Geplatzte Finanzträume und liquide Individualität

Felix Krulls Verhältnis zu Geld, Luxus und Mondänität im Hinblick auf die derzeitige Finanzkrise

Von Frank WeiherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Weiher

"Bin die Verschwendung, bin die Poesie." Mit diesen Worten charakterisiert sich der Knabe Lenker in Johann Wolfgang Goethes "Faust", während er das Nahen des Plutus, "des Reichtums Gott", im weitläufigen Saal der Kaiserlichen Pfalz ankündigt.

Wenn derartige Worte gemeinhin dazu geeignet sind, das Herz der Dichter und das der Philologen höher schlagen zu lassen, so mischt sich dieser Euphorie seit jüngster Vergangenheit ein bremsendes Unbehagen bei. "Bin die Verschwendung, bin die Poesie" - das kann den geisteswissenschaftlichen Fächern, und unter ihnen vor allem jenen, die sich mit den schönen Künsten befassen, bei der nächsten Hochschulratssitzung sehr übel ausgelegt werden.

Die sich verschwendende Poesie und der sich verschwendende Dichter sind in der literarischen Tradition Konstanten, die in den unterschiedlichen Epochen mehr oder weniger stark ins Blickfeld rücken, mehr oder weniger stark eine Genieästhetik verkörpern. Ökonomisch betrachtet verschwendet sich der Dichter wie alle Künstler, wenn er sein Talent gerade nicht verschwendet. Wenn er im Reich des Imaginären nach Schätzen gräbt und Schätze findet, bringen ihm diese wirtschaftlich meist keinen Ertrag. Nach dem Ende des fürstlichen Mäzenatentums und mit Voranschreiten der Industrialisierung, scheinen Dichternot und Künstlerelend besiegelt; im fin de siècle finden sie im Leben der Boheme vielleicht ihren adäquaten Ausdruck. Im Reich des Imaginären und des Fiktiven lässt sich - so der von ihr selbst bestätigte Glaube einer durch Rohstoffe und deren Veredlung und Verarbeitung, also durch Produktion, reich gewordenen Gesellschaft - kein Geld machen.

So sehr Geld als einer der omnipräsenten Codes der Gesellschaft auch in der Dichtung einen hohen Stellenwert hat - nicht etwa so hoch, wie der der Liebe, der Gewalt und des Todes - zeigt Dichtung auch immer wieder eine auffällige Resistenz gegenüber ökonomischen Themen. Vor allem in der Dekadenzliteratur wird dieses Thema auf geschickte Weise umgangen: Ein englischer oder französischer Dandy bei Joris-Karl Huysmans oder Oscar Wilde ist einfach von Hause aus reich. Er kann das Leben führen, das uns diese Romane präsentieren, weil er sich dem Müßiggang auf Grund finanzieller Unabhängigkeit hingeben kann.

Auch der kaufmännisch geschickte Thomas Mann zeigt in zweien seiner Romane eine extreme Resistenz gegen die Thematik des Geldes. Der Kaufmannssohn Hans Castorp macht sich über seine finanziellen Verhältnisse genau ein einziges Mal Gedanken: im Kapitel "Das Thermometer" des "Zauberbergs" wird die wöchentliche Rechnung präsentiert; 160 Franken kostet der Aufenthalt auf dem Berghof in Davos, das kann er sich auf Grund seiner Waisenrente auf unbestimmte Zeit leisten. Danach ist das Thema Geld vom Tisch. Nichts anderes also, als bei den eben erwähnten Fällen der Dandys.

Wie sieht es aber mit Adrian Leverkühn im "Doktor Faustus" aus? Wovon lebt ein Komponist, der Musik schreibt, die kein Mensch hören will? Die Dame in Schwarz, die auf Adrians Beerdigung erscheint, ist wohl eine Gönnerin; von Mann gezeichnet nach Nadeschda von Meck, der Gönnerin Peter IljitschTschaikowskys. Hat sie aber tatsächlich Leverkühns Leben finanziert? Wenn ja, in welchem Maße? Wie viel Geld steht dem deutschen Tonsetzer monatlich zur Verfügung? Über all diese Fragen lässt uns der Roman vollkommen im Unklaren.

