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Ein neues, lernerfreundliches Arbeitsbuch zur Lyrikanalyse

Von Nils BernsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Bernstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lernen soll Spaß machen, lernen soll einfach sein. Wenn sich das Gelernte dann auch noch gut anwenden lässt und der Erkenntnis dient, dann ist ein frommes Ziel erreicht. Diesem Unterfangen gerecht zu werden hat sich das durchschnittlich junge Autorenteam mit allerhand Augenzwinkern vorgenommen. Die Anatomie des Fisches dient dabei immer wieder als Aufhänger: etwa bei der Beantwortung der Frage, was ein Gedicht sei, als Exempel für die Wichtigkeit der Gedichtformen oder als Aufhänger für die Schlussbemerkung. Dass der Abdruck von Christian Morgensterns "Fisches Nachtgesang" auf dem Einband ohne den Titel für Nicht-Eingeweihte wie eine trockene metrische Analyse erscheint, mag am weniger einladenden Layout des Verlages liegen. Die äußere Aufmachung entspricht daher nicht der Intention der AutorInnen, Lyrikanalyse könne auch Spaß bereiten. Die stets originellen und anschließend kommentierten Abbildungen zum jeweiligen Kapitelanfang hingegen, regen stets zum Weiterlesen an.

Das Buch richtet sich weniger an den viel bemühten "interessierten Laien" als vielmehr an Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II oder Germanistik-Studierende im Einführungsseminar. Die Informationen sind stets auf prüfungsrelevantes Wissen und Memorierbarkeit hin ausgerichtet. Die Thematik der beiden ersten von insgesamt 16 Kapiteln - Kapitel 1 behandelt Poetizität, Kapitel 2 die Sachgeschichte der Lyrik - kommt dabei jedoch leider zu kurz. An dem komplexen Begriff der Poetizität hat sich die Literaturwissenschaft seit jeher abgearbeitet. Während dessen theoretischer Umfang etwa in Dieter Burdorfs etwas betagterer "Einführung in die Gedichtsanalyse" gut umrissen wird, wird er dem Leser hier etwas zu kursorisch näher gebracht. Orientierung bietet eine kleine Wortgeschichte zum Terminus "Gedicht". Die Begriffs- und Forschungsgeschichte fällt knapp aus. Man erfährt etwas von Dieter Lampings maßgebenden Kurzdefinition des lyrischen Gedichtes als "Einzelrede in Versen". Worin aber die Vor- und Nachteile von Lampings Definition bestehen, wird nicht erklärt. Und erst im Anschluss an das letzte Kapitel wird man in einer Literaturangabe auf dessen aktuellste Darstellung im "Handbuch Literaturwissenschaft" aufmerksam gemacht.

Interessant wäre es gewesen, darauf hinzuweisen, dass man - zuerst im Formalismus - einmal die Abweichungsästhetik als grundlegendes Merkmal lyrischer Gedichte ausgemacht hat, oder dass Roman Jakobson die poetische Funktion als Sprache um der Sprache willen zur Disposition gestellt hat. Auch die zu findende Angabe, der Begriff des "lyrischen Ich" sei im 20. Jahrhundert eingeführt worden, wäre durch die Erweiterung der Information, Margarete Susman habe dies 1910 getan, durchaus im Sinne der Prüfungsrelevanz qualitativ aufgewertet worden, ohne dass dabei der Umfang des Kapitels merklich gestiegen wäre. Beim Begriff "Paratext" werden diese Informationen (Gérard Genette, 1987; eigentlich im Original bereits 1982) im zwölften Kapitel schließlich auch geliefert.

Die Einleitung lädt allerdings zur Lektüre der in den Literaturhinweisen aufgeführten Werke ein. Angenehmerweise wird die Problematik des Begriffes "Gedicht" an einem metapoetischen Text Ernst Jandls exemplifiziert. Das sonst so gerne bemühte Ready-made von Peter Handke "Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968" wird als mögliche Aufgabe angeführt. Im Lösungsteil findet man im Übrigen nur Antworten auf Fragen, die relativ eindeutig zu beantworten sind: Strophenformen, rhetorische Figuren und metrische Analysen etwa. Über Termini lässt sich zwar trefflich streiten, doch mit ihnen lässt sich kein System bereiten. Ob Handke nun ein Gedicht geschrieben habe, darf man getrost im Seminar ausdiskutieren. Doch offenbar "muss jeder Leser selbst entscheiden" - womit alles Explizierende Lügen gestraft wird und einem totalen Relativismus Raum gegeben wird. Was nun letztlich ein Gedicht sei, wird nicht systematisch geklärt, aber in den tastenden Antworten werden heuristische Möglichkeiten gegeben. Der Einstieg soll schließlich zeigen, wie kompliziert die Sache eigentlich ist, und dass fast niemand weiß, was er meint, wenn er von "Gedichten" oder von "Poesie" spricht.

