Stadtmaus, Feldmaus und nichts dazwischen?

Ein von Dieter Burdorf und Stefan Matuschek herausgegebener Sammelband geht Vorstellungen von Provinzialismus und Urbanität in der Literatur nach

Von Christiane NowakRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christiane Nowak

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Mitte der 1980er-Jahre spricht man von einer Renaissance des Raumbegriffs in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Einem geradezu klassischen Thema dieses "spatial turn" widmet sich der vorliegende Sammelband "Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität in der Literatur", herausgegeben von Dieter Burdorf und Stefan Matuschek aus Anlass des 65. Geburtstages von Gerhard R. Kaiser.

Den Herausgebern geht es allerdings nicht um eine theoretische und kulturwissenschaftliche Reflexion des Topos "Provinz und Metropole", sondern konzentriert auf die Literaturwissenschaft und etwas vage - wie in der relativ knapp ausgefallenen Einleitung bemerkt wird - um "Wechselwirkungen, in denen reale Lebensverhältnisse und Literatur die Vorstellungen von Provinzialität und Urbanität bilden". Nicht Texte über die Provinz oder über die Metropole, sondern literarische Zeugnisse, in denen beide Pole zusammengedacht werden, stehen im Zentrum des Interesses.

Die versammelten Beiträge sollen zwar zeigen, "wie die Literatur durch provinzielle und städtische Entstehungsorte geprägt wird" und "wie sie ihrerseits diese Orte als Lebensräume deutet", eine zusammenfassende Reflexion über Verbindungen des auf das kulturelle Leben bezogenen Begriffspaares "Metropole und Provinz" zu lebensräumlichen parallelen Konzepten wie "Stadt und Land" oder "Zentrum und Peripherie" findet jedoch nicht statt. Einige Autoren nehmen diese Leerstelle auf und schalten ihren Beiträgen Überlegungen zur Begriffsgeschichte vor. Besonders der Beitrag von Wolfgang Braungart versucht deutlich zu machen, wo die kulturellen Wurzeln des Gegensatzes von Stadt und Land (nicht von Provinz und Metropole) liegen und wie das für die Diskussion zentrale Konzept der Urbanität entstanden ist. Klar tritt in diesem programmatischen Artikel mit dem Titel "Die Stadtmaus, die Feldmaus und die Freuden der Kunst" auch die Rolle der Literatur in der Konstruktion der Gegensätze als sinnliche Vergegenwärtigung hervor.

Dieser Beitrag und die Einleitung der Herausgeber geben für die weiteren Artikel jedoch ein relativ strenges begriffliches Korsett vor: Sie gehen davon aus, dass das Begriffspaar Metropole und Provinz immer als Dichotomie organisiert ist. Diese polare Sichtweise gipfelt in der Aussage der Einleitung: "Menschen sind keine Klein-, Mittel- Groß- oder Riesenstädter; sie sind provinziell oder urban." Einige Beiträge passen deshalb gut in das Korsett, andere Artikel jedoch so wenig, dass sie ihrem Gegenstand ein wenig Gewalt antun müssen, indem sie den vorgegebenen Rahmen übernehmen. Wieder andere brechen die Polarität glücklicherweise auf.

