Die beste aller Utopien

Ursula K. LeGuins Science Fiction im Spiegel von Politologie und Ethnologie

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ursula K. LeGuin zählt zwar zur crème de la crème nicht nur der feministischen Science Fiction und hat zudem eine der bekanntesten Utopien des 20. Jahrhunderts geschrieben, doch gab es bislang kaum deutschsprachige Sekundärliteratur zu ihrem umfangreichen Œuvre. Mehr als handvoll Aufsätze und Erwähnungen in den selbst nicht allzu zahlreichen Publikationen der feministischen Utopie-Forschung war kaum zu finden.

Da ist es umso verwunderlicher, dass nun plötzlich gleich zwei Monografien deutscher Sprache zu ihrem Werk erschienen sind. Hendrik Schulthe beleuchtet die "fremdvertrauten Welten" der Autorin aus ethnologischer Perspektive, und der Politologe Peter Seyferth konzentriert sich ganz auf die Utopien und utopischen Momente in LeGuins umfangreichem Science-Fiction-Œuvre.

Anders als Seyferth begrenzt Schulthe das Untersuchungskorpus auf die Romane und Erzählungen des "Hainish"-Kosmos, in dem mit "The Dispossessed" und "The Left Hand of Darkness" auch die beiden bekanntesten Utopien LeGuins angesiedelt sind. Dabei interessiert den Kulturanthropologen nicht nur, wie LeGuins Werk "kulturelle Elemente aufbereitet und behandelt", sondern mehr noch, "welche Wirkung damit bei einem typischen Rezipienten möglicherweise erzielt wird". Dass die Ergebnisse seiner Arbeit weder sonderlich fundiert noch belastbar sind, deutet er mit dieser denkbar zurückhaltenden Formulierung des Erkenntniszieles vorab schon an.

Schulthe möchte nicht, wie er allzu lax formuliert, "wiederkäuen, was Literaturwissenschaftler oder andere - seien wir offen - 'unrepräsentative' Rezipienten aus den Werken Le Guins extrahieren vermögen". Angeregt durch die Reaktionen der TeilnehmerInnen eines Volkshochschulkurses, den er zu LeGuins Science Fiction gab, spekuliert er lieber "auf möglichst solider Grundlage" über mögliche "Wirkung[en]" auf den "typischen Rezipienten". So lässt sich auch der unangenehme Arbeitsaufwand vermeiden, den eine empirische Erhebung mit sich zu bringen pflegt.

Ganz so beliebig, wie man befürchten könnte, sind die Erträge des oft schnoddrig hingeworfenen, gelegentlich aber auch mal mit einer originellen Wendung über die "an Hurramännlichkeit reiche SF-Literatur" überraschenden Buches allerdings nicht. So hat Schulthe zwar nicht, wie er meint, "belegt", dass die Lektüre LeGuins "eine intensive Auseinandersetzung mit Aspekten von Kultur und Kulturbegegnung beim Leser anregt", doch kann er diese Annahme ohne weiteres plausibilisieren.

So, wie sich Schulthe weniger für die Inhalte von LeGuins Werken als mehr für deren Rezeption interessiert, konzentriert sich Seyferth weniger auf die politische, soziale und kulturelle Ausgestaltung von LeGuins Utopien und auf die Frage, ob es sich in den dort geschilderten Gesellschaften besser leben ließe, sondern vielmehr darauf, ob es sich bei den untersuchten von LeGuin zwischen 1962 und 2002 veröffentlichten Science-Fiction-Texten überhaupt um Utopien handelt. Auch geht es ihm nicht so sehr um Figurencharakterisierungen, Plot, Handlung oder Storyline sondern vor allem um die "Gesellschaftsbeschreibungen". Neben den fiktionalen Werken zieht Seyferth auch nichtliterarische Texte LeGuins heran, sofern sie sich mit dem Thema Utopie befassen. Dies, so hält er fest, treffe jedoch "[b]ei weiten nicht" auf alle Veröffentlichungen LeGuins zu. Außerdem könnten "ganze Textgattungen von vorneherein ausgeschlossen werden: Buchbesprechungen, Kinderbücher, Heranwachsendenliteratur und Gedichtbände". Von vorneherein, das heißt doch wohl ohne Ansehen des Textes. Dem widerspricht jedoch, dass es sehr wohl Rezensionen gibt, die utopische Werke besprechen und die sich daher notweniger Weise mit Utopien befassen. Und selbstverständlich gibt es auch einschlägige Werke aller anderen genannten Textsorten und Gattungen.