Angeregt von so vielen nicht beantworteten Fragen, aber noch nicht analytisch geschult geht man zu Kapitel zwei: ein Abriss der Lyrikgeschichte. Auch hier werden Appetithappen geboten und man wird zur weiteren Lektüre angehalten. Verständlicherweise kann das hier zu Vermittelnde nur angedeutet werden, ließe sich doch ohne weiteres zu jedem Terminus, mit dem dort hantiert wird, ein dickes Buch schreiben. Kein name dropping, keine Theoriengeschichte. Doch danach wird handfestes Wissen zur stilistischen Analyse von Lyrik geliefert.

Und darin besteht die Stärke des Buches: Komplexe Termini zur Metrik, zu Reim und Kadenz, Strophen- und Gedichtformen, zu Rhetorischen Figuren sowie Tropen werden anschaulich erklärt. Den Gedichtformen Sonett und Ballade wird ein eigenständiges Kapitel gewidmet. In sich sind die Kapitel wiederum sinnvoll gegliedert; die Strophenformen etwa nach der Anzahl der Verse oder die rhetorischen Figuren nach syntaktischen dann nach semantischen Kriterien. Die für Anfänger bisweilen schockierende Nomenklatur erhält dadurch eine Struktur, und immer wieder werden den Lesenden voller Empathie Tipps gegeben, etwa, dass man einzelne Odenstrophen auswendig lernen solle, um sich die Strophenschemata besser merken zu können.

Neben den im Abschluss an ein Kapitel aufgeführten Fragestellungen als Hinleitung zur "gelungenen Interpretation" rundet eine exemplarische Gedichtanalyse das im Kapitel Vermittelte ab. Dabei werden teils ältere kanonische, teils weniger bekannte und teils jüngere Gedichte herangezogen. Gelegentlich werden marginal anmutende Aspekte genauer beleuchtet, was wiederum für die Gewissenhaftigkeit des Autorenteams spricht. Abwechslung bieten auch die zur Veranschaulichung herangezogenen Textauszüge, die jeder Einführung ihren individuellen Charakter geben. Zur Illustration der Villanelle wird Oskar Pastior zitiert, als Beispiel für eine Aposiopese firmiert Peter Rühmkorf, was erfrischend neben dem ebenso vertretenen (und sicherlich prüfungsrelevanten) Klopstock-Goethe-Schiller-Hölderlin-Standard wirkt. Der Kanon wird gerne einmal aufgebrochen, die Relevanz eines solchen indes nicht bestritten. Da sieht man dem Autorenteam gerne einmal nach, dass sie konsequent "Worte" schreiben, wo sie "Wörter" meinen.

Der Versuch der Autoren, sich merklich von anderen Einführungen zu unterscheiden - im Übrigen erscheint in der Bibliografie keines der Konkurrenzwerke - gelingt vor allem in drei Kapiteln (12,13 und 14). Zunächst wird dort auf die paratextuelle Verflechtung von Gedichten in Zyklen oder Romanen eingegangen. Darauf folgt die exemplarische Analyse der intertextuellen Bearbeitung eines Prätextes durch Allusion in einem Posttext. Und zum Abschluss gibt es eine Beispielanalyse, in der in einem Rundumschlag die Anwendung des Gelernten erfolgt. Es entsteht jedoch der Eindruck, als ob eine gelungene Interpretation nicht ohne metrische Analyse auskomme. Bei einer intertextuellen Untersuchung kann das Unterfangen des fleißigen Silbenzählens hingegen ein wenig angestrengt wirken.

Ein Serviceteil und eine Bibliografie beschließen das Buch. Letztere ist leider nicht ganz komplett, da nicht alle angeführten Werke aufgenommen sind. Sehr anregend sind die Kurzkommentare zu den jeweiligen Werken, rührend gar, wenn eines davon als "eines der schönsten deutschen Bücher" gelobt wird. Kristin Felsner, Holger Helbig und Therese Manz haben somit eine praxisorientierte Einführung geschrieben, die man einerseits ob dieses gelegentlich sympathisch-unkonventionellen Tonfalls andererseits ob der durchweg exakten Erklärung notwendiger Begriffe gerne im Seminar anwenden möchte. Sie ist sowohl empfehlenswert für Studierende als auch für Lehrende auf der Suche nach Abwechslung.


Titelbild

Kristin Felsner / Holger Helbig / Therese Manz: Arbeitsbuch Lyrik.
Akademie Verlag, Berlin 2009.
296 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783050044347

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