Das Leben der anderen

Über Jens Wonnebergers Roman "Gegenüber brennt noch Licht"

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Life is not a spectator's sport" ("Das Leben ist kein Zuschauersport") lautet eine Redewendung im englischsprachigen Raum. Doch für manche Menschen scheint es genau dies zu sein. So auch für Herrn Plaschinski, den Protagonisten in Jens Wonnebergers jüngstem Roman "Gegenüber brennt noch Licht".

Tagsüber spürt Herr Plaschinski in der Dresdener Bundsversicherungsanstalt für Angestellte dem Erwerbsleben seiner Mitmenschen nach. Er findet Versorgungslücken, fahndet nach beitragsfreien Zeiträumen und Nachweisen, die für den Rentenbezug zu erbringen sind.

Doch damit nicht genug: Auch nach Feierabend widmet sich Herr Plaschinski ganz dem Auskundschaften seiner Mitbürger. Geradezu magisch angezogen wird sein Blick vom Haus gegenüber. Bereits morgens nach dem Aufstehen gelten seine ersten Gedanken den Nachbarn. Und auch nach Feierabend kann er bis zum Zubettgehen kaum die Blicke von dem Mietshaus wenden, dessen Bewohner ihm so vertraut sind, als wären sie seine eigene Familie.

Da ist etwa der von ihm wenig geschätzte "Schauatmer", der seinen nackten Oberkörper am offenen Fenster stets zur gleichen Zeit präsentiert, die "Gymnastikerin", die er gerne vor dem Spiegel bei ihren Leibesübungen beobachtet, die "Unregelmäßige", die zu seinem Ärger einfach keinen festen Rhythmus in ihren Tagesablauf bringt, oder auch die beiden jungen Männer, die stundenlang reglos vor dem Computer sitzen und keinen Hinweis darauf geben, ob es sich bei ihnen um Börsenmakler, Studenten oder Spieler handelt.

Sie alle beobachtet er genauestens und notiert die Ergebnisse in eigens angefertigten Dossiers, die ihm als Grundlage für die Lebensläufe dienen, die er sich für die Unbekannten zusammen fantasiert. Dabei fühlt sich Plaschinski keineswegs als Voyeur - im Gegenteil. Er rechtfertigt sein Tun vielmehr mit einer höheren Verpflichtung, die er gegenüber der Gesellschaft empfindet: "Ohne Beobachtung und Auswertung der Erkenntnisse ist der Wohlfahrtsstaat nun einmal nicht zu haben. Im Büro sind mir die Hände gebunden. Erwerbsbiografien und der dazugehörige Verdienst, das ist alles, aber wenn ich an meinem Küchentisch sitze, kann man mir keine Vorschriften machen."

Dass er ansonsten nichts, aber auch gar nichts mit der ihn umgebenden Gesellschaft zu tun hat, fällt dem Sonderling bei seiner Argumentation ironischer Weise nicht auf. Doch Wonneberger stellt seinen Anti-Helden Plaschinski keineswegs schablonenhaft als wildgewordenen Beamten dar, der seine kontrollierende Tätigkeit zwanghaft im Alltag fortsetzt. So wenig einnehmend Plaschinski durch sein Spannertum auch auf den Leser wirkt, so unwillkürlich empfindet man dennoch im Lauf des Buches ein Quantum Mitleid mit ihm, bietet sein Leben doch solch einen eklatanten Mangel an Höhen und Tiefen, dass das Beobachten der Nachbarn offenkundig die einzige armselige Freude darstellt, die er überhaupt empfindet. "Das wenige, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, habe ich an meinem Fenster erlebt."

Ironischerweise merkt Plaschinski selbst nicht einmal mehr, dass es sich dabei nicht um ein wirkliches "Er-Leben" handelt, sondern eben um eine auf das Zuschauen reduzierte Existenz, in der die Aktivitäten anderer den Ersatz darstellen für das, was in seinem eigenen Dasein fehlt. Dabei sorgt Wonneberg mit einem guten Schuss trockenen Humors dafür, dass das Mitleid am Ende nicht Überhand nimmt. Schließlich ist Plaschinskis Isolation nicht das Resultat schrecklicher Umstände oder schicksalhafter Verstrickungen, sondern letztendlich selbstverschuldet und selbst gewählt: Ohne Gegenwehr ergibt er sich der übergriffigen Fürsorge der Mutter, dem Verlassenwerden von der Freundin und den Pausengesprächen der nervenden Kollegen und zieht sich in seinen Kokon als unbeteiligter Beobachter zurück. Sogar als er zarte Bande zur neuen Kollegin Anne-Sophie knüpft, ist dies kein Signal für eine Veränderung und somit für ein erleichtertes Durchatmen des Lesers, der den Protagonisten gerne aus seiner Gleichmut erwachen sähe. Auch in seinen Annäherungsversuchen und der beginnenden Beziehung spult Plaschinski nur vorgegebene Muster ab, ohne echtes emotionales Engagement zu zeigen.

Besonders deutlich wird die Passivität des Protagonisten in seiner Begegnung mit einer Gruppe Rechtsradikaler, als er vorübergehend in der Provinz zum Außendienst abkommandiert wird. Obwohl er in der Dorfkneipe nur durch den Mut eines Einzelnen vor pöbelnden Neonazis gerettet wird, interessiert ihn die massive rechtsradikale Propaganda auf den Schulhöfen Dresdens nur insoweit, als sie seinen Spekulationen zum neuen Mieter im Haus gegenüber Vorschub leistet, in dem er seinen Retter aus dem Dorf wieder zu erkennen glaubt.

Ob Faulheit, Ignoranz oder übergroße Lebensangst die Beweggründe dafür sind, dass Plaschinski lieber davon träumt, wie im Hitchcock-Klassiker "Das Fenster zum Hof" als unbeteiligter Zeuge echte Dramen frei Haus geliefert zu bekommen, als sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen, überlässt Wonneberger der Entscheidung des Lesers. Auf jeden Fall beschleicht einen bei der Lektüre das beklemmende Gefühl, dass weitaus mehr Menschen das Leben als Zuschauersport betreiben könnten, als man gemeinhin annimmt.


Titelbild

Jens Wonneberger: Gegenüber brennt noch Licht. Roman.
Steidl Verlag, Göttingen 2008.
232 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783865217783

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