Mehr Drama wagen!
Literaturdidaktiker legen eine neue Konzeption für die Dramen- und Theaterarbeit im Deutschunterricht vor
Von Torsten Mergen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseViele Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer kennen die Situation: Man besucht mit einer Schulklasse eine Theateraufführung. Vorher leistet die Lehrkraft neben der intensiven schulischen Erarbeitung der dramatischen Textvorlage umfangreiche organisatorische Planungsarbeit für die außerschulische Lernaktivität. A posteriori zeigt sich jedoch bei Befragung der Schülerinnen und Schüler, dass sich aus der Perspektive einer didaktischen Aufwand-Nutzen-Abwägung der Zeit- und Geldeinsatz kaum rechtfertigen lässt. Das anvisierte jugendliche Publikum meldet oftmals über die Aufführung kaum mehr zurück als höchst subjektiv-arbiträre Bewertungen wie "Hat uns gefallen!", "Hätten wir uns anders vorgestellt!" oder "Der Schauspieler sah aber komisch aus!"
Konsequenterweise steht die Behandlung dramatischer Texte unter einem besonderen Rechtfertigungsdruck. Der erforderliche Zeitaufwand für eine didaktisch versierte Kontextualisierung wird dabei oftmals gescheut: Die Spannung zwischen dem schulischen Lesen eines Dramas und der originären dramatischen Konzeption als szenische Realisierung bewirkt, dass die Gattung Drama oftmals im schulischen Alltag ein Schattendasein fristet.
Diesem Befund begegnen will das vorliegende Einführungswerk, welches in der renommierten Reihe "Grundlagen der Germanistik" des Berliner Erich Schmidt-Verlages, herausgegeben von Detlef Kremer, Ulrich Schmitz, Martina Wagner-Egelhaaf und Klaus-Peter Wegera, als Band 46 erschienen ist. Dem Charakter einer Einführung geschuldet ist das Vorgehen der Autoren: Sie referieren in nachvollziehbaren Schritten das nur in geringen Maßen systematisch erforschte didaktische Terrain, das in einigen Bundesländern sogar zu einem eigenen Unterrichtsfach avanciert ist - für das fachspezifische Selbstbewusstsein bezeichnend allerdings mit so unterschiedlichen Bezeichnungen wie "Darstellendes Spiel" oder "Szenisches Interpretieren".
Trotz der defizitären Situation im Feld der Drama- und Theaterdidaktik versuchen der Freiburger Literaturdidaktiker Rudolf Denk und sein Heidelberger Kollege Thomas Möbius der Arbeit mit dramatischen Texten im Deutschunterricht respektive an außerschulischen Lernorten neue Perspektiven abzuringen. Der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen liegt in einer neuen Basiskompetenz von Literaturunterricht, wie die beiden Hochschullehrer mehrfach betonen: "Das Ziel ist es, den Lernenden zum Schau-Meister zu bilden, so dass er in Inszenierungskategorien lesen und verstehen lernt. Dies befähigt ihn dazu, semiotisch-symmediale dramaturgische Konzepte in Text und Inszenierung zu erkennen, eigenständig zu analysieren und gegebenenfalls zu benutzen."
Eine wesentliche Grundlage ihrer Ausführungen bilden die lerntheoretischen Erkenntnisse und Prämissen aus dem Umfeld der sog. szenischen Interpretation. Davon ausgehend, dass die in Dramentexten sprachlich entworfenen Situationen nur "verstanden" werden können, wenn sie "in Szene gesetzt" werden, intendiert dieser Ansatz, die Polydimensionalität des Dramatischen in den Deutschunterricht zu integrieren. Ereignisse, Haltungen, Handlungen und Beziehungen der Figuren seien nicht nur darzustellen, sondern qua Imagination und Inszenierung interpretativ bewusst zu machen.
Die in sieben Kapitel gegliederte und um ein Glossar sowie ein obligatorisches Literaturverzeichnis ergänzte Darstellung, welche durch fast dreißig Abbildungen optisch komplettiert wird, annonciert bereits einführend, wen sie als Leser anvisiert: "Lehrkräfte, Lehrpersonen an Hochschulen, Lehrerbildner, interessierte Schüler und Studierende erhalten neben grundlegenden Informationen zur Dramen- und Theatergeschichte, zur Dramen- und Theateranalyse, zu grundlegenden Modellen der Dramaturgie und zu den bisherigen dramendidaktischen Konzepten eine Einführung in eine 'andere', eine werkstattorientierte Dramendidaktik."