Nachdem Seyferth sein Erkenntnisinteresse dargelegt hat, verwendet er viel Mühe auf die Definition des Begriffs der Utopie (und weniger auf die des Begriffs der Science Fiction). Da ist es umso bemerkenswerter, dass ihm einige, teils grundsätzliche Schnitzer unterlaufen. So ist sein Anliegen zirkelhaft, den Begriff "auf eine möglichst offene Art" zu definieren, "die alle bisherigen Utopien umfasst, alle bisherigen Nicht-Utopien ausschließt und Neuzugänge zur Menge der Utopien zulässt". Welches Kriterium außerhalb der eigenen Definition sollte denn herangezogen werden, um zu belegen, dass alle diese Utopien inkludiert und die Nichtutopien exkludiert werden? Wie zu sehen sein wird, schließt seine spätere Operationalisierung des Begriffs tatsächlich einige Texte aus, die üblicherweise den Utopien zugerechnet werden.

Wenn Seyferth weiter ausführt, seine Definition solle "weit genug gefasst sein, daß alle relevanten Varianten der Utopie darin Platz finden", so immunisiert er seine Definition zudem gegen kritische Einwände, da (utopische) Texte, die nicht unter sie fallen, schulterzuckend als irrelevant und somit als vernachlässigbar abgetan werden können. Dass Seyferth meint, wenn man sich mit dem Begriff Science Fiction befasst, habe man es "mit etwas zu tun, das in irgendeinem Verhältnis zu Wissenschaft und Literatur steht", dürfte hingegen bloßer Nachlässigkeit anzulasten sein. Seine Behauptung trifft zwar auf einen Gutteil der Science Fiction zu, aber nicht auf das Genre schlechthin, gibt es doch beispielsweise zahlreiche Science-Fiction-Filme, die ganz ohne irgendeine Beziehung zur Literatur auskommen.

Anders als Schulthe spekuliert sich Seyferth seinem Erkenntnisziel nicht entgegen, sondern untersucht die Texte anhand eines ausgefeilten Kriterienkatalogs. Zunächst unterscheidet er drei Arten relevanter Kriterien, die "stufenweise" zur Anwendung kommen: "utopiekonstitutive Kriterien", "Ausschlusskriterien" und "Kategorisierungskriterien". Alle drei sind jeweils in sich noch einmal aufgefächert. So gibt es zwei utopiekonstitutive Kriterien. Deren erstes besagt, dass die Gesellschaft eines als Utopie infrage kommenden Textes "hinreichend anders als die Ausgangsgesellschaft" sein muss, wie der Autor vage erklärt. Dem zweiten zufolge muss der Text "Missstände in der Ausgangsgesellschaft" "thematisier[en]" und "anpranger[n]".

Auf Texte, die diesen beiden utopiekonstitutiven Kriterien entsprechen, werden in einem zweiten Schritt die Ausschlusskriterien angewandt. Es sind wiederum zwei: erstens das Kriterium der "Immanenz", das verlangt, dass die beschriebene Utopie "von weltlicher Herkunft" ist und keine "Einwirkung übernatürlicher Wesen" braucht; zweitens das Kriterium der Möglichkeit, dem gemäß die Utopie "keine unmöglichen Voraussetzungen" haben darf wie etwa "Eigenschaften der Menschen, die sie real gar nicht haben, oder technische Errungenschaften, die nie erreicht werden können". Seyferth fasst dies dahingehend zusammen, dass die geschilderten Sachverhalte und Ereignisse "denkbar und in sich logisch" sein müssen. Anzumerken ist, dass diesen Kriterien zufolge einige der wichtigsten feministischen Utopien aus der Hochphase der Neuen Frauenbewegung wie etwa Monique Wittigs "Les Guérillères" (1969) oder "The Wanderground" (1979) von Sally Miller Gearhart, aus dem Utopien-Korpus ausgesiebt werden müssten. Wie Seyferth selbst darlegt, müssten sogar LeGuins im "Hainish"-Universum handelnden Romane an dieser Hürde scheitern, da es "naturwissenschaftlich Unsinn" sei, die "unüberbrückbaren räumlichen Abstände" der zur "Weltenliga" gehörenden Planeten überwinden zu können. "[A]ls Modell für ideale zwischenstaatliche Organisationen" lässt der Autor die Romane LeGuins dennoch gelten. Das leuchtet auch ein, denn schließlich sind die technischen Errungenschaften, die in LeGuins Romanen die interstellare Raumfahrt ermöglichen, nicht utopie-relevant.

