hat sie im Sekretär ihrer Familie einen nicht minder hartnäckigen, faszinierten und begehrenden Nebenbuhler: Schnath ist seinerseits nicht von der vital-muskulären Ausstattung des jungen Mannes hingerissen, sondern von seiner unfertigen Jungenhaftigkeit, für die weder die Demarkationslinie zwischen Homo- und Heterosexualität, noch die zwischen Recht und Unrecht von irgendeinem Belang wäre. Für Peter richtet sich das Begehren sich auf den Moment und nicht auf einen besonderen Gegenüber. Deshalb kommt es ihm darauf an, möglichst wenig anzuecken, Strafen zu vermeiden und die Mittel in die Hand zu bekommen, die ihm ein angenehmes Leben ermöglichen, zumindest für den Augenblick.

Das verändert sich im Laufe des Romans. Aus dem Jungen wird ein junger Mann. In dem Moment, in dem sich der amerikanische Besatzungsoffizier seiner annimmt, um ihn einerseits als Postillion d'amour einzusetzen und andererseits sein Boxertalent zu fördern, orientiert sich Peter neu: Nicht mehr der momentane Genuss, sondern der Erfolg, der erarbeitet werden muss (in diesem Fall und nicht ohne Grund ist das der sportliche Erfolg), steht im Vordergrund. Aus dem semiprofessionellen Strichjungen wird die Koblenzer Box-Hoffnung, die bereits im ersten Schaukampf den amerikanischen Armeemeister zu bezwingen weiß.

Auch wenn Peter erst jetzt, als junger Mann, das Begehren und die Fantasien Susanne Dasseldorfs wirklich anzufeuern weiß - seine Statur, seine Muskulatur, die Vorstellung, dann Präsentation seines nackten Körpers sind von denkbarer Eindeutigkeit -, mit diesem Moment ist Peter eigentlich schon für Susanne verloren. Aus dem orientierungslosen Jungen ist jemand mit Zielen geworden, denen er alles, auch die Sexualität, unterordnet.

Dass er dies Major Cather verdankt, ist kaum zufällig, sondern hat eine klare Signalfunktion im Roman: Als Repräsentant der Besatzungsmacht repräsentiert er auch eine neue, Regel setzende Macht. Zu der gehört auch, dass die überkommenen Verhaltensroutinen ihre Gültigkeit verlieren. Cather kann also Peter als Sportsmann fördern, mit ihm seine Freizeit verbringen, sogar mit ihm schwimmen gehen (das heißt: sich ihm gegenüber weitgehend entblößen), ohne dass er seine Autorität verlöre. Im Vergleich: Für Susanne hingegen ist es immer noch nicht möglich, den schwimmenden (halb nackten) Männern zu begegnen, ohne dass sie kompromitiert wäre. Dass sie es trotzdem möglich macht, ist ihrem fast männlichen Auftreten und der Übermacht ihrer Leidenschaft für Peter (genauer, Peters Körper) zu verdanken.

Cather wird es schließlich auch sein, dem sich Susanne zuwendet, nachdem das Experiment Peter so enttäuschend ausgegangen ist (nicht der Akt allein ist von Belang, auch sie soll von ihm "profitieren", was angesichts der neuen, zugleich fraglosen Selbstbezüglichkeit Peters kaum zu erwarten ist). Und dies geschieht nicht ohne Grund, denn Cather ist von Beginn an Susanne verfallen. Während sie ihrem Begehren jedoch den Weg freizumachen versucht, bleibt Cather der zurückhaltende, vom "männlichen" Selbstbewusstsein Susannes faszinierte Werber. Nicht der schnelle Vollzug, sondern die beständige Verbindung ist offensichtlich sein Ziel, was aber zu Beginn angesichts der nationalen Gesinnung Susannes kaum erfolgversprechend zu sein scheint. Nur ist die Deutschtümelei Susannes ebenso löchrig wie ihre Distanziertheit Fassade, ohne dass dies als unaufhebbare Widersprüche funktionieren würde.

