Körperpolitik

Anne Fleigs Studie "Körperkultur und Moderne" thematisiert Robert Musils Sportessays

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

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Die enge Verbindung der Modernisierung mit der Entwicklung des Sports als Körpertechnik einerseits und Massenunterhaltung andererseits dürfte mittlerweile zumindest so etwas wie ein intuitives Allgemeingut geworden sein. Wie in vielen anderen Bereichen der modernen Kultur erweisen sich die 1920er-Jahre auch darin als Schwellenzeit. Sport wird in diesen Jahren Teil der Alltagskultur. Allerdings ist das Phänomen noch so neu, dass es - wie Anne Fleig in ihrer Studie mitteilt - noch als Mode begriffen wird, seine Vergänglichkeit also vorausgesetzt wird.

Das Phänomen und seine Ausformung legten es natürlich nahe, es als Gegenstand der essayistischen Reflexion zu behandeln, und so sind auch von Robert Musil, neben Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer oder Ernst Bloch Texte zum Sport als angemessene Ausdrucksform moderner Lebenswelt überliefert und immer wieder diskutiert worden. Die Beliebtheit des Themas rekurriert auf die Distanz des alltagskulturellen Phänomens Sport zur Hochkultur, die in großen Teilen eine Synchronisierung mit der gesellschaftlichen Modernisierung verweigert hat. Diese Operation dient nicht zuletzt der Abgrenzung der kulturellen Elite von den neuen und sich schnell ausweitenden Gruppen, die von den Konjunkturen der Massen- und Konsumkultur wie der neuen Medien erzeugt wurden und sie zugleich nutzten, um sich - von ihnen mitgezogen - in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu platzieren. Das aber macht noch keine Angaben darüber, welchen Charakter die Sportessays haben. Und gerade darauf richtet Fleig ihre Aufmerksamkeit.

Fleig begreift Sport als "Paradigma ästhetischer und technischer Modernität": "Um die Jahrhundertwende bildet der Sport neben industrieller Arbeit und militärischem Dienst einen dritten Bereich körperlicher Betätigung, die wissenschaftlicher Beobachtung relativ leicht zugänglich war." Industrialisierung und Individualisierung rücken den Körper der Individuen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, was darauf verweist, dass die Körperorientierung der 1980er- und 1990er-Jahre diese Entwicklung nicht beginnt, sondern fortsetzt. Sport als Phänomen verweist darauf, dass nicht nur das Subjekt, sondern auch sein Körper der Modernisierung unterworfen ist - ganz gegen Benjamins Diktum im großen Erzähleraufsatz von 1936, dass nach dem Großen Krieg der nackte Körper und der Himmel über ihm das einzige sei, was unverändert geblieben sei. Ganz im Gegenteil, gerade der Körper erfährt im Modernisierungsprozess große Aufmerksamkeit und wird einer Reihe von Modulierungsmaßnahmen unterworfen (und der Himmel ist hier nicht Thema).

Und das mit gutem Grund: Der Körper, seine Leistungsfähigkeit, seine Belastbarkeit und Formbarkeit ziehen die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich, weil seine militärische und ökonomische Nutzung im Prozess der Industrialisierung und Ökonomisierung von großer Bedeutung ist. Das korrespondiert mit der Behauptung der Selbstbestimmung des Subjekts, das als regulierende Instanz im Prozess der Individualisierung als eine seiner Aufgaben die Modulierung und Zurichtung des eigenen Körpers zugewiesen erhält. Das erzeugt eine paradoxe Situation. Der menschliche Körper wird analysiert, weil das Militär wie die entstehende Industrie ihn unter Vernachlässigung des Subjekts und seiner Selbstbestimmung einsetzen. Weil damit das (freilich arg fragile) Subjekt bedrängt wird, es zugleich auch als wählende Instanz etabliert wird, sind Körper und Sport aber auch für den Einzelnen zentral - unabhängig davon, dass seine bewusste Existenz davon abhängt.

In diesem Zusammenhang steht die Entwicklung der sogenannten "Psychotechnik", in der das Verhalten der Einzelnen steuerbar gemacht werden soll. Die bekanntesten technisch-ökonomisch Umsetzungen sind wohl bis heute der Taylorismus und die Ford'sche Fließbandproduktion. Aber die Bemühungen im Prozess der Integration der Individuen in die ökonomischen, technischen und eben auch militärischen institutionalisierten Systeme gehen weit darüber hinaus.