Ein weiteres Ausschlusskriterium gerät Seyferth wiederum allzu vage: Werden Alienwelten beschrieben, so muss das Verhalten der Fremden "menschenähnlich genug" sein, um den Text als Utopie durchgehen zu lassen. Wenn auch nicht näher spezifiziert wird, was genau damit gemeint ist, so muss man doch annehmen, dass dieses Kriterium etliche Science-Fiction-Romane, die mit Geschlechterkategorien spielen - und etwa wie Melissa Scotts "Shadow Man" (1995) nicht weniger fünf Geschlechter kennen -, als Utopien ausschließen dürfte.

Texte, welche die Befragung anhand der utopiekonstitutiven Kriterien und der Ausschlusskriterien überstanden haben, gelten Seyferth als Utopien und werden nun nach Kategorisierungskriterien unterschieden. Es sind deren vier: Unter die Kategorie "Verwirklichungsabsicht" fallen Text, die "als Blaupause entworfen worden" sind und "möglichst exakt in die Wirklichkeit übertragen" werden sollen. Ein Text könne "so formuliert sein, daß man ihn als eine mit einem Veränderungswillen verbundenen Vorschlag einer besseren geistigen Verfassung interpretieren muß", erklärt Seyferth. (Herf. R.L.) "Auf diesem Weg können wir feststellen, ob eine literarische Utopie eine sogenannte Verwirklichungsabsicht hat. Selbst wenn die wahre Absicht der Autorin das Geldverdienen ist und die wahre Absicht der Leserin der Zeitvertreib, kann es die wahre Absicht des Textes sein, verwirklicht zu werden."

Dazu ist dreierlei anzumerken: Zunächst einmal kann kein Text so formuliert sein, dass er zu einer bestimmten Interpretation zwingt. Zum zweiten ist in literaturwissenschaftlichen Kreisen zwar lange vom "Tod des Autors" die Rede gewesen, einem Text Subjektcharakter mit der Potenz zur Intentionalität zuzusprechen, ist jedoch mehr als fragwürdig. Und drittens muss man das Zitat schon wohlmeinend interpretieren, um zu der Auffassung zu gelangen, dass Seyferth nicht meint, der Text wolle seine eigene Verwirklichung, also geschrieben werden, sondern er wolle - und das will Seyferth vermutlich tatsächlich sagen - die Verwirklichung der in ihm geschilderten Gesellschaft.

Doch zur nächsten Kategorie: der "Veränderlichkeit/Offenheit". Sie ist einschlägig, wenn das Utopia "einen oder mehrere Veränderungswillen" enthält. Ist dies der Fall, handelt es sich um eine offene Utopie, andernfalls um eine geschlossene.

Das dritte Kategorisierungskriterium ist das der "Bewertung". Wird das beschriebene Utopia als "wünschenswerte, gerechte, schöne - kurz gute Gesellschaft dargestellt", liegt ein "Eutopia" vor. "Falls dieses Kriterium nicht erfüllt wird, ist der Text eine Dystopie." Erstaunlich an dieser Unterscheidung ist, dass eine Dystopie alleine schon dann vorliegt, wenn die Kriterien der Eutopie nicht erfüllt sind, ohne dass der Begriff der Dystopie selbst anhand bestimmter, negativer Merkmale (etwa Tyrannei oder Umweltzerstörung) positiv bestimmt würde. Allerdings spricht Seyferth im weiteren von den "Schrecken der Dystopie".

Das vierte und letzte Kategorisierungskriterium ist das "Objekt der Kritik". Es unterscheidet zunächst "'[n]ormale' Utopien", die die "geistige Verfassung der Ausgangsgesellschaft" kritisieren, von "Anti-Utopien", die den "Veränderungswillen" und die "Folgen der Veränderung" kritisieren. Als dritte Unterkategorie treten "kritische Utopien" hinzu, die "literarische Utopien" kritisieren.

Soweit der Kategorienkatalog. Literaturwissenschaftliche Kategorien und Definitionen, die mit den seinen konkurrieren wie etwa die von Hans Krah in seinem Buch "Weltuntergangsszenarien und Zukunftsentwürfe" entwickelte Unterscheidung zwischen aporetisch-komplexitätsreduzierenden und apodiktisch-restriktiven Utopien diskutiert Seyferth nicht.

Bevor sich Seyferth mit dem von ihm entwickelten Instrumentarium LeGuins Science-Fiction-Texten zuwendet um zu erkunden, welche ihrer Werke "in welchem Maße" und "auf welche Art" Utopien sind, nimmt er die Stellung der Autorin, die er nicht zu Unrecht "eine der wichtigsten Autorinnen der post-dystopischen Ära des utopischen Denkens nennt", in der Geschichte der Science Fiction beziehungsweise der literarischen Utopien in den Blick. LeGuin, so Seyferth, sei "[d]ie wohl wichtigste Vertreterin" des "neueste[n] Paradigmenkandidat[en]", dem zufolge eine Utopie "ein das Individuum achtende[r], Veränderungen und Unterschiedlichkeiten zulassende[r] und selbstkritische[r] Alternativvorschlag für das menschliche Miteinander" ist, der die Lesenden "zu eigenem utopischen Denken anspornen" soll. Die Utopien der "älteren Generationen" seien hingegen entweder "perfekt" oder "schrecklich" gewesen. Generell ist das zutreffend. Doch übersieht Seyferth etwa die von Louis-Sébastien Mercier 1771 veröffentlichte Utopie "Das Jahr 2440", die in Aussicht stellt, dass die Perfektibilität von Mensch und Gesellschaft über das Handlungsjahr hinaus weiter fortschreiten wird.

LeGuins Utopien, führt Seyferth näher aus, ruhten auf den beiden "Grundlagen" Taoismus und Anarchismus. Außerdem habe sich die Autorin "[s]chon immer [...] als Feministin gefühlt". Gerade so, als sei es nur eine Frage des - typisch weiblichen? - Gefühls Feministin zu sein, nicht aber eine reflektierte Entscheidung. Oder aber Seyferth gesteht die Möglichkeit, aus guten, rationalen Gründen Feministin zu sein, zwar grundsätzlich zu, insinuiert aber, LeGuin sei eine bloße Gefühls-Feministin. Vielleicht will er aber auch sagen, LeGuin habe sich zwar stets als Feministin gefühlt, ob sie aber tatsächlich eine war beziehungsweise ist, stehe auf einem ganz anderen Blatt und sei wohl eher fraglich.

Was nun Seyferths Betrachtungen zu den einzelnen Texten LeGuins betrifft, so kann hier nur auf einige wenige herausragende Werke eingegangen werden. Immerhin hat die Schriftstellerin im Untersuchungszeitraum rund fünfzig einschlägige fiktionale Texte veröffentlicht, die von Seyferth ausnahmslos in den Blick genommen werden, was für sich genommen schon eine beträchtliche Leistung ist. Im großen und ganzen behandelt er die Werke in der Reihenfolge ihres Erscheinens. Dem soll hier gefolgt werden. Darum zunächst zu der Gender-Utopie "The Left Hand of Darkness" (1969), die Seyferth als solche nicht recht gelten lassen will. Handlungsort ist der Planet Winter, dessen Bewohner die meiste Zeit ihres Lebens kein Geschlecht ausgebildet haben. Nur an etwa vier bis fünf Tagen des Monats entwickeln sie weibliche oder männliche Geschlechtsorgane, wobei vorher weder bekannt ist, welches Geschlecht sie ausbilden werden, noch ist es immer das gleiche.