Es ist stattdessen auffallend, dass Breitbach die Widersprüche seiner Figuren nicht gegeneinander ausspielt. Susanne kann national denken, und trotzdem den Kontakt mit Cather nutzen, um den Boxkampf Peters zu besuchen. Sie kann distanziert sein und sich trotzdem Peter hingeben. Die Verhaltensformen werden neu zusammengestellt, und Muster, das sich bereits schemenhaft zeigt, ist weniger konsistent und widerspruchsfrei denn offen, ein Patchwork von Verhaltensweisen, die jeweils ihrem spezifischen Bereich funktionsfähig sind, aber keine Auswirkungen mehr auf andere haben. In diesem Zusammenhang fallen auch die Bewertungsdifferenzen von männlicher und weiblicher Sexualität, Homosexualität und Heterosexualität weg. Obwohl Schnath und Susanne im Verhältnis zu Peter Konkurrenten sind, kommt ihre sexuelle Differenz offen zur Sprache und wird eben nicht, wie sonst allzu häufig, kulturkritisch oder denunziatorisch eingesetzt. Und mindestens das ist bemerkenswert. Auch beklagt Susanne die Beschränkungen, die die Gesellschaft dem weiblichen Begehren auferlegt - das hindert sie aber nicht daran, diese Beschränkungen schlicht zu ignorieren und sich genau die Wünsche erfüllen zu wollen, die ihr ihre Leidenschaften vorschreiben.

Breitbachs Roman erweist sich mit diesem Konzept als bemerkenswerter Text, der weit über seine Zeit hinaus weist und auffallende aktuelle Anschlussmöglichkeiten bietet. Die Körperlichkeit als zentrales Oberflächenphänomen der Gegenwart, die Modellierbarkeit der Körper, aber auch die Offenheit und Unbestimmtheit, in der Sexualität, Begehren und Leidenschaft sich auf diese Körper ausrichten, ist ein modernes Phänomen, zu dem Breitbach ein ungemein lesenswertes Buch geschrieben hat und keineswegs ein historisches Dokument.

Die Herausgeber sehen das anders. Breitbachs Roman ist im Rahmen einer Werkausgabe in Einzelausgaben neu herausgegeben und mit einem Begleitband versehen worden, der die begleitenden historischen Dokumente aufzuarbeiten verspricht. In der Tat versammeln Alexandra Plettenberg-Serban und Wolfgang Mettmann, die die Ausgabe betreuen, auf knapp 250 Seiten die Briefe Breitbachs an einen engen Freund der 1920er-Jahre, den Maler Alexander Mohr, und präsentieren zudem Dokumente zur Entstehung und Editionsgeschichte des Romans (merkwürdigerweise wird auf die benutzte Textgrundlage nur versteckt verwiesen). Eine Fotodokumentation und eine Synopse der historischen Ereignisse und ihrer Entsprechung im Text kommen hinzu, die vor allem eins dokumentieren sollen: die Referenz des Textes in seinem historischen Kontext.

"Authentizität" ist das Zauberwort, das etwa Alexandra Plettenberg-Serban im Nachwort des Romans bemüht. Und dabei den Roman grandios verfehlt, und zwar aus methodischen Gründen: Es ist nicht die Referenz der Vorbilder und Vorlagen, die den Roman authentisch macht, sondern die Bedeutung, die er durch seinen Entwurf gewinnt. Damit wird keineswegs behauptet, dass die Arbeit der Editoren sinnlos oder überflüssig wäre, ganz im Gegenteil. Allerdings ist darauf zu achten, dass nicht das Material Vorrang über den Text erhält und ihm die Qualität zuweist, die er im Rahmen seiner spezifischen Form erst gewinnen muss, zum Teil eben im Widerspruch und im Absehen vom Material.

Man muss dieses Verhältnis zwischen Text und Vorlage keineswegs so pathetisch formulieren, wie dies Thomas Mann in seinem Essay "Bilse und ich" getan hat. Von "Beseelung" braucht also nicht die Rede zu sein. Aber das Kernargument, das Mann seinerzeit nutzte, greift auch hier noch: Der Roman geht über das Material notwendig hinaus, weil nur der Roman die Realität verarbeiten, reflektieren, variieren, zuspitzen und - eben auch - übersteigen kann. Literatur als Reflexionsmedium ist nicht nur Gedächtnis, keineswegs nur Archiv von Vergangenheit und erst recht nicht aufs Historische deutendes Dokument, sondern vor allem ein Medium, in dem Verhalten vorgedacht und simuliert werden kann. In diesem Kontext ist dem literaturwissenschaftlichen Dokumentarismus und Biografismus, der den Text über den Autor und das von ihm verarbeitete Material nicht nur entschlüsseln, sondern auch zu authentifizieren sucht, etwas mehr methodische Strenge und heuristische Bescheidenheit zu empfehlen.


Titelbild

Joseph Breitbach: Die Wandlung der Susanne Dasseldorf. Band 1: Roman. Band 2: "Ich muß das Buch schreiben...". Briefe und Dokumente zu Joseph Breitbachs Roman "Die Wandlung der Susanne Dasseldorf".
Herausgegeben von Wolfgang Mettmann und Alexandra Plettenberg-Serban.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
930 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3892449309

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