Wachstumsschmerzen

Wilfried Eggers schickt in seinem Roman "Paragraf 301" einen ruhebedürftigen Rechtsanwalt auf Abenteuerreise

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass die Türkei ein Land im Umbruch ist, sieht jeder, der schon einmal dort war, sei es im von europäischen Urlaubern okkupierten Süden um Antalya, sei es am Bosporus und in Istanbul, also an der Nahtstelle von Orient und Okzident. Die moderne Türkei ist dabei nicht anders als alle anderen Kulturen von ihrer Geschichte geprägt, die ebenso Bürde wie fruchtbare Ressource ist. Dabei sind die Brüche, die das Land zu bewältigen hat, enorm: Der heftig gewünschten Nähe zu Europa steht ein orientalischer Traditionalismus entgegen, der vor allem mit dem Pfund der Identität wuchern kann. Ist die Türkei in Europa ein Fremder, der dennoch eng mit der Geschichte des Halbkontinents verwoben ist, ist sie aus der Sicht des Orients schon längst an die europäisch-amerikanische Kultur verloren.

Aus europäischer Perspektive sind jedenfalls Geschichten wie die von jener Abgeordneten, die es wagte, im türkischen Parlament einen Satz auf kurdisch zu sagen und dafür mit 15 Jahren Gefängnis und ihre Partei mit der Auflösung bezahlen musste, absurde und extreme Äußerungen eines fragilen Selbstbildes, das sich nur in der strikten Tilgung jeder anderen Identität zu sichern weiß. Allerdings mit der Einsicht, dass jede ethnische, sprachliche, religiöse oder kulturelle Sonderidentität eine enorme Sprengkraft erhalten kann, wenn man ihr nicht frühzeitig Einhalt gebietet.

Aber vielleicht sind solche Erwägungen nur allzu sehr von der Unsicherheit geprägt, wie denn eine europäische Gemeinschaft aus solch unterschiedlichen, extremen und teilweise sogar verfeindeten Teilen gebildet werden kann. Unsicherheit also, wohin man auch schaut.

Wilfried Eggers nun geht kritisch mit einer Türkei um, die nicht nur mit extremistischen Kurden im Bürgerkrieg liegt, sondern auch andere ethnische, religiöse und kulturelle Gruppen zugunsten einer einheitlichen türkischen Identität unterdrückt.

Er kleidet das in die Geschichte von Exiltürken in Deutschland, die aus unterschiedlichen Gründen in Konflikt mit der deutschen Obrigkeit geraten. Da ist Emin Gül, dem die Abschiebung in die Türkei droht, wenn er nicht nachweisen kann, dass ihm dort Verfolgung droht. Da ist Heyder Cengi, der als Schwarzarbeiter in Deutschland arbeitet und der auf der Flucht vor einem Kontrolleur des Arbeitsamts den Mann zu Tode stürzt. Beide Türken werden vom selben Rechtsanwalt, Peter Schlüter, vertreten, der jedoch nach einiger Zeit feststellen muss, dass er mit Gül jemanden freigekämpft hat, der in der Türkei den Tod von 37 Menschen mit zu verantworten hat - nur Adaman, ein anderer, illegal in Deutschland lebender Alevit und "Onkel" Heyders, ist dem Pogrom gegen seine Glaubensbrüder, einer Absplitterung vom schiitischen Islam, mit Glück entkommen.

Adaman nun wird in Deutschland ermordet, Gül wird verdächtigt, hätte Adaman doch seinen Asylantrag sabotieren können, Schlüter, der sich seiner Ahnungslosigkeit fast genauso schämt wie des Umstands, dass er möglicherweise einen Mörder geschützt hat, bricht mit einer jungen Türkin, die vor einer Zwangsehe flieht, und einem Ex-Knacki in die Türkei auf, um Licht in die Sache zu bringen.

Spätestens damit beginnt die politische Mission Eggers', denn von der Gemengelage zwischen Kurden, Türken und Aleviten, von der der autochthone Deutsche nun überhaupt keine Ahnung hat, muss auf den folgenden Seiten ausgiebig berichtet werden.

Dass das funktioniert, und zwar als politischer Krimi genauso wie als politischer Krimi, ist das Erstaunliche an Eggers Roman. Nicht, dass am Ende so etwas wie Aufklärung und Engagement dabei herauskäme - niemand wird nach diesem Krimi anfangen, sich in die Asylpolitik, die innertürkischen Verhältnisse oder sonst irgendetwas einzumischen. Aber immerhin wird hier eine Kriminalgeschichte in eine Politgeschichte eingebettet, ohne dass von vorneherein klar wäre, was Vorrang hat. Literatur funktioniert zumal - selbst wenn sie als Krimi daherkommt - subtiler und langfristiger. Sie öffnet die Wahrnehmungsfähigkeit, gestaltet Verhältnisse und öffnet Handlungsoptionen, von denen bislang noch niemand ahnte. Sie ist, mit anderen Worten, bereits ein Modus der Auseinandersetzung mit Realität, sie initiiert sie nicht, sondern trägt sie. Das gelingt ihr mehr oder weniger gut, in diesem Fall jedoch in außergewöhnlich großem Maße.

Eggers Krimi ist dabei nicht frei von romantischen Wunschbildern, und Franz-Josef Degenhardts "Komm an den Tisch unter Pflaumenbäumen" hat seinem Schlusstableau sicherlich Pate gestanden. Aber nach all dem sinnlosen Blutvergießen, das nicht nur die Realität, sondern auch die Romanwelt geprägt hat, sind solche Bilder heiter-melancholischer Völker- und Menschenverständigung legitim. Das darf man sich gönnen. Und darüber hinaus: Die Türkei ist ein großes, schönes und liebenswertes Land - wie alle anderen Länder auch.


Titelbild

Wilfried Eggers: Paragraf 301. Roman.
Grafit Verlag, Dortmund 2008.
475 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3894256583

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