Stefan Matuschek beispielsweise kann in seinem Beitrag überzeugend darlegen, wie in der Frühromantik der Gegensatz von Provinz und Metropole sich in literarischen Debatten äußert. Er stellt fest, dass die Zeitschrift "Athenaeum" ein "Ergebnis kleinstädtischer Akademikerkultur" ist und dass in der Zeit um 1800 "Großstadtwahrnehmung und Großstadtbewusstsein mit intellektuell-ästhetischer Rückständigkeit und Borniertheit" zusammen gehen. Damit zeigt der Autor auf, welche Phänomene mit dem Begriffspaar "Provinz und Metropole" am besten erfasst sind: Bewusstseinszustände und kulturelle Werte wie Geselligkeit, Offenheit, Reputation und Prestige. In Matuscheks Beitrag wird auch deutlich, dass diese Bewusstseinszustände zwar unabhängig von Orten funktionieren können, dass sie aber auch von gesellschaftlichen und räumlichen Faktoren beeinflusst werden. Die Berliner Salonkultur brachte andere Haltungen hervor als das akademisch geprägte überschaubare Jenaer Gesellschaftsleben. Sowohl an Matuscheks Analyse als auch an den Beiträgen von Gerhard Kurz, der in Georg Büchners Drama "Dantons Tod" Bezüge auf einen lokalen Adressatenkreis findet und damit eine direkte Verarbeitung revolutionärer, regionaler Diskurse feststellt, und von Conrad Wiedemann, der die Konstruktion Weimars als geistiges Zentrum, wie sie vor allem Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller betrieben haben, und die Verortung dieses eigentlich unbedeutenden Ortes ("lieu du génie ohne génie du lieu") in Deutschland beschreibt, wird die Relevanz regionaler Kontexte für das Verständnis von Literatur deutlich. Die Beiträge von Kurz und Wiedemann illustrieren auf sehr anschauliche Art und Weise den im Untertitel des Bandes genannten Begriff des Regionalismus als Auseinandersetzung der Literatur mit ihren regionalen Bedingungen und deren Rückwirkungen auf eine regionale Identitätskonstruktion. Matuschek hingegen - wie einige andere Autoren des Bandes auch - nimmt die von Wolfgang Braungart vorgeschlagene Konzeptualisierung von Urbanität als Stil auf und legt die in der Geschichte des Topos "Provinz und Metropole" immer wieder relevante Verbindung von Ironie und Urbanität dar. In dieser Betrachtung von Urbanität als Stil sind die Beiträge des Sammelbandes dann doch nicht so weit von einem "spatial turn" entfernt, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat.

Die Grenzen einer strikt polaren Herangehensweise an das Feld "Provinz und Metropole", wie sie in der Einleitung vorgeschlagen wird, treten am Beitrag von Dirk Oschmann, der in seinem Artikel literarische Berlinangriffe und -verteidigungen am Ende der Weimarer Republik zusammenfasst, am deutlichsten hervor. Er skizziert die Hintergründe und Inhalte der von Wilhelm Stapel 1930 ausgegeben Parole vom "Aufstand der Landschaft gegen Berlin" - so auch der Titel des Beitrags - sowie die dadurch ausgelöste Debatte. Laut Untertitel möchte der Autor einen Beitrag zur Aufzeichnung einer "geistigen Topographie" am Ende der Weimarer Republik leisten. Eine solche Topografie fällt bei Oschmann dann aber relativ einseitig und begrenzt aus: Im Zentrum seiner Darstellung stehen Berlin-Angriffe konservativer Autoren wie Hermann Ullmann und Wilhelm Stapel, die in elitären Zeitschriften im Westen des Landes publizierten. Schon die Übernahme der Kategorisierung, Berlin sei eine "Stadt im Nordosten Deutschlands", schließt Positionen aus östlich von Berlin gelegenen Gebieten aus. Eine Reflexion der Standpunkte der zitierten Autoren - auch geografisch gesehen - dürfte aber für eine Darstellung der in der Weimarer Republik zweifellos zentralen literarischen Debatte unabdingbar sein. Oschmann resümiert seine Untersuchung folgendermaßen: "Und recht besehen zeigt sich im Konflikt zwischen der Landschaft und Berlin ein grundsätzlicher Streit um Werte und Leitbilder, hier die der Gemeinschaft, dort die des Einzelnen. Dabei lässt sich regelrecht eine Wertetafel aufstellen. Die Repräsentanten der Landschaft treten im Namen der kollektiven Werte der Gemeinschaft für das Alte ein, für die tiefe Verwurzelung in der mit Luther, Goethe und Kant umrissenen Tradition, für Gefühl, Wärme, Tiefe und das Geheimnisvolle".

