Zum Verhältnis von Zeitgeschichte und Literatur
Ein von Erhard Schütz und Wolfgang Hardtwig herausgegebener Sammelband erhellt die Beziehung zwischen Fakten und Fiktionen in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur
Von Dominik Orth
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie kollektive und medial geprägte Erinnerung ist ein zentrales Paradigma kulturwissenschaftlicher Forschung und erfährt derzeit im Zuge zahlreicher Erinnerungs-Anlässe wie Mauerfall-, Grundgesetz- und Einheitsjubiläen eine erneute Phase der erhöhten Aufmerksamkeit. Durch die Konzentration auf Fragen nach den Formen kollektiver Erinnerungen oder nach den Medien des kulturellen Gedächtnisses gerät dabei oft eine zentrale Dimension in den Hintergrund: die historischen Fakten, an die erinnert wird. Wenn ein Medium wie beispielsweise die Literatur an etwas erinnern kann, dann nur, indem sie historische Tatsachen aufgreift. Doch wie und in welchen Formen können Geschichtsfakten in Literaturfiktionen transformiert werden?
Dieser Frage widmet sich der von Erhard Schütz und Wolfgang Hardtwig herausgegebene Band zur "Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945" mit einer erstaunlichen aber nachvollziehbaren Ausrichtung, die von einer Aussparung der kollektiven Erinnerungsforschung in den Kulturwissenschaften geprägt ist. Den Zusammenhang von Literatur und Zeitgeschichte würden die Herausgeber laut Klappentext gerne "loslösen vom Diskurs über Gedächtnis und Erinnerung" und sie lenken damit den Fokus auf kulturelle Mechanismen der Verarbeitung von historischen Fakten in literarischen Fiktionen. Mit dieser Fragestellung gerät nicht die Erinnerung selbst ins Zentrum, sondern zum einen der Gegenstand der Erinnerung - die Historie im Allgemeinen und in diesem konkreten Fall die Zeitgeschichte - und zum anderen mit der Konzentration auf die Literatur eines der Medien der Erinnerung. Konsequent spiegelt sich dieser Ansatz in den interdisziplinären geschichts- und literaturwissenschaftlichen Aufsätzen und nicht zuletzt in den Personen der Herausgeber selbst wider. Als Professoren für Neuere deutsche Literatur und Neuere Geschichte an der Humboldt Universität zu Berlin vertreten sie die für diese spezifische Ausrichtung der Publikation relevanten Fachdisziplinen.
Die 15 Beiträge des Bandes, die durch zwei Texte der Herausgeber eingeleitet werden, vereint die gegenstandsorientierte Auseinandersetzung mit deutschsprachigen literarischen Texten, die von der Zeitgeschichte beeinflusst sind. Dabei lassen sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen auf zwei Ebenen erkennen, die dem Anspruch des Bandes bereits implizit gerecht werden, da sie die Vielfältigkeit des Zusammenhangs von Zeitgeschichte und Literatur aufzeigen. Sowohl auf einer historischen, als auch auf einer literarischen Ebene werden in der Analyse literarischer Texte unterschiedliche Facetten der Beziehung zwischen Fakten und Fiktionen in der Nachkriegsliteratur aufgezeigt.
Auf der historischen Ebene geraten unterschiedliche Zeiträume und Phasen der Zeitgeschichte in den Blick der Beiträgerinnen und Beiträger. Der Schwerpunkt liegt dabei - was aufgrund des Titels "Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945" zunächst eher verwundert - auf der Zeit vor 1945. Doch da der Band nicht 'Zeitgeschichte nach 1945 in der Literatur' betitelt ist, haben die zahlreichen Aufsätze, die sich mit der unmittelbaren Zeit vor 1945 auseinandersetzen, ihre Berechtigung. Die Shoah und der Zweite Weltkrieg bleiben bis zur heutigen Zeit bedeutsam und formen literarische Texte generationenübergreifend. Zeitgeschichte nach 1945 wird nur vereinzelt in der Auseinandersetzung mit den Wirtschaftswunderjahren der Bundesrepublik, den 68ern, dem Terrorismus oder der Währungsunion von 1990 thematisiert. Aufgrund der thematischen Ausrichtung des Bandes verwundert es dabei, dass dem prägenden zeithistorischen Ereignis der letzten 20 Jahre - der Wende - kaum Aufmerksamkeit zuteil wird.