Das aber ist einem aufmerksamen Beobachter wie Musil, der seinerseits im militärischen Analyseprozess involviert war, wie Fleig betont, nicht entgangen. Der "enge[] Zusammenhang von Sport und Wissenschaften, Technik und moderner Kultur" prägt Musils Sportauffassung, wie er darüber hinaus Wahrnehmung paradigmatisch formt. Musil entwickelt so eine eigene Ästhetik des Sports, die, laut Fleig, darum kreise, "der Moderne unter ihren eigenen Bedingungen zu entkommen". Sport könne als ästhetische Erfahrung zur Auflösung der "Normalbeziehung zwischen Ich und Welt" führen, da ihm das Potential zumindest des ekstatischen Moments, des "anderen Zustands", das des geglückten Augenblicks innewohne. Damit aber kommt Fleig an das Paradox des modernen Massensports heran, nämlich Ausdruck der modernen Gesellschaft und ihrer Friktionen, Segmentierungen, ihrer Rationalisierung und Ökonomisierung zu sein, zugleich aber im geglückten Moment all diese Defizite zeitweise aufzuheben. In diesem Sinne ist Musils Sportverständnis nicht nur reine Apologetik der Moderne, sondern verweist hellsichtig darauf, wie über sie hinausgehend eine (vermeintlich) verloren gegangene Totalität der Wahrnehmung und Existenz erreicht werden kann. Nicht die Verweigerung der Moderne, sondern ihre Akzeptanz, kennzeichnet Musils Position in der Gemengelage der 1920er- und frühen 1930er- Jahre. Allerdings verzichtet er nicht auf den Anspruch, sie zugleich überwinden zu wollen.

Fleig betreibt ihre Argumentation in drei großen Schritten: Im ersten beschreibt sie den engen Zusammenhang von Wissenschaft, Technik, Sport und Kultur, wie er sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts darstellt. Militär-, sport- und arbeitswissenschaftliche Quellen werden dabei ebenso ausgewertet wie der avantgardistische Sportdiskurs in den 1920er-Jahren (den sie exemplarisch über die Auswertung des "Querschnitt" zu fassen sucht). Im nächsten Schritt arbeitet sie aus Musils Sportessays (vor allem "Als Papa Tennis lernte", 1931, "Kunst und Moral des Crawlens", 1932) zum einen eine Kulturgeschichte des Sports, zum anderen eine exemplarische Analyse der Bewegung heraus, die auf Effizienz hin ausgerichtet wird. Musil bewege sich damit immer auf den drei Ebenen von "Kulturkritik, Körpertechnik und Ästhetik". Der Bedeutungswandel des Sports wird damit an die Entwicklung der modernen Gesellschaft angeschlossen. Zugleich fokussiert Musil offensichtlich auf das "Zusammenspiel von Rationalität und Hingabe, von Training und unbewusstem Erleben", das es erst möglich macht, den Sport (mit Verweis auf Georg Simmel) als "Muster ästhetischer Selbstreflexion" zu bestimmen. In einem letzten Schritt überträgt Fleig ihren Ansatz auf Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften". Hier vermerkt die Autorin, die Funktion des Sports für die Konstruktion der als defizitär verstandenen Männlichkeit des Protagonisten Ulrich. Das darf allerdings nicht als solitäres, sondern als allgemeines Problem der Geschlechtermarkierung und -konstruktion im 20. Jahrhundert verstanden werden: Ulrichs Männlichkeit ist damit notwendig "vorgespiegelt" und "gespielt", da die Selbstverständlichkeit geschlechtsspezifischer Rollenbilder (die ihrerseits eine historische Konstruktion sind) verloren gegangen ist. Die darauf aufsetzenden Rollenbilder wie die des Dandys und des Boxers fügen sich denn auch in ein Repertoire von auswechselbaren Haltungs- und Verhaltensschemata ein, die einhergehen mit der Segmentierung der gesellschaftlichen Realität. Fleig attestiert allerdings, dass die "Maske des Sports" keine Verkleidung sei, "die je nach Situation gewechselt werden" könne, sondern "als körperbezogene Selbsttechnik vielmehr wesentlicher Bestandteil einer durch Übung und Wiederholung habitualisierten Hervorbringung von Geschlecht" sei. Das widerspricht zwar der modularen Praxis von Identität in der Moderne, kann aber als Verweis auf Musils Überlegungen bestehen.

Diese Argumentation setzt sich auf einer anderen Ebene fort, in der Ulrichs Bedeutung und Wirkung diskutiert wird: Der Geniebegriff, der über den Verweis auf das "geniale Rennpferd" demontiert wird, zeigt dieselbe Verflüchtigung essentieller Zuweisungen an, wie sie im Geschlechtskonstrukt erkennbar ist. Das korrespondiert nicht nur mit der Einsicht in die Wirkungslosigkeit individuellen Handelns, sondern geht auch mit der Erkenntnis einher, dass Realität oder wahlweise Gesellschaft in ihrer Totalität nicht mehr wahrgenommen werden kann. Damit aber lässt sich der Rückzug auf die "mystische" Qualität der sportlichen Aktivität begründen. Wenn nicht mehr Wirkung oder Erkenntnis das Ziel der individuellen Existenz sein können, dann kann die Aufhebung der Widersprüche der Moderne nur noch im subjektiven Erleben möglich sein, im geglückten Moment, im "anderen Zustand". Ein Entkommen aus der Moderne ist damit zwar nicht möglich, aber immerhin lässt sich diese Ästhetisierung des Sports als Teil eines weiten Feldes von Verarbeitungs- und Kompensationstechniken verstehen, die in der Moderne entwickelt werden, um sie lebbar zu machen. Das aber wäre der Schritt über Musils Position hinaus, wie sie Fleig präsentiert.


Titelbild

Anne Fleig: Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports.
De Gruyter, Berlin 2008.
358 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783110196436

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