Mit einer solchen absoluten und umfassenden Wertetafel werden jedoch wichtige Differenzen verwischt, was sich schon im Lauf der Argumentation Oschmanns in der allzu knappen Einordnung Ernst Blochs als Theoretiker der Landschaft zeigt. Bloch bewegte sich trotz seiner Zugehörigkeit zur Avantgarde mit großem Interesse und Sympathie in regionalen Kontexten. Und auch für viele andere so genannte Avantgarde-Autoren ist inzwischen nachgewiesen, dass sie sich für oberflächlich dem konservativen Spektrum zuzuordnende Kategorien oder Phänomene interessierten. Oschmanns Beitrag lässt den in der Moderne-Forschung längst etablierten Blick für verborgene Verwandtschaften von vordergründigen Polaritäten vermissen.

Anders der Beitrag von Gottfried Willems. Er bricht in seiner Analyse des Romans "Ein hinreissender Schrotthändler" von Arnold Stadler, der er einen Gang durch die Entwicklung der Dichotomie von Stadt und Land seit dem 18. Jahrhundert voranstellt, das Korsett des Polaritätsschemas von Provinz und Metropole auf. Der Jenaer Literaturwissenschaftler zeigt mit seinem Vorschlag, das polare Schema in eine Trichotomie von Stadt - Land - Globus umzuwandeln, einen fruchtbaren Ansatz auf, wie die Verknüpfung von Lebenswelten und Literatur besser zu erfassen ist. Erstaunlich und diskussionswürdig ist sein Befund in Bezug auf Stadlers Roman und die Gegenwartsliteratur: "So entstand ein eigentümliches Bild von einem neuen, modernen ,mal du pays' als einem autochton ländlichen Übelstand, das sich angesichts der Entwicklung der modernen Großstadt kaum noch auf Gegenbilder von Urbanität beziehen mochte."

Einen anderen Ausbruchsversuch aus dem Korsett der Herausgeber unternimmt Wolfgang G. Müller mit seiner Analyse des Romans "Cranford" von Elizabeth Gaskell von 1853. Der Roman zeigt mit Ironie und ohne moralische Didaxe ein von Frauen dominiertes Kleinstadtmilieu in der Nähe einer Großstadt. Der Interpret macht deutlich, wie abhängig die vordergründig getrennten Lebenswelten von Großstadt und Kleinstadt sind, so dass die englische Kleinstadt kaum als provinziell bezeichnet werden kann. Anhand dieses Beitrags lässt sich schließlich eine Stärke des Bandes zu "Provinz und Metropole" hervorheben: Im komparatistischen Ansatz wird das starre deutsche Interpretationsmuster von Stadt und Land aufgebrochen und relativiert. Es wird deutlich, dass nicht nur in der deutschen Literatur das Spannungsfeld zwischen verschiedenen Lebenswelten eine wichtige Rolle spielt, dass in anderen Kulturen aber ein entspannter und humoristischer Umgang mit dem Thema gefunden wurde.

So nimmt der Band ein in zahlreichen Arbeiten zum Verhältnis von Raum und Literatur durchscheinendes, aber selten systematisch bearbeitetes Feld auf und bietet zum überwiegenden Teil fruchtbare Einzelstudien. Eine überzeugende theoretische Durchdringung wie ein Anschluss an kulturwissenschaftliche Debatten des Topos "Provinz und Metropole" ist damit zwar noch nicht geleistet - das Format der Festschrift ist hierfür auch wenig geeignet -, aber der Band kann wichtige Perspektiven aufzeigen und zahlreiche Anregungen geben.


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Dieter Burdorf / Stefan Matuschek (Hg.): Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität in der Literatur.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2008.
420 Seiten, 55,00 EUR.
ISBN-13: 9783825354299

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