Die literarische Ebene konzentriert sich auf diverse Schreibformen zeitgeschichtlicher fiktionaler Literatur. Analog zur Konzentration auf die Zeit vor 1945 liegt der Schwerpunkt dabei auf den unterschiedlichen Formen der "Erinnerungsliteratur" (und spätestens in diesen Beiträgen wird deutlich, dass die intendierte Loslösung vom Erinnerungsdiskurs nur teilweise gelingen kann). Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie die Texte Erinnerungsprozesse literarisch umsetzen und diese somit reflektieren. Texte aus drei "literarische[n] Erinnerungsgenerationen" werden dabei einer Analyse unterzogen. Dies impliziert Literatur von "Primärzeugen", die Krieg und Shoah erlebt haben, von "Sekundärzeugen", die über keine eigene oder bewusste Erfahrung verfügen, aber denen eine zeitnahe Kommunikation mit Zeitzeugen möglich war und schließlich Texte der "Enkelgeneration".
Wie vielfältig Erinnerungsprozesse in Texten der zuletzt genannten Generation formal dargestellt werden, weist beispielsweise Meike Herrmann in ihrem lesenswerten Beitrag nach, indem sie Texte von Tanja Dückers, Katharina Hacker, Marcel Beyer und Thomas Lehr analysiert. Neben dieser Form zeitgeschichtlicher literarischer Fiktion wird eine weitere Schreibform thematisiert, die Björn Weyand in seinem Aufsatz als "Jetztzeitarchivalik" bezeichnet: Literatur kann Aspekte der unmittelbaren Zeitgeschichte oder der Gegenwart der Entstehungszeit literarisch 'konservieren' und somit "Spuren der Zeitgeschichte" (Silberman) archivieren, seien es Markenwaren oder das Leben in Staaten wie der DDR.
Neben dieser Erinnerungs- und 'Konservierungsliteratur', die man als Schreibformen der Vergangenheit und der Gegenwart bezeichnen könnte, werden auch Schreibformen des Kontrafaktischen in dem Band von Schütz und Hardtwig berücksichtigt. Ob Alternativgeschichte(n) vom dritten Weltkrieg aus den 1950er-Jahren oder literarisch dargestellte alternative Geschichtsverläufe über die Zeit des Nationalsozialismus oder der Wiedervereinigung: Texte dieser Art geben nicht nur Aufschluss über ihre Entstehungszeit, sondern lenken darüber hinaus unter anderem die "Aufmerksamkeit auf die Kontingenzen des Alltags".
Den Band abrundend werden neben der Literatur auch andere Medien thematisiert. So analysiert Alexandra Tacke das Comic-Drama "Adolf. Der Bonker" von Walter Moers und die Eichinger-Produktion "Der Untergang". Ihre aufschlussreichen Ausführungen münden in die These, dass der Comic im Gegensatz zum Film "[n]icht die authentische Rekonstruktion von Hitler 1945 im Bunker" als Ziel verfolge, "sondern die lange Inszenierungs- und Rezeptionsgeschichte der unterschiedlichen Hitlerbilder" in den Vordergrund stelle. Damit erreiche Moers eine Reflexionsebene, die Bruno Ganz als Hitler in Oliver Hirschbiegels Film nicht aufweise.
Der weitestgehende Verzicht auf die theoretische Fundierung des Bandes ist auffällig, muss aber nicht zwangsläufig als Mangel gelten. So hätten ausführlichere theoretische Vorüberlegungen zum kulturwissenschaftlichen Erinnerungs-Paradigma oder die Einbindung fiktionstheoretischer Überlegungen nicht geschadet, doch in der Konzentration auf die vielfältigen literarischen Texte, die analysiert werden, liegt die eigentliche Stärke des Bandes. Denn das breite Spektrum von zeitgeschichtlichen Themen einerseits und von literarischen Strategien, Zeitgeschichte in Literatur zu transformieren andererseits, wird erst durch die Konzentration auf den konkreten Gegenstand aufgezeigt. Somit handelt es sich bei "Keiner kommt davon" um einen äußerst anregenden Band, der völlig zu Recht das ins Zentrum stellt, worauf es bei der gewählten thematischen Ausrichtung ankommt: die Literatur.
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