Dass sich Geld aber leider nicht so einfach ignorieren lässt, wie dies im "Doktor Faustus" den Anschein macht, erfährt auf schmerzhafte Weise, neben Helden wie Thomas Buddenbrook und der königlichen Hoheit Klaus-Heinrich, auch Felix Krull am eigenen Leibe. Es ist der "Ruin, der mit hartem Knöchel an die Tür pochte", der Felix' Vater dazu bringt, sich mit einem alten Revolver direkt ins Herz zu schießen. Dass es auch in den letzten Monaten wiederholt zu Suiziden aus finanziellen Gründen gekommen ist, macht die Aktualität dieses Themas in Zeiten der Finanzkrise leider deutlich.

Bei der Schaumweinfabrikation Engelbert Krull, kommt "alles unter den Hammer." Das Lager, die Kellereien, die Villa samt ihrer Einrichtung; Krulls "ehemaliger Salon, einst mit niedlicher Weichlichkeit ausstaffiert und so häufig von Lust und Festdunst erfüllt, war jetzt kahl, geplündert und kaum noch möbliert."

Dass er so oft von Lust und Festdunst gefüllt war, ist übrigens einer der Gründe für den Bankrott der Familie Krull: Neben der Tatsache, dass das Schaumweinfabrikat Lorley extra cuvé ungenießbar ist, und die Umsatzzahlen alleine durch diesem Umstand die Firma nicht tragen können, wird im Hause Krull sehr gerne, ausschweifend und oft gefeiert. Lustbarkeiten, bei denen es, wenn auf dem Höhepunkt der Partys das Licht gelöscht wird, buchstäblich drüber und drunter ging. Im Hause Krull - und der kleine Felix erlebt diese Ausschweifungen regelmäßig mit - wird das Geld zu einem beträchtlichen Teil versoffen.

Geplatzte Finanzträume und liquide Individualität: Der Hochstapler Felix Krull lässt seine Bekenntnisse für ein Jahr unter Verschluss, und zweifelt an der Wichtigkeit und Richtigkeit seines Unternehmens, seine Memoiren niederzuschreiben, nachdem er uns Lesern den finanziellen Niedergang seines Elternhauses und den Suizid seines Vaters geschildert hat. Dann erst nimmt er die Feder wieder auf und erzählt seinen weiteren Lebensweg.

Ohne Schulabschluss, ohne die geringsten Aussichten auf eine Ausbildung, ohne die kleinsten finanziellen Rücklagen, aber "in dem frohen Bewusstsein, daß [s]eine persönlichen Eigenschaften den Verlust dieser geringen Vorzüge mehr als wettmach[.]en" steht der 19-jährige Felix dem gegenüber, was von nun an das Objekt all seiner Liebe und Leidenschaft werden wird: der Welt.

Felix ist mit dem Zerbrechen seines Elternhauses an einem Wendepunkt seines Lebensweges angekommen. Seine Schwester Olympia geht nach Köln, wo sie bei dem Agenten Meerschaum eine Karriere als Operettensängerin anstrebt. Er selbst geht mit seiner Mutter nach Frankfurt. Dort eröffnet sie eine kleine Pension. Felix schläft dort auf der harten Küchenbank, und treibt sich den ganzen Tag und vor allem die Nächte hindurch im großstädtischen Frankfurt herum. Wenn das Problem seiner Wehrpflicht aus der Welt geschaffen ist (die Musterung Felix Krulls ist sicherlich eines der bekanntesten Kabinettstückchen des Mann'schen Humors), wird er, vermittelt durch Beziehungen seines Paten Schimmelpreester, eine Kellnerlaufbahn im Hotel St. James and Albany in Paris antreten.

Bis dahin hat er aber in jedem Fall noch ein Dreivierteljahr Zeit, die Felix in der für ihn charakteristischen Weise nutzt. In seiner schäbigen, abgewetzten Kleidung schlendert er durch die Straßen der Stadt, betrachtet die Menschen und sehr ausgiebig das Warenangebot, das in den Schaufenstern präsentiert wird.

