Wie heißen halbe Sekunden?

Sibylle Bergs "Amerika"-Roman

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheim gegeben" - August von Platens Gedichtzeilen dienten als Erkennungswort der Jahrhundertwende und ihres Stils, als die Kunst den Schwung des Jugendstils, die kühn-technischen Eisenkonstruktionen, die Ästhetik des Hässlichen, die plüschige Historismus-Schwüle und die Krudität naturalistischer Dramenwelten nebeneinander produzierte: Fin de siècle.

"Millenium" dagegen, welch ein Käse! Das Leben vor tausend Jahren schwebt uns nur als Chimäre oder Märchen vor. Die Menschen von 1899 dagegen, ihre Hoffnungen und Ängste bei Anbruch des Zwanzigsten Jahrhunderts, stehen uns nah. Probleme, die sie bewegten, die sie produzierten, bewegen uns - ungelöst - noch heute.

Gibt es gerade wieder einen Stil der Jahrhundertwende? Und wer gehörte wohl zu den Fin de siècle-Poeten der 90-er Jahre des 20. Jahrhunderts? Für den deutschen Sprachraum wird man Sibylle Berg zweifellos dazurechnen. Das pelzverbrämte, lange, schwarze schulterfreie Kleid, die doppelreihige Perlenkette, das vierreihige Perlenarmband, das mondäne Ambiente nebst Dogge auf dem Titel, könnten schon als Hinweis gelesen werden. Geborgter Glanz vergangener Epochen und ananchronistische Zeichen des Luxus werden da zitiert, Weichzeichner und Gitterfilter steigern die Stilisierung ins Überdeutliche. Das Umschlagbild dient keineswegs der Werbung allein, es spiegelt sehr genau das Thema des Romans: Überfluss, Ruhm, Schönheit und der Traum vom Glück; dann die Leere, die Enttäuschung, der Einspruch des Körpers. Sowie die Frage, was all das mit Liebe zu tun hat.

Das Glück suchen in diesem Roman eine Menge Leute: Anna, Bert, Karla, Raul (dazu Rolf, Rudi, Toni und Maria). Nur Gott und Frau Berg selbst halten sich meist heraus, mischen sich dann und wann kommentierend ein.

Wie so oft bei großer Literatur, klingt die Handlung von "Amerika" banal. Bert liebt Maria, ist aber so häßlich, daß er nur in einer kosmetischen Operation Rettung sieht; sie gelingt auf schrecklich unerwartete Weise. Karla ist schön. Sie schafft den Sprung von der bekannten Schauspielerin in Europa nach "El Ej", wie man als Eingeweihter das urbane Krebsgeschwür am Pazifik zu nennen hat. Sie bekommt einen Agenten, Filmrollen, doch sehr bald nur noch Absagen. Ein Abstieg beginnt, bei dem die Rückkehr in die Heimat zwar erlöst von Drogen, Porno und Prostitution, doch nicht von der quälend-unerträglichen Wunde der Niederlage. Raul ist überirdisch schön und "irre kreativ"; Mann und Frau und Tier verlieben sich in ihn. Er benötigt, arbeitet er als Callboy, Luxuskataloge, um eine Erektion zu erzielen; sein Lieblingsbuch ist ein Atlas der Gerichtsmedizin.

"Amerika" scheint Sibylle Bergs Image zu bestätigen. Mit "Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot", mit dem Roman "Sex II" und der Kolummne im "Zeit-Magazin" erwarb sie sich den Ruf als "Tarantino der deutschen Literatur", als "Queen des Trash". Gut gemeinte und doch hilflose, rein inhaltszentrierte Vokabeln. Zu einfach macht man es sich, die heillos häßliche, die harmvolle Welt ihrer Bücher der Autorin zuzuschreiben, als wären nicht wir ein Teil und Produzenten des "Trash".

Bei Berg "müssen Körper Flagge zeigen" (Gernhardt), Körper aus Fleisch und Blut, deformiert, mißachtet, vergöttert. Sie illustriert eindringlich die verhängnisvoll eng verknüpften Tendenzen Ende des 20. Jahrhunderts: zunehmende Abstraktion der Lebensverhältnisse und gleichzeitig unüberwindbare Körperlichkeit. Dereinst reimte in christlicher Jenseitslust Angelus Silesius "Dein bester Freund, dein Leib, der ist dein ärgster Feind, er bind't und hält dich auf: dein bester Freund, so gut er's immer meint!" Dem Menschen der 90-er wurde der Körper zum Hindernis, inkompatibel den Anforderungen der Medienwelt.

Dennoch ist "Amerika" das Gegenteil eines Thesenromans. Welch Sprachchampagner! Es gibt barocken Sprachfuror - Verdammung von Welt und Mensch und Gott in seltener Eindringlichkeit. Die Kraft der Sätze, ihr Rhythmus, ihre Dymanik und die Fülle ihrer Variationen und Töne bezaubert, und die traditionelle Metapher von der Stimme des Buches ist zu erweitern auf die Stimmenvielfalt. Gott spricht, ein Haus, ein Laternenpfahl. Die Figuren dagegen werden gesprochen. Sie reproduzieren Klischees, denken in Filmbildern und Werbespots - am deutlichsten erkennbar im Schlußteil des Romans, in dem Anna, Bert, Raul Traumerfüllung zuteil wird: Lottowerbungsglück, Softpornoidyllen, Trivialparadiese erleben sie.

Kühl steht die Erzählerin ihrem Personal nicht gegenüber. Mitleid, Häme, Härte hält sie für ihre Geschöpfe bereit. Vielleicht ist dies Sibylle Bergs größte Leistung, dem lang verpönten Pathos in modernisierter Form wieder eine Stimme zu geben, der ins Souterrain der Buchwelt verbannten Leidenschaft, auf die keine Literatur langfristig, ohne Schaden zu nehmen, verzichten kann. Nicht alleine Ironie macht die großen Worte erträglich. Kurze Sätze, Fibelsätze von kindlicher Intensität, dann wieder vielzeilige, widerspenstige Konstruktionen, dazu extreme Stilmischungen und die kleinteilige Gesamtkomposition mit den vielen Zwischenüberschriften schaffen Freiraum für gewagten Gefühlsausdruck.

Obwohl Sibylle Berg so viel Heterogenes aufbietet und rein episodisch erzählt, zerfällt "Amerika" nicht, sondern nimmt den Leser auf in eine Sprachwelt ureigner Prägung, in der dem Häßlichen wie dem Schönen Aufmerksamkeit geschenkt und noch das kleinste Unbenannte bedacht wird: "Wie heißen halbe Sekunden?"

Titelbild

Sibylle Berg: Amerika.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1999.
238 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3455003273
ISBN-13: 9783455003277

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch