Vorliebe für Ernstfälle und Sampler

Jörg Uwe Albigs Velo

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im wiedererwachten Berlin, scheint es, träumt man derzeit leicht und ausgiebig vom Weltuntergang und seinen Vorboten: Bürgerkriege, Terror, Gewalt, Erosion sozialer Zusammenhänge. Tobias O. Meißners "Starfish Rules" inszeniert den Weg zur Apokalypse zwar in den USA, der Autor blieb beim Schreiben allerdings am heimischen Schreibtisch und der Hauptstadt treu. Tim Staffels "Terrordrom" führt die Auflösung des sozialen Gefüges in einen bürgerkriegshaften Hobbesschen Urzustand vor, und das, ohne dem Leser allzu viel Analyse mit auf den Weg zu geben. Diese mit Faszination am Trashcharakter von Gewalt geschriebenen Bücher sind auch Reaktionen auf ein Überangebot an Kulturpessimismus-Debatten in den Medien. In der Übertreibung hintertreiben sie das fatalistische Moment der medial vermittelten Katastrophenstimmungen.

Und nun Jörg-Uwe Albigs Debüt "VELO". Es passt in diese Reihe, wenn auch nicht ganz. Im Roman des 1960 geborenen und in Berlin lebenden Autors wird mit einigem hantiert, was der zivilen Gesellschaft an Untergangsszenarien in den letzten Jahren an die Wand gemalt wurde. "VELO" verknüpft dabei Versatzstücke futuristischer Technik- und Geschwindigkeitsanbetung mit Paul Virilios dromologischen Theoremen, Ernstfall-Metaphorik mit Enzensbergers "Aussichten auf den Bürgerkrieg", expressionistische Kamerafahrten durch die Großstadt Berlin mit Brehms Tierleben, den Dschungel mit dem urbanen Verkehrssystem, Herbert Grönemeyer mit Grandmaster Flash. Sampling lautet das Stichwort für dieses Zitieren. Das Sample dient als kleinste Texteinheit und Ausgangspunkt des Schreibens. Es ist - wenn auch nicht so sehr in den Vordergrund gemischt wie etwa in Thomas Meineckes "Tomboy" - ein konstituierendes Element dieses in kleine Sequenzen aufgeteilten Romans. Die Samples sind die aus einer sekundären Wirklichkeit gezogenen sprachlichen Proben, an denen sich die Figuren abarbeiten. "VELO" würde gerne eine LOVE-Story werden. Einfach wird es dem Personal dabei nicht gemacht: Enzberg und Lolli, die beiden Hauptfiguren, sind ein seltsames Liebespaar. Die "gemeinsame Vorliebe für Ernstfälle" bringt sie zusammen. Enzberg ist Fahrradkurier, durchmisst den großstädtischen Raum mit seiner Rennmaschine, kennt Schlupfwinkel, ist permanent in Bewegung und permanenter Bewegung ausgesetzt. Er ist "ein Rudel Elektronen", in seinem Innern herrscht Unterdruck, mal erscheint er als "Boxer", dann als "Partisan", er hat den "Zorn des Drachentöters" in sich und funktioniert wie ein Kugellager. Enzberg verschmilzt mit seinem "anachronistischen Schlachtroß": Seine Eigenschaften und sein Körper werden in technische Details übersetzt. Geschwindigkeit erzeugt die "subkutanen Zündimpulse", die ihn in Gang bringen. Enzberg ist eine Maschine. Er läuft und läuft und läuft, weiß allerdings nicht wohin.