Frankfurt, als Banken-, Finanz- und Börsenzentrum Deutschlands heute ein Garant für schlechte Nachrichten in Zeiten der Finanzkrise, ist im Roman eine Metropole und symbolisiert somit die moderne Welt selbst. Durch die ersten Kapitel des zweiten Buchs des Romans, wird Frankfurt in die Reihe anderer Metropolen der Weltliteratur eingegliedert, vergleichbar mit St. Petersburg, Berlin, Paris, London.

Metropolen- und Großstadterfahrung und -beschreibung ist in Bezug auf diese Städte in der Literatur fast immer ein Anlass zur Kritik an der Moderne, ein Anlass das Verzweifeln des Menschen an der industrialisierten, modernen, anonym-kalten und technisierten Welt darzustellen. Von Fjodor M. Dostojewskijs "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch", über Karl Marx' und Friedrich Engels' Kritik am Kapitalismus, zu welcher sie in London inspiriert wurden, bis hin zu Döblins "Berlin Alexanderplatz" und Walter Benjamins "Passagenwerk", ist die Großstadt an ,Kritik an den Umständen' gekoppelt.

Dem Sonntagskind Felix Krull kommt beim Durchschweifen der Metropole eine solche Kritik nun gar nicht in den Sinn. Zwar ist auch er vom Gedränge der Großstadt zunächst verstört: "[W]enn der Zudrang von Lärm und Gesichtern den Sohn eines schläfrigen Landstädtchens anfangs verwirrt, betäubt, ja beängstigt, so besitzt er Mutterwitz und Geisteskräfte genug, um allmählich des Tumultes innerlich Herr zu werden und ihn seiner Bildung, seinem begierigen Studium dienstbar zu machen."

Allerdings: Nicht die Umstände gilt es im Umgang mit dem Neuen, dem Verwirrendem, dem Angstmachendem und dem Betäubendem zu ändern - was angesichts der Metropole, ja der modernen Welt schlechthin auch unmöglich wäre - auch jegliche Kritik würde hier ins Leere laufen. Nein, für Krull steht fest, dass einzig Anpassungsfähigkeit, als eine Form der Selbstdisziplin, das Ausfechten eines inneren Kampfes also, zur Integration in die moderne Welt führen kann.

Wie sieht nun die moderne Welt aus, mit der Krull in Frankfurt in Berührung kommt? Diese Welt präsentiert sich im Glanz der Schaufenster und im Glanz der Augen der Prostituierten. Also im Glanz der Produkte. Es ist die Welt als Ware, als konsumierbares, werbendes, verlockendes Konsumgut. Und wenn man Felix' Leben in Frankfurt am Main als Inkubationsphase begreift, ist auffällig, dass die Welt durch diese Eigenschaften nichts an ihrem Glanz einbüßt. Hier schaut und beschreibt nicht der böse Blick des Melancholikers, und nicht der kritische des Intellektuellen, nach wie vor, nein noch deutlicher als zuvor, erachtet Felix die Welt für eine "große und unendlich verlockende Erscheinung [...], welche die süßesten Seligkeiten zu vergeben hat und [ihn] jeder Anstrengung und Werbung in hohem Grade wert und würdig deucht".

Wenn Mann den Schilderungen der Schaufenster und Shoppingmeilen die der Prostituierten folgen lässt, so ist er hierin in konsumtheoretischer Hinsicht überaus konsequent und in Hinblick auf den totalen Konsumismus unserer Tage prophetisch. Peter Sloterdijk macht in "Sphären II, Globen" den Zusammenhang von Großstadt und Prostitution wie folgt deutlich: "Prostituierte und Hauptstädte haben gemeinsam, daß sie aufgemacht und der Sichtbarkeit gewidmet sind; sie sind hingestellt, und sie leben vom Auffallen. Will einer ihnen näherkommen, muß er wohl oder übel einen Preis entrichten. Und wer nicht ein eigenes Eifern mitbringt und sich darin verschließt, so daß er auch innerhalb der Mauern das städtische Pflaster nicht wirklich betritt, dem machen die Angebote des urbanen Lebens auch meistens Spaß."

Damit sie einem Spaß machen können, ist es natürlich nötig, dass man die Angebote des urbanen Lebens auch konsumieren kann, und dafür bedarf es des Geldes. Und das hat Felix, wie wir wissen, nicht. "Er sieht die Portale der Schauhäuser festlich geöffnet und darf sich dem Strom der Hineinwallenden nicht anschließen". Aber Felix Krull wäre kein Sonntagskind des Lebens, wenn ihn dies über alle Maßen verdrösse; "ein eigenes Eifern" gegen die luxuriöse Welt, zu der er nicht gehört, entwickelt er nicht.

Wenn ein Weltzustand, von dem ich behaupte, dass er auch der unsrige ist, sich in Schaufenstern und in Prostituierten ausdrücken und beschreiben lässt, versteht es sich von selbst, dass der Zugang des Subjekts zu dieser Welt einer des Begehrens ist - zu einer Welt, die vollkommener Konsumismus ist, hat das Ich ein libidinöses Verhältnis. Ein Umstand, der der Logik der Kopplung von Ware und Nudität, Werbung und Nacktheit vollkommen entspricht.

Libidinös ist natürlich in erster Linie die Sexualität; und es würde hier zu weit führen, die Zusammenhänge von Sex und Geld im Einzelnen nachzuzeichnen. Bei der käuflichen Liebe, wie hier bei den Freudenmädchen in Frankfurt, ist dieser Zusammenhang natürlich augenfällig.

Wie kommt nun ein Junge, der kein Geld hat, in den Genuss professioneller Liebe? In einer verwahrlosten Kneipe begegnet Felix der Ungarin Rozsa, die aus einem Wanderzirkus stammt. "Mit ihr [...] tauschte ich Blicke, [...] und [...] nachdem wir einander so eine Weile gemustert, bemerkte ich nicht ohne jugendliche Verwirrung, daß sie mir den Wink, jenen seitlichen Wink ins Buhlerisch-Ungewisse erteilte[.] [...] In pantomimischer Absicht kehrte ich das Futter einer meiner Taschen nach außen; allein sie antwortete, daß ich mir meiner Armut wegen keine Sorge zu machen brauche."

Es ist natürlich Felix' Jugendlichkeit und Anmut, die Rozsa dazu veranlassen, sich ihm unentgeltlich hinzugeben; sie verspricht sich von ihm ungeheuren sexuellen Genuss. Hier schaltet das ökonomische Begehren wieder zurück auf das sexuelle, und dies hat zur Folge, dass Felix nicht nur einmal in den Genuss Rozsas kommt, wie dies beim Verhältnis von Bezahlung und Leistung der Fall wäre, sondern einige Monate, bis zu seinem Aufbruch nach Paris, mit ihr in einem amourösen, natürlich stark sexuell geprägten Verhältnis lebt.

Der junge Hochstapler nutzt dieses Verhältnis, wie er all seine Erfahrungen und Erlebnisse zu nutzen weiß, als Bildungsprogramm für seinen weiteren Lebensweg. Bildung ist für Krull eine Form der Verfeinerung, ein Weg zur Geschmeidigkeit im Umgang mit der Welt; und Rozsas Liebesschule stellt eine besondere Bildungsoffensive in Felix' Leben dar. "Denn ich weiß bis in den Grund meines Systems hinab, daß ich die Stückchen meines Lebens nicht mit so viel Feinheit und Eleganz hätte vollführen können, ohne durch Rozsas schlimme Liebesschule gegangen zu sein."