Seyferth, der in dem Roman keine Utopie erkennen mag, argumentiert hier weniger entlang des von ihm aufgestellten Kriterienkatalogs, sondern holt sich zunächst einmal zwei Seiten lang autoritative Schützenhilfe, bevor er auf ganzen zwölf Zeilen begründet, warum der Roman seinen Utopiekriterien nicht gerecht wird. So weist er etwa daraufhin, dass LeGuin selbst darlegte, der Roman sei "ziemlich eindeutig" keine Utopie, da er "keine praktikable Alternative zur zeitgenössischen Gesellschaft" biete. Denn er basiere auf einer "radikalen Veränderung der menschlichen Anatomie".

Das erklärte LeGuin 1976. Heute, mehr als dreißig Jahre später, sind solche anatomische Veränderungen allerdings lange nicht mehr so unmöglich wie seinerzeit. Nach seiner Bezugnahme auf LeGuins Selbstaussage versäumt Seyferth nicht anzumerken, auch die "Sekundärliteratur" sei sich darüber "einig", "daß 'The Left Hand of Darkness' keine Utopie ist." Das ist zwar schnell behauptet, darum aber noch nicht richtig. Verwiesen sei nur auf die renommierte Politologin Barbara Holland-Cunz, die in ihrer grundlegenden Untersuchung "Utopien der Neuen Frauenbewegung" (1988) zu dem Schluss gelangte, dass der infrage stehende Roman nicht nur "das am ausführlichsten diskutierte Werk feministischer Utopie" sei, sondern ihm zudem "unzweifelhafte Vorbildfunktion für das Sub-Genre feministische Utopie" zukomme.

Seyferth zufolge kann der Roman jedoch aus zwei Gründen keine Utopie enthalten. Zum einen sei die geschilderte Gesellschaft "nicht alternativ genug" und zum anderen sei die "Abschaffung der beiden Geschlechter als sozialer Rollen [...] nicht durchführbar". Letzteres eine These, die vor allem dokumentiert, dass er sich nicht sonderlich mit Geschlechtertheorien und Gender Studies befasst hat. Eine Begründung für diese apodiktisch vorgetragene Behauptung bietet er denn auch nicht. Und die Überlegung, dass der Roman vielleicht keine Gesellschaftsutopie, wohl aber eine Geschlechterutopie enthalten könnte, lässt Seyferths Utopie-Begriff gar nicht erst zu.

So scheint es jedenfalls zunächst. Genauer gesagt, scheint es sogar eine ganze Weile so, bis der Autor rund 130 Seiten nach seiner Untersuchung des Romans im Abschnitt "Texte unterhalb der Utopieschwelle" die Begriffe "Homöo-Utopie" und "Hyper-Utopie" einführt. "Ein Text ist eine Homöo-Utopie", erklärt er nun, "wenn Utopiekriterien erkennbar, aber nicht stark ausgeprägt sind". Die von diesen zu unterscheidenden "Hyper-Utopien" sind "fiktionale Texte, die Aussagen über Utopie (im Allgemeinen) machen". Beide bewegen sie sich "unterhalb der Utopieschwelle". Daher seien "Hyper-Utopien häufig gleichzeitig auch Homöo-Utopien."

Die Homöo-Utopien unterteilt Seyferth noch einmal und zwar in "Mikro-Utopien", die "zu klein und unselbständig sind, um vollständige Utopien zu sein", und in "Hemi-Utopien", die "auf ganzheitliche Lösungen verzichten und nur ein einzelnes oder ein paar Probleme behandel[n]". Zu letzteren zählt er nun "The Left Hand of Darkness", da der Roman "nur in der Dimension Geschlecht/Gender/Sexismus eine Lösung für Probleme der realen Welt anbiete[t]". Eine Zuordnung, die insofern verwundert, als er die in dem Roman vorgestellte Lösung zuvor rundweg als nicht-utopisch verworfen hat.

