Autonom, leidenschaftlich und pragmatisch
Hildegard Atzingers instruktive Arbeit zu Gina Kaus' Stellung in der literarischen Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGina Kaus sei gerade mal eine "mittelmäßige Schriftstellerin" gewesen, urteilte ein Rezensent in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Anfang der 1990er-Jahre und mokierte sich darüber, dass ihre Romane und Feuilletons "von so kritischen Geistern wie Alfred Polgar und Karl Kraus mit artigen Komplimenten bedacht" wurden. Mit einer Erklärung ist er (oder sollte sich hinter dem Kürzel HCK etwa eine Rezensentin verbergen?) schnell bei der Hand: Kaus habe seinerzeit im Wien der goldenen 1920er-Jahr als "erotische Heroine" gegolten. Und daher, so insinuiert er, habe die Herren Kritiker ihr kritischer Geist verlassen.
Glücklicherweise sind immer noch einige Werke der Autorin auf dem Markt. Ihr Roman "Morgen um neun" wurde etwa erst jüngst neu aufgelegt. Es ist also ohne weiteres möglich, sich selbst ein Bild davon zu machen, wer sie mit klarerem Blick beurteilt, Polgar und Kraus sowie etliche ihrer ZeitgenossInnen - oder der zitierte "FAZ"-Rezensent.
In einem Brief an Alice Rühle-Gerstel erklärte Kaus Anfang 1938 selbst, "[v]or die Entscheidung gestellt, entweder die literarischen Ideale hochzuhalten, aber keinen Verleger zu finden und damit zu riskieren, am Buchmarkt keine Rolle zu spielen, oder mit gefragter und vermarkteter Literatur Geld zu verdienen und von einer breiten Öffentlichkeit gelesen zu werden", habe sie "letzteren Weg" gewählt. Doch verwahrt sie sich gegen die Annahme, "dass es mir in irgend einem Augenblick wirklich gleichgültig war, ob ich ein gutes oder ein schlechtes Buch schreibe".
Ausführlich zitiert werden die FAZ-Rezension und dieser bislang ungedruckte Brief in einer Monografie, die nun Hildegard Atzinger der von der Literaturwissenschaft bislang noch wenig beachteten Autorin gewidmet hat. Doch interessiert sich Atzinger nicht für die Frage, ob Kaus' Werke der Hoch- oder der Unterhaltungsliteratur zuzurechnen sind. Vielmehr macht ihre "sozioliterarische Studie" deutlich, dass diese Kategorisierungen nicht dazu taugen, die literarischen Werke der Autorin zu charakterisieren. Dazu spürt Atzinger der Lebens- und Werkgeschichte von Kaus nach, die zahlreiche "niveauvoll unterhaltende, publikumsorientierte literarische wie publizistische und journalistische Texte" verfasste, und entwirft dabei ein "möglichst umfassendes und vielschichtiges Bild" der Autorin. Hierzu nimmt sie "all jene Faktoren" in den Blick, die für die persönliche und künstlerische Laufbahn von Kaus bestimmend waren. Und das war nicht nur ihr "geistige[s] und soziokulturelle[s] Umfeld" mit den diversen Einflüssen "geistiger, gesellschaftlicher und literarischer Strömungen und Bewegung", sondern ebenso die "Produktions- und Publikationsbedingungen", denen sich Kaus als Literatin zu unterwerfen hatte, sowie schließlich "die Bedeutung von Verlag, Presse und literarischem Markt". Wie Atzinger zeigt, hatten etwa die "Marketingstrategien" des Ullstein Verlags wesentlichen Anteil an dem kommerziellem Erfolg, den Kaus zwischen 1919 und 1933 in einem "zunehmend nach den Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage funktionierenden und auf Kommerzialisierung ausgerichteten Kulturbetrieb" verbuchen konnte.