So fährt Krull im Anschluss an dieses Verhältnis nach Paris, nach wie vor in schäbiger, allerdings frisch aufgebügelter Kleidung. Er reist dritte Klasse - verspricht aber dem Leser, dass er zum letzten Mal in seinem Leben dritte Klasse reisen musste. Am Grenzübergang steht neben ihm eine Dame bei der Zollabfertigung und als Krull seine Habseligkeiten wieder in den kleinen Koffer räumen darf, wandert unbemerkt ein kleines Schmuckkästchen der Dame mit hinein. Felix ist ein Dieb, er hat gestohlen. Er stiehlt hier nicht zum ersten Mal, derartiges Verhalten liegt schon seit seinen Knabenjahren in seiner Natur. Im kleinen Delikatessengeschäft seines Heimatdörfchens hat Felix auch, wenn er sich alleine im Geschäft wusste, Bonbons, Schokolade, Konfekt, einige Streifen Honigkuchen geklaut. Es sind dies für Felix "freie [...] und traumhafte[...] Griffe in die Süßigkeiten des Lebens". Und Felix fühlt hierbei eine "unvergleichliche[] Ausdehnung [s]eines Wesens [...]", vergleichbar "jene[r] namenlose[n] Empfindung", die er uns einige Seiten später als "die große Freude" vorstellt: Es ist dies die Lust beim Sex. Diebstahl und Wollust sind hier die "traumhaften Griffe in die Süßigkeiten des Lebens."

Die Dame vom Zoll trifft Felix im Hotel St. James and Albany schließlich wieder. Es ist Madame Houpflé, eine Dichterin, die Liebesromane schreibt. Mit ihr verbringt er eine Nacht. "Sie verging. Wir vergingen. Ich hatte ihr mein Bestes gegeben, hatte, genießend, wahrlich abgezahlt." Und dass Felix hier abzahlt, bleibt für ihn in ökonomischer Hinsicht nicht folgenlos. Er gesteht ihr, dass er am Zoll ihr Kästchen gestohlen hat, und diese Erniedrigung macht der Dichterin ganz besonders viel Freude - so wird Felix von ihr genötigt, sie in ihrem Beisein zu bestehlen. Das Diebesgut wird bei einem kleinen Gauner-Juwelier in Geld umgesetzt und von Felix auf einem Scheckkonto angelegt. Der Liftboy von St. James and Albany führt von nun an ein Doppelleben; ein finanzielles Doppelleben zwischen Domestik und Gentleman.

"Bin die Verschwendung, bin die Poesie" - es ist die Dichterin, die den Jüngling Felix nach Strich und Faden verwöhnt. Sie versetzt ihn in ökonomische Unabhängigkeit, weil ihr sein Diebstahl Genuss und Freude bereitet. Es ist der Kick einer alternden, vom Leben gelangweilten Frau. Es ist die Bonität einer Superreichen, die Felix wirtschaftlich saniert. Ihr Wohlstand aber stammt nicht von ihrer Dichtung, das versteht sich von selbst und Madame Houpflé gesteht es natürlich ein: "Mein Mann, der morgen kommt mich holen, ist ja so reich! Er macht Klosettschüsseln[.] Die braucht jeder, wie du dir denken kannst."

Als Hotelangestellter verdient Felix im Grunde nichts, lediglich Kost und Logis sind frei. An ein Erklimmen der Karriereleiter durch redliche, fleißige Arbeit ist nicht zu denken, und der Schelmenroman trifft hier, mit seinem humorvoll lockerem Umgang mit den Moral- und Rechtsvorstellungen des Bürgerlichen Gesetzbuches, ins Herz der kapitalistischen Weltordnung. Als eine große Gelegenheit für Felix war die von Schimmelpreester organisierte Hotellaufbahn auch gedacht: "Haben wir ihn [Felix] nur erst im Freien, so wird die Flut ihn schon tragen und ihn [...] zu schönen neuen Küsten leiten. [H]ier ist ein Weg, hier sind Spielraum und Gunst der Umstände zur Entfaltung seiner Gaben".

Das Bild der ,Flut, die trägt', und die mit ihr verbundene Aussicht auf schöne neue Küsten, ist, wie Sloterdijk in seinem Sphärenprojekt gezeigt hat, der Kern der Geschichte der Globalisierung. Wer auf ein Schiff geht, um Seewege nach Indien zu finden, macht die Welt zur Kugel. Es sind die Waren und das Gold, die von nun an die maritimen Wege einschlagen; einige Jahrhunderte später werden es die Transaktionen und Nachrichten sein, die den digitalen Weg der Weltumrundung nehmen.