Schulthe, der sich ebenfalls mit "The Left Hand of Darkness" befasst, vermutet, anhand der "Ambisexualität" der humanoiden Intelligenzwesen auf dem Planeten Winter habe LeGuin ihre Überzeugung offen legen wollen, "daß sich hinter der in der Realität jeweils biologisch eindeutig definierten Geschlechtlichkeit des Menschen stets beide Seiten verbergen". Abgesehen davon, dass Mann und Frau biologisch keineswegs so eindeutig 'definiert' sind, wie Schulthe meint, eine interessante Interpretation. Noch interessanter ist allerdings sein Hinweis auf Naomi Mitchisons weithin unbekannten Roman "Memoirs of a Spacewoman" (1962), der 1980 unter dem Titel "Memoiren einer Raumfahrerin" auf Deutsch erschien. Als Verfasserin nennt das Titelblatt der deutschen Übersetzung Naiomi [!] Mitchison. Schulthe zufolge liegt dem Roman in Gestalt der MarsianerInnen "genau das gleiche biologische Konzept der Ambisexualität [...] zugrunde" wie LeGuins Geschlechterphantasie.

Tatsächlich sind die Geschlechterkonstruktionen beider Romane zwar nicht identisch, doch ähneln sie einander sehr. Sind LeGuins Aliens die meiste Zeit ihres Lebens geschlechtslos, so sind Mitchisons MarsianerInnen, die sich, wie es im Roman heißt, "mit Hilfe ihrer sexuellen Organe" verständigen, zweigeschlechtlich und "nehmen nur zu bestimmten Zeiten monosexuelle Eigenschaften an". Anders als LeGuins Aliens können Mitchisons MarsianerInnen ihre "normale Bisexualität" zudem im Schockzustand verlieren und in eine "monosexuelle Phase" eintreten. In einem nicht ganz unwichtigen Punkt gleichen sich beide Spezies allerdings: Auch die MarsianerInnen entwickeln im Laufe ihres Lebens nicht immer dasselbe Geschlecht.

Zurück zu Seyferths Untersuchung. Ebenso wie "The Left Hand of Darkness" mag er auch das weithin als Anti-Vietnamkriegsroman rezipiertem Werk "The Word for World is Forrest" (1972/76) nicht als Utopie anerkennen. Zwar entspreche die auf dem Planeten Athshe herrschende "matriarchale Aristokratie" den "utopiekonstitutiven Kriterien" und könne insofern als "geschlossene, statische, perfekte Utopie" bezeichnet werden, doch habe sie "für Menschen auf der Erde unmögliche Voraussetzungen". Im Unterschied zu Athshe, das nur aus Meeren und bewaldetem Festland besteht, gäbe es hier "zu wenig Wald". Wichtiger aber sei, dass Träume "in unserer Realität nicht diesen hohen Stellenwert haben" wie in der Athshenischen Gesellschaft, da Menschen nicht nach Art der AthshenerInnen träumen können. Ebenso wie "The Left Hand of Darkness" sei daher auch dieser Roman als Hemi-Utopie zu klassifizieren.

LeGuins wohl bekanntesten Roman "The Dispossessed" (1974), der eine kapitalistische Welt mit einer anarchistischen konfrontiert, lässt hingegen auch Seyferth als Utopie gelten. Da sich die Sekundärliteratur "einig" sei, "dass 'The Dispossessed' eine Utopie ist, und da sie es auch hinreichend begründen können, wundert es nicht, daß auch die von uns aufgestellten Utopiekriterien zum selben Ergebnis kommen".

Eine wichtige Scharnierfunktion zwischen "The Dispossessed" und dem zweiten Werk LeGuins, das Seyferth als echte Utopie anerkennt, "Always Coming Home" (1985), komme einem Vortrag mit dem Titel "A Non-Euclidian View of California as a Cold Place to Be" zu, den LeGuin im Jahre 1982 hielt. Er bilde sozusagen den "Angelpunkt" zwischen den beiden fiktionalen Werken. Unter starker Bezugnahme auf das taoistische Paar Yin und Yang entwickele LeGuin hier einige "programmatische Forderungen für eine neue Art von Utopien". So verwerfe sie die "rationale Utopie" als "unbewohnbar", da diese "nur auf die Zukunft ausgerichtet" sei und sich zudem durch eine "statische Perfektion" auszeichne, die "von oben verordnet" werde. Sie sei "kartographiert, ein Plan, eine Blaupause, ein Schaltplan", mithin "euklidisch, europäisch, maskulin". Kurz: ein "Machttrip", eine "Monotheokratie".