Doch geht Atzinger nicht nur den "äußeren Gegebenheiten" der Zwischenkriegszeit nach, unter denen sich Kaus als erfolgreiche Autorin etablierte, sondern zeigt auch, welche "Charaktereigenschaften" sie dazu überhaupt erst befähigten: "Mut, Selbstbewusstsein, eiserner Wille, der Glaube an sich selbst und das Vertrauen auf die eigene Leistung" sowie "Anpassungs- und Kompromiss-, aber auch Durchsetzungsfähigkeit".
Stets berücksichtigt Atzinger die besondere Stellung, die Kaus als "schreibende Frau" innehatte. Dabei betont sie, dass die Literatin selbst die "moderne, großstädtische, berufstätige, starke, aktive und selbstbewusste", kurz die neue Frau verkörperte, ohne einem politischen, ideologischen oder feministischen Programm zu folgen, sondern indem sie autonom, leidenschaftlich und pragmatisch handelte. Daher verwundert es nicht, dass im Mittelpunkt des literarischen Schaffens der an den Theorien der Psychoanalytiker Alfred Adler und Otto Gross geschulten Autorin "Psychologie und Emanzipation der Frau" standen, "ihre Rolle und Aufgabe in der Gesellschaft, ihre Erfahrungen unter patriarchalen Verhältnissen, ihre Gefühls- und Gedankenwelt und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen." So brilliert Kaus' Erzählwerk mit einer "Fülle von keineswegs stereotypen, sondern differenziert gezeichneten Frauenfiguren".
Das Etikett "Frauenliteratur" dürfte Kaus gleichwohl abgelehnt haben. Nicht nur für ihre eigenen Werke, sondern als Begriff schlechthin. Dies lässt zumindest ein 1926 erschienener Essay vermuten, in dem sie erörtert, "[w]ie ein Mädchenbuch aussehen sollte". Denn dort erklärt sie, es gäbe "gar keinen Grund für eine eigene Mädchenliteratur". Da "heute die Probleme für Frauen nicht viel anders als für Männer" seien, sei ein Mädchenbuch überhaupt ein "Unding". Zudem sei, was Mädchen zur Lektüre angeboten werde, "samt und sonders verwerflich", handele es sich doch um "lauter fromme Geschichten, in denen jugendliche Trotzköpfchen, nachdem sie Gelegenheit gefunden haben, ihr edles Herz zu beweisen, in glücklicher Ehe landen." Wenn es aber nun schon einmal Mädchenbücher gäbe, so sollten sie "in einer Zeit und in einem Land des herrschenden Männerprinzips" ihre Aufgabe darin sehen, ihre Leserinnen "auf den wirklichen Daseinskampf und nicht von ihm ab an den häuslichen Herd zu lenken". Mit anderen Worten, sie sollten ihnen "die Notwendigkeit der Berufswahl vor Augen führen", da diese "das Rückgrat jeder menschlichen Existenz" bilde.
Wie Atzinger resümiert, machen Leben und Werk von Kaus deutlich, dass die Literatin für das "Recht auf Eigenständigkeit, freie Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbestimmung" einstehe. Die "Bestsellerautorin" mit Blick auf ihren kommerziellen Erfolg und "aufgrund ihres unkomplizierten und unterhaltenden Erzählstils und ihrer publikumsorientierten Arbeiten" als Unterhaltungsschriftstellerin zu bezeichnen, verenge den Blick auf Kaus' Stellung in der literarischen Öffentlichkeit zwischen den beiden Weltkriegen.
Atzinger hat ihre Untersuchung 2006 am Institut für Germanistik der Universität Wien als Magistraarbeit eingereicht. Und als solche bietet sie eine ganz außerordentliche Leistung, die sich vor so mancher Dissertation nicht zu verstecken braucht. Darum ist es bedauerlich, dass ihre Autorin Wissenschaft und Forschung den Rücken gekehrt hat. Hildegard Atzinger ist heute als freie Verlagslektorin tätig.
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