Der Prozess der Entzauberung, als den man die Moderne Georg Friedrich Wilhelm Hegel und Max Weber folgend bezeichnen kann, hat ihren Ursprung da, wo findige Seefahrer und Unternehmer sich Zauber von der Welt selbst, von ihren Küsten und fernen Ufern versprechen. Modernes Subjekt sein heißt, von nun an, zum Neuen aufbrechen, wie in William Shakespeares "Kaufmann von Venedig" Bassanio zur reichen und schönen Portia - deren Name nicht zufällig an den Hafen und an die Pforte (was wollen verschuldete Brautwerber mehr?) erinnert.

Wo die Welt zur Kugel wird, wird das In-der-Welt-sein zum Auf-der-Welt-sein; seine kosmische Schoßlage hat menschliche Existenz von diesem Datum an verloren. Der 125. Aphorismus der "Fröhlichen Wissenschaft" - es ist die Rede vom "tollen Menschen", in der Friedrich Nietzsche den Tod Gottes verkündet - macht mit seiner nachkopernikanischen Sternen- und Sonnenmetaphorik deutlich, dass die Mordtat an Gott mit ihrer beinah anachronistisch anmutenden Schockwirkung, in den Tagen des globalen Seehandels ihre Geburtsstunde gefeiert hat.

Es sind die großen Autoritäten, die mit Beginn der Neuzeit in diesem Prozess ihren Sonderstatus verlieren. Gott, Schöpfung, Kosmos, Wahrheit verlieren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ihren sicherheitsgebenden Garantiecharakter. Für eine Zeit übernimmt der Glaube an die Nation diesen Status, bis schließlich auch sie, so wie das internationale Proletariat, die Geschichte, der große Staatsmann, ja schließlich die Politik selbst ihre Plausibilität einbüßen mussten und das Feld zu räumen haben. Und jede Reanimierung dieser altehrwürdigen Sinngeber, finde sie nun in Globalisierungsgegnern, oder in religiösen Eiferern ihren Ausdruck, ist nichts als Reaktionismus, nichts als romantischer Kitsch - oder mit der Sprache Manns gesprochen: "Rückfall in die Barbarei" beziehungsweise "Seelenzauber mit finsteren Konsequenzen." Vor der Ausweitung des Politikbegriffs, und vor der Tendenz, den Privatmann und die Privatfrau zum Politikum zu erheben, wie dies im Inneren der westlichen Welt derzeit geschieht, sei hier allerdings gewarnt; Giorgio Agamben hat auf die Lagertendenzen der jüngeren Moderne mit Entschiedenheit hingewiesen.

So wie die Aufklärung die Befreiung des Ich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit war, rückte sie dem Ich selbst schließlich auch noch auf den Leib. ,Das Ich ist nicht Herr im eignen Haus', erkennt die Psychoanalyse; es ist das Begehren, sind die Wünsche, die Triebe, die Liebe, diese ganzen irrationalen Garanten für schlechte Laune und Spaß, die die eigentlichen Herren der Schöpfung sind.

Wo die libidinösen Kräfte die Konstanten des Ichs sind, ist die Vorausetzung für den totalen Konsumismus von vornherein perfekt. Der große Gewinner, die große Autorität in diesem Prozess, ist natürlich das Geld. Kein anderes Medium kann den Stimmungsschwankungen des Begehrens schneller gerecht werden als das Geld - das Geld als Gott der Welt.

Da aber ein Kamel eher durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ins Reich Gottes eingeht, wissen wir, dass sich ein solider, ernst zu nehmender Gott im Grunde sehr schlecht auf Geld-Wirtschaft, auf den schnöden Mammon, versteht. Dies unterscheidet ihn am auffälligsten von Goethes sympathischem Radikalaufklärer, dem global player, Kosmopoliten und Mann mit Durchblick, genannt Mephisto, dem schneidigen Kavalier, dem Teufel der Moderne, dem Teufel ohne Pferdefuß. "Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles" - das weiß sogar Gretchen, Mephisto weiß das erst recht. "Gefühl ist alles", versichert Faust seinem Gretchen im Liebesrausch, das ist das Credo des Pantheismus. Es sind die Handlung der Tragödie und der Kommentator Mephisto, die hier die Brille auf scharf stellen: "Laune ist alles" - Episode - das ist das Credo des Pansatanismus.