All dies versuche "Always Coming Home" zu überwinden. Denn die Autorin habe zwischenzeitlich nicht nur bei "Claude Levi-Strauss und anderen Ethnologen" "[n]eue Inspiration" gefunden, sondern auch bei dem Öko-Anarchisten Murray Bookchin. Zudem habe sie sich "grundlegende Gedanken über Sprache und narrative Techniken" und deren Bedeutung aus feministischer und hierarchiekritischer Perspektive gemacht. Die so gewonnenen "neuen Ideen" habe sie in dem neuen Buch "radikal umgesetzt", so dass es inhaltlich und formal "über alle bis dahin bekannten Utopien" hinausgehe. Daher werde es "herkömmlichen Erwartungen, mit denen man sich einer literarischen Utopie nähert", "nicht mehr gerecht". In der polyphonen, "wie zufällig wirkende[n] (aber dennoch genau geplante) Ansammlung" von Gedichten, romantischen und anderen Erzählungen, Dramen, Liedern, Biografien, Mythen und Fabeln melden sich "[v]erschiedene Stimmen" zu Wort: "die Herausgeberin und Zukunftsarchäologin, Stone Telling, Pandora, die Kesh". Somit gäbe in diesem an der kalifornischen Küste in "[a]bertausenden von Jahren" 'handelnden' "amorph[en]" Werk keine "dominante Stimme". Hinzu kommt, dass neben die genannten Textsorten Karten, Zeichnungen, Tabellen, Rezepte und Lieder treten.

Die von Schulthe im übrigen als "fiktionale ethnologische Studie mit zahlreichen narrativen Elementen" gewertete Text- und Bilder-Collage wird von Seyferth nicht nur als "zweite Utopie" neben "The Dispossesed" anerkannt, sondern gilt ihm als "das hoffnungsvollste Buch, das sie [LeGuin] je geschrieben hat". Waren Seyferths Kriterienkatalog und die Unterscheidung der Texte unterhalb der Utopie-Schwelle ungeachtet der einen oder anderen Schwäche schon innovativ, so lohnt sich die Lektüre des Buches doch vor allem wegen des Abschnittes über diesen Roman, in dem Seyferth plausibel darlegt, warum LeGuins neues Buch eine Weiterentwicklung gegenüber "The Dispossessed" ist, die geradezu einem Paradigmenwechsel gleich kommt.

LeGuin hat Seyferth zufolge das utopische Denken mit und in diesem Buch "so umgekehrt, daß man sich fragen muß, ob dieses Denken überhaupt noch utopisch ist". Ja, beantwortet er seine wohl eher rhetorisch gemeinte Frage, es sei eben eine "neuartige Utopie", die "The Dispossessed" in den wichtigen Bereichen "kritische Selbstreflexion, Offenheit, Zweideutigkeit, postmoderne Einbeziehung des Lesers" übertreffe. Dem mag man kaum widersprechen. Und vielleicht führt Seyferths Lob sogar dazu, dass LeGuins wohl nicht zuletzt wegen der mangelnden Übersetzung hierzulande sowohl von Fangemeinde wie auch von der Utopieforschung kaum rezipiertes Buch etwas mehr Beachtung findet. Zu wünschen wäre es. Zu hoffen wohl kaum.

Abschließend noch ein Wort zur Danksagung, die Seyferth seinem Buch vorangestellt hat. Nachdem er sich bei seinem Doktorvater, dem Zweitgutachter, verschiedenen KollegInnen und schließlich auch den Korrigierenden bedankt hat, bekennt er: "Alle verbleibenden Fehler, Ungenauigkeiten und Eigensinnigkeiten habe ich selbst zu verschulden." Ob die Korrektur Lesenden wohl auch einen Blick auf diese Formulierung geworfen hatten?


Titelbild

Hendrik Schulthe: Hainish - Die fremdvertrauten Welten der Ursula K. Le Guin. Ethnologie trifft Science Fiction.
Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2008.
217 Seiten, 79,00 EUR.
ISBN-13: 9783639014488

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Peter Seyferth: Utopie, Anarchismus und Science Fiction. Ursula K. Le Guins Werke von 1962 bis 2002.
LIT Verlag, Münster 2008.
385 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-13: 9783825812171

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