Flucht vor der mordenden Sekte

Hansjörg Schertenleibs Roman "Die Namenlosen"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser Roman eignet sich nicht für feingeistige und zartbesaitete Gemüter, denn die Brutalität an Körper und Seele spielt eine ganz fundamentale Rolle. Eine fanatische Sekte mit einem guruähnlichen Anführer startet einen blutrünstigen Rachefeldzug gegen kirchliche Würdenträger.

Mitten drin befindet sich die 40-jährige Christa Notter, die sich als Opfer der Kirche sieht und irgendwann an einen Scheideweg gerät. In der Kindheit wurde sie von ihrer frommen Mutter sträflich vernachlässigt, ein Pfarrer hat sie belästigt, und von einem Vikar bekam sie als 16-jährige ein Kind, das ihr auf Weisung der Kirche gleich bei der Geburt weggenommen und zur Adoption freigegeben wurde.

Diese prägend-traumatischen Erlebnisse aus Christas Leben, die letztlich auch zu ihrem Beitritt in die Sekte der "Namenlosen" geführt haben, führt der Schweizer Autor Hansjörg Schertenleib peu à peu in den Roman ein. Wie kleine Mosaiksteinchen fügen sich dadurch Christas Hass-Motive aneinander.

Nach einem selbst verübten Mord und mehreren Beteiligungen an scheußlichen Gewalttaten will Christa aussteigen - sie hat den Glauben an die von der Sekte gepriesenen Losungen "Erlösung, Gemeinschaft, Verzückung" verloren. Doch ein solcher Schritt ist in der von Guru Fisnish autoritär geführten Sekte, die in ihrer hierarchischen Struktur an die Amtskirche erinnert, nicht vorgesehen und gilt als Verrat.

Christa hat sich nach Irland zurückgezogen und schreibt einen Brief an ihre mittlerweile 24-jährige Tochter Bernadette - eine Lebensbeichte. Inzwischen hatte sie den Kleinkünstler Erich kennen gelernt, der ihr bei der Flucht vor der Sekte Hilfestellung leisten will.

Diese selbstentblößenden und schonungslosen Briefpassagen, die schon optisch durch den Kursivdruck ins Auge springen, bestechen durch die Radikalität des Tonfalls und das große Einfühlungsvermögen des Autors in die Psyche seiner von Todesängsten geplagten Protagonistin.

Hier gelingt Schertenleib eine immense sprachliche Nähe, ein intimer und gleichzeitig präziser Einblick in Christas aufgewühltes Innenleben. In den rein deskriptiven Erzählsequenzen gestattet sich der 43-jährige Autor hingegen eine wohltuende Distanz und verhindert dadurch, dass der erhobene Zeigefinger allzu deutlich wird.

Nur ein wirklich guter Autor erreicht es, dass der Leser mitfühlt, dass er glaubt, Christas peinigende Qualen am eigenen Leib zu spüren und doch gleichzeitig zu wissen, dass es für sie kein gutes Ende geben kann. Es ist nicht die Wahl des aktuellen Sekten-Themas und die Frage nach etwaigen "moralischen Verfehlungen" der Amtskirche, die diesen Roman zu einem literarischen Ereignis machen; es ist primär die innere Zerrissenheit, die bewegte und bewegende Biografie der Hauptfigur, die sich schuldig gemacht hat und doch selbst Opfer war, der aber der Weg zurück in die Normalität versagt bleibt. Eine schreckliche Variation des Schuld-und-Sühne-Motivs.

Mit seinen handwerklich solide gebauten, aber bisweilen doch etwas biederen Vorgängerwerken "Der Antiquar" (1991) und "Das Zimmer der Signora" (1996) hat Schertenleib viel beachtete Gesellenstücke vorgelegt. Mit "Die Namenlosen" hat er seine Meisterprüfung bestanden.

Titelbild

Hansjörg Schertenleib: Die Namenlosen.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000.
316 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3462028936

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