Die Bekanntschaft mit dem Teufel macht Felix Krull - er hat inzwischen mit üppigem Scheckbuch als Marquis de Venosta eine Weltreise angetreten - auch; auf einer Zugfahrt nach Lissabon - dem Zentrum der Theodizeefrage - das Erdbeben dort war für die Aufklärung der letzte Anlass mit dem Vorurteil einer perfekten, ja auch nur einer guten, von Gott gewollten Schöpfung aufzuräumen - trifft Felix einen Professor für Paläontologie. "Übrigens: Kuckuck!". Sein Name ist aufklärerischer Weckruf und Teufels-Symbol in einem - schon der Aufklärer Hans Castorps auf dem "Zauberberg", Lodovico Settembrini, wurde dort im Kapitel "Satana" eingeführt. Wenn man als Liebhaber der Welt mit einem Professor für Paläontologie nach Lissabon fährt, der durch seine Sternenaugen auch noch Züge des Philosophen Arthur Schopenhauer trägt, ist das für einen jungen, bildungshungrigen Menschen ein angenehmes Ereignis. Für Mann ist es im Roman der Anlass, die Geschichte einer nichtgottgewollten Schöpfung noch einmal neu zu erzählen.

Wie sieht eine Weltgeschichte aus, die der Teufel und der pessimistische Philosoph erzählen? Es ist eine Weltgeschichte der Vergänglichkeit. Das Leben auf einem Planeten ist abhängig von seinen Gegebenheiten, von zufälligen Bedingungen, zufälligen und vergänglichen. Hier hat kein kreativer Geist die Hand im Spiel, kein Plan wird hier verwirklicht. Man kann im Darwin-Jahr noch mal ausdrücklich auf die Lektüre dieses Dialogs hinweisen. Auch in Zeiten, in denen der Dialog der Religionen als Topthema den Klimawandel verdrängt zu haben scheint, sei Professor Kuckuck wärmstens empfohlen.

Eine Welt ohne Urheber, schutzlos den Bedingungen des unendlichen Außen und des filigranen Innen ausgeliefert, der Vergänglichkeit preisgegeben, ihrem Wesen nach, weit davon entfernt, die beste aller Welten zu sein, lädt in den Augen des Teufels und des großen Pessimisten, den Menschen zur Allsympathie. Denn als aus den Tieren nach langer Entwicklung der Mensch entstanden ist, da kam etwas hinzu, es ist "das Wissen von Anfang und Ende. Ich [Felix] hätte das Menschlichste ausgesprochen mit dem Wort, es nähme mich ein für das Leben, daß es nur eine Episode sei. Fern davon nämlich, das Vergänglichkeit entwerte, sei grade sie es, die allem Dasein Wert, Würde und Liebenswürdigkeit verleihe."

Im Hochstapler, Betrüger, Dieb, Schauspieler und Liebhaber der Welt Felix Krull, erkennen wir einen modernen Menschen, der es versteht, die Bedingungen kapitalistischer Weltverhältnisse zu nutzen, und wer diese nutzt, erlebt lauter Annehmlichkeiten.

Von der Schaumweinfabrik Engelbert Krull über den Schaumschläger Felix zur geplatzten Finanzblase unserer Tage, ist es ein kurzer Weg, wenn man begreift, dass das Projekt Moderne eine Hoffnung auf neue Goldküsten war und ist, Hoffnung auf einen Schatzfund, der es erlaubt, durch das Medium Geld in "die Süßigkeiten des Lebens" zu greifen. Die Schaumweinfabrik macht bankrott; ziert doch die Lorelei die Flaschen des Fabrikats,- und was ist die singende Jungfrau anderes, als eine tödliche Gefahr für Schifffahrer?