All das wird mit solch präzisen und schneidenden Sätzen erzählt, dass die Figur zwar Konturen, aber kaum Charakter gewinnt. Die Bewegung zielt in die Weite, nicht in die Tiefe. Um sich herum imaginiert Enzberg indes den tobenden Kampf jeder gegen jeden, er liest die Stadt als Kriegsgebiet. Der ins Fenster gestellte Fernseher dient als Vermittlungsinstanz, Verstärker und Fluchtpunkt zugleich: Das sind Enzbergs Aussichten auf den Bürgerkrieg. Geschwindigkeit und Krieg erscheinen - Virilio lässt grüßen - als untrennbare Geschwister. Der Futurist Filippo Tommaso Marinetti schrieb 1916: "Geschwindigkeit = Synthese aller Formen des Muts in Aktion. Aggressiv und kriegerisch. Langsamkeit = Analyse aller stagnierenden Formen der Vorsicht." Geschwindigkeit generiert Hygiene, treffen sich Enzberg und Marinetti, "denn nur Schnecken machen Schleim". Unter dem sezierenden Blick und der gerasterten Wahrnehmung des fahrenden Boten wird die Welt zu einer gewalttätigen, nicht mehr beherrschbaren. Wie für Franz Biberkopf in Döblins "Berlin Alexanderplatz" entwickelt auch die heutige Hauptstadt für Enzberg eine eigene Dynamik: "Die Straße puckerte, wummerte und heulte. Sie schloß sich wie eine Faust um Enzbergs Fahrt." Und der Mann fliegt mit spitzem Kopf und Wut durch die Straßen. Ein ziemlich spätes Spätwerk des Expressionismus.

Die Verve allerdings ist ziellos, auf nichts gerichtet. Enzberg hat, so scheint es, noch nicht begriffen, dass die Schlachten heute an anderen (Nicht)Orten gewonnen werden - virtuell, telekommunikativ, per Handy. Der teuflische Ganove Bill, der mit Mobiltelefonen handelt, klärt Enzberg darüber auf, dass Verfügbarkeit der Weg zur Allgegenwart sei - und nicht Geschwindigkeit. Bill, der nicht umsonst die Rechnung, die Enzberg aufgetischt wird, schon im Namen führt, fungiert als Schaltstelle und Katalysator. Die verzweifelte und erfolglose Suche nach Feinden und Sinn, wird Enzberg zum Verhängnis. So sehr er sich auch auf die Schlacht vorbereitet, er hat sie längst schon verloren - spätestens als er mit Bill zusammentrifft.

Lolli ist eine Gegenfigur in diesem dichotomisch aufgebauten Buch. Auch sie ist eine Verliererin. Sie zieht sich zurück in den botanischen Garten: Er ist die biosphärische Kleinversion des Dschungels Großstadt. Auch zu Hause nistet sich eine Pflanze als Zentralmetapher ein: Die Dieffenbachia, ein giftiges Aronstabgewächs, ist "Ruhe und Bewegung zugleich." War der Gummibaum für die 80-er Jahre die Exotik vorgaukelnde, Trägheit und Künstlichkeit ausstrahlende Standard-Zimmerpflanze, so wuchert in VELO am Ende der 90-er die Dieffenbachia durchs Wohnzimmer: ein rhizomatisches, eigentlich hässliches Gewächs, dessen Gift als Waffe und als Heilmittel verwendet werden kann. Man erfährt nicht viel über die wenigen Figuren in Albigs Roman, sie gehen einem nicht nah, laden nicht ein zu Identifikation. Sie sind Akteure einer Videosimulation oder eines Comic-Strips - Symptome, Leinwände für die Projektion von Ideen. Experimentiermaterial. Nur solange keine Katalysatoren hinzukommen (der Ganove Bill oder der Kleinkünstler Schratt), laufen die beiden Systeme Enzberg und Lolli hohl, können sie ihre Beziehung einigermaßen ausbalancieren.

Seine Stärke gewinnt der Text aber nicht durch das komische Oszillieren zwischen Apotheose der Geschwindigkeit und ihrer Kritik, zwischen der undeutlichen Zeichnung modernen urbanen Lebens und seiner medialen Gebrochenheit, durch die Präsentation Berlins als Ort aufbrechender Konflikte und einer auch ironischen Relativierung dieser Sicht. Es ist die ein- und teilweise aufdringliche Sprache, die diese Spannungen beständig in Schwingung hält: ein komplexes Geflecht aus gewagten Metaphern, Synästhesien, schwelgerischen Bildern. Sensibel aufgelesene Sprachfetzen entzieht Albig ihrem Kontext und setzt sie an anderer Stelle wieder ein. "Bill telefonierte Kette: Er steckte sich ein Gespräch am nächsten an" oder: "Die Stühle jenseits des Mittelgangs nickten leblos gegen die Tische." Diese Prosa durchschneidet den medial gestifteten und determinierten Raum und erkundet seine Grenzen.

Titelbild

Jörg-Uwe Albig: Velo.
Verlag Volk & Welt, Berlin 1999.
157 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3353011609

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