Unter der Überschrift "Grundlegende Strukturen" werden sowohl diachrone als auch synchrone Aspekte der Schnittmengen von Drama und Theater vorgestellt. Viele bekannte Fakten und Erkenntnisse über die Geschichte des Theaters und die Entwicklung des dramatischen Genres referieren die Autoren in diesem Kapitel, beispielsweise die berühmte aristotelische Bestimmung der Tragödie oder die diversen Aufbauweisen der Theaterbühnen, beginnend bei der griechischen, über die römische, die kubische Simultanbühne in Deutschland, das so genannte Stationentheater in England oder die Shakespearebühne bis hin zum Regietheater im 20. Jahrhundert. Dabei bemühen sie sich um die Verbindung einer poetologisch orientierten Dramengeschichte mit einem "vornehmlich rezeptionsbezogenen Abriss der Theatergeschichte". Mit diesem Kapitel geben sie den Lesern das nötige Rüstzeug für eine kompetente Beschäftigung mit dem Themenkomplex an die Hand.
Für die Geschichte des Deutschunterrichts im Allgemeinen und die der Dramendidaktik im Besonderen wichtig ist die Musterung didaktischer Konzepte der Dramenvermittlung, wie sie das dritte Kapitel liefert. In diesem Zusammenhang konstatieren die Autoren einen Paradigmenwechsel in der Nachkriegszeit, der zu einer methodischen Vielfalt im Umgang mit Dramen im Unterricht und in der Hochschullehre geführt habe. Erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten werde allerdings die für jedes Drama typische "mentale Inszenierung" ernst genommen, welche auf theaterpädagogischen und handlungsorientierten Ansätzen basiere.
Im vierten Kapitel stoßen Denk und Möbius zum Kern ihres Anliegens vor - sie analysieren das Dramatische und Theatralische in didaktischer Absicht und kommen nach Untersuchung diverser Dramen zu dem Ergebnis, dass dramatische und theatralische Zeichen als miteinander verbunden zu denken seien.
Das fünfte Kapitel referiert diverse Dramaturgiemodelle und befragt diese auf ihren Erkenntniswert für die (hoch-)schulische Arbeit. Nach Musterung vielfältiger fachwissenschaftlicher Konzeptionen und aktueller dramatischer Texten bilanzieren die Autoren, dass sich die Gegenwartsdramatik noch einen Platz im Deutschunterricht "erobern" müsse. Dabei sei deren Erkenntniswert immens hoch anzusetzen: "Das [...] Ziel einer umfassenden sozusagen 'schaumeisterlichen' Kompetenz von Jugendlichen am Ende ihrer Schulzeit ist gerade durch die neue Dramatik auf dem Gegenwartstheater besonders gut zu erreichen. Man sollte Schülern mit Fragmentarisierungen, die ihrer eigenen Lebenswirklichkeit entsprechen, mit Montage, Collage und Simultaneität oder Parallelschreibweisen vertraut machen, anstatt auf Linearität als exklusive Möglichkeit einer dramatischen Schreibweise zu beharren."
Konkrete Anwendungsbeispiele für die neukonzipierte Dramendidaktik enthält das vorletzte Kapitel mit der Überschrift "Theaterwerkstatt". Diverse anregende Vermittlungskonzepte reflektieren das dargestellte theoretische Gerüst aus unterschiedlichen Perspektiven wie Figuren, Regie, Theatermacher und Regisseur sowie Schauspielertheater. An zahlreichen dramatischen Textbeispielen zeigen die Autoren Methoden, um bewusst innere und äußere Haltungen und Handlungsweisen im Kontext des Theaters zu erkennen.
Instruktiv sind die Vorschläge des siebten Kapitels zu der Frage, wie Dramaturgie-Kompetenz im Schulalltag zu bewerten sei. Der Vorschlag der Autoren lässt sich verkürzt als kriteriale Bezugsnormorientierung charakterisieren, da abschließend postuliert wird: "Als Bewertungsmodi können dabei Kriterienkataloge hilfreich sein; insbesondere bei Bewertungsobjekten aus kreativ-produktiven Verfahrensweisen sind Bewertungsformen des gemeinsamen Überarbeitens, des verstehensorientierten Gesprächs oder Portfolios geeignete Modi der unterschiedlichen Bewertungsrichtungen."
Resümierend betrachtet wird die Darstellung der beiden Literaturdidaktiker dem zentralen Ziel einer Einführung in das noch nicht in Gänze erschlossene Forschungsfeld der Dramen- und Theaterdidaktik gerecht. Es gelingt auf 232 Seiten in konziser Darstellung, dem Leser einen Eindruck von einer didaktisch versierten Methodik im Umgang mit dem Komplex "Dramatik und Theater" zu vermitteln. Daher kennzeichnet das Einführungswerk ein hoher Gebrauchswert zu Vorbereitungen auf Studienprüfungen, ferner ist die Konzeption einer "Dramen- und Theaterdidaktik" sicherlich ein Anstoß für fachdidaktische Innovationen in Studienseminaren sowie im Deutschunterricht generell.
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