Wer der Gier die Schuld an der derzeitigen Implosion der großen Blase gibt, hat den Traum, den die Welt seit gut 500 Jahren träumt, nicht begriffen und weiß nicht, dass er, wenn er sich nicht vollkommen der Transzendenz hingeben hat, diesen Traum mitträumt. Auch kann durch die Krise nichts auf sein sogenanntes wirtschaftliches Real-Maß schrumpfen und anschließend Aussagen über tatsächliche Gegebenheiten machen, denn aller Aktienhandel ist eo ipso nichts anderes als Spekulation auf Fantasie und Zukunft. Er ist Spiel, und was wären Spiele ohne Risiko?

Riskant ist sie, die kapitalistische Welt des Konsumismus. Man spielt in ihr; man braucht Glück; man kann verlieren. Fortuna ist ihre Göttin. Satanisch ist sie auch. Man sollte mit Jochen Hörisch von einem satanischen Kapitalismus sprechen: "Aber ich denke die einzige Option, die wir in der Moderne [...] haben, ist offener Satanismus, ist sympathy with the devil. Ohne sympathy with the devil, ohne Bonifizierung des Malum, ohne Sich-Einrichten in der schlechten Welt, ohne diese schlechte Welt kultisch zu verehren und hedonistisch zu genießen, kann ich mir friedfertiges, lustvolles Leben gar nicht vorstellen."

Sie ist auch eine Welt des Scheins und der Oberflächlichkeit, während ihr wahres Wesen der Vergänglichkeit, sich eigentlich in den Worten Zouzou Kuckucks, der Tochter des Professors, wiederfindet. "Der Mensch, wie schön er sei, wie schmuck und blank, ist innen doch Gekrös' nur und Gestank". Was soll man zu solchen Worten sagen? Ich lasse das Sonntagskind Felix auf die Wahrheit dieser Worte antworten: "Wie soll ich sie nennen, krude, grausam, übermäßig wahr und gerade darum nur halbwahr, ja unwahr[.] [...] Das ist ein garstiges Verschen, Zouzou[...] Weil dieses Verschen den Glauben zerstören will an Schönheit, Form, Bild und Traum, [...] aber wo bliebe das Leben und jegliche Freude, ohne die ja kein Leben ist, wenn der Schein nichts mehr gälte und die Sinnenweide der Oberfläche? [...] [R]eizende Zouzou: Ihr geistliches Verschen ist sündhafter als die sündlichste Fleischeslust, denn es ist spielverderberisch, und dem Leben das Spiel zu verderben, das ist nicht bloß sündlich, es ist rund und nett teuflisch."

Mann, der die Polaritäten von Künstler und Bürger, Kunst und Leben, Ich und Welt zum Thema seines Werkes gemacht hat, zeigt in seinem letzten Roman, der, als immer wieder liegengelassenes Projekt, Frühwerk und Spätwerk umklammert und verbindet, eine Versöhnung dieser Gegensätze. Im heiteren Schelmenroman gelingt, was zuvor nicht möglich ist: Ein Weg des Ich zur Lebensbejahung ohne Verdrängung, ohne Opfer, ohne melancholischen Grundton. Er gibt hierfür die Vorstellung einer Autonomie von Kunst, Künstler und Ich auf. Diese Autonomie war immer auch eine ökonomische, indem sich nach traditioneller Auffassung der Künstler um wirtschaftliche Belange nicht zu kümmern hat. Doch der Lebenskünstler weiß es besser: Das Ich integriert sich in die moderne Welt durch das Medium Geld.

Wenn es auch in moralischer Hinsicht nicht weit her ist mit Felix, so hat er uns doch gezeigt, dass Adorno sich geirrt hat, und wir ihm mit Felix entgegnen können: "Es gibt ein richtiges Leben im Falschen." Moral übrigens hin oder her: Felix hinterlässt auf seinem Lebensweg nur glückliche Menschen, vorausgesetzt man hält sich an die Regeln seines Spiels, die die Regeln der Vergänglichkeit sind. Und wie wären es in einer Welt der Vergänglichkeit nur die Regeln seines Spiels?