Franz Kafka im 21. Jahrhundert

Ein von Marie Haller-Nevermann und Dieter Rehwinkel herausgegebener Sammelband untersucht die Krisen der Moderne im Werk des Prager Schriftstellers

Von Barbara TumfartRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Tumfart

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Sammelband beinhaltet Vorträge namhafter Wissenschaftler zum Thema "Franz Kafka. Visionär der Moderne", welche anlässlich eines von der Stiftung Genshagen veranstalteten Kolloquiums über den tschechischen Autor vom 31. März bis 2. April 2006 abgehalten wurden. Kafkas Werk bietet auch dem heutigen Leser viele Interpretationszugänge und eine Vielzahl unterschiedlicher Lesarten. Durch die darin dargestellten Krisen der Moderne und sein sprachliches Genie ist Kafka unbestritten auch für das 21. Jahrhundert von großer Aktualität.

Die im Sammelband vorliegenden Beiträge gehen der thematischen Frage nach der Gegenwärtigkeit des Prager Autors nach und fördern interessante und aufschlussreiche Details aus Werk und Tagebüchern zu Tage. Im ersten Beitrag untersucht Anke Bennholdt-Thomsen Kafkas Tagebücher und konstatiert darin einen Zwang zur Selbstbeobachtung, der zu einer Akzentuierung der visuellen Wahrnehmung führt. Folglich plädiert sie für eine genauere Auswertung der Tagebücher, die abseits ihrer klassischen Rolle als biografische Quelle eine hohe schriftstellerische Relevanz aufweisen und einen neuen Zugang zum literarischen Werk ermöglichen.

Den Hauptteil des Bandes nehmen mehrere Beiträge über die Rezeption Kafkas ein. Die mitunter schwierige und wechselvolle tschechische Kafka-Rezeption wird von Alice Stašková analysiert. Ihr Beitrag bietet unter Betonung der langjährigen politischen Instrumentalisierung Kafkas in der Tschechoslowakei eine Fülle an Informationen über tschechische Vermittler und Übersetzer von Kafkas Werken und beleuchtet die Rolle der Liblice-Konferenz im Mai 1963.

Anders verlief die Kafka-Rezeption in Frankreich. Hélène Cusa registriert ein bereits sehr frühes reges Interesse der französischen Schulbehörden am Werk des Prager Autors, was zu einer starken Rezeption unter dem breiten französischen Lesepublikum führte. Diese bereits sehr frühe intensive Auseinandersetzung mit Kafka brachte allerdings durch die Fülle an Übersetzungen und Bearbeitungen für die französische Bühne auch das problematische Phänomen der ,Einbürgerung' mit sich. Ergänzend dazu geht Hedwig Cambreleng der Frage nach, inwieweit eine Übersetzung gleichzeitig auch eine Interpretation darstellt und berichtet von der jahrzehntelangen "Übermacht" der Übersetzungsarbeit von Alexandre Vialette und Marthe Robert.

Erst in den 1970er- und 1980er-Jahren verstärkte sich in Frankreich die Auffassung, dass die Originalität des Ausgangstextes eine größere Rolle spielen sollte als die Normen des Zieltextes. Diese durch den Strukturalismus geprägte Neueinstellung führte zu mehreren Neuübersetzungen von Kafkas Werken und zu einer verstärkten Treue zum Original. Zum Abschluss des Themenblockes der Rezeption beleuchtet Adam Krzeminski die problematische Aufnahme Kafkas in Polen, welche sich bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein an der politischen Komponente des Werkes orientierte. Erst durch den Zusammenbruch des Kommunismus gelangte in der neueren polnischen Kafka-Rezeption zusehends die psychologische Dimension von Kafkas Schreiben in den Vordergrund. Beispiele der zeitgenössischen literarischen Rezeption bietet das polnische Kafkaportal mit belletristischen Werken von Anna Bolecka, Remigiusz Grzela und Mariusz Kuleta.

Neben der Beleuchtung der Rolle der tschechischen Hauptstadt Prag im literarischen Werk des Autors durch Josef Cermák und der Bedeutung des Judentums und der jüdischen Assimilation in "Der Verschollene" und "Das Schloß" durch Bernd Neumann versuchen die restlichen Beiträge eine Neudeutung von Kafkas Werk im Sinne der Moderne.

So begibt sich Peter-André Alt auf die Spuren der Voyeure, Flaneure und einsamen Junggesellen in Kafkas Prosa und spürt neurotische Selbstbeobachtungsrituale auf, die stets aus einem Scheitern sozialer Verbindungen resultieren. Zudem betont Alt die große Rolle der Figur des Zirkusartisten im Schaffen Kafkas und seine symbolische Bedeutung. Durch die unterschiedlichen Interessen von Künstler und Publikum könne es nie zu einer wirklichen Verständigung kommen, und die schriftstellerische Arbeit sei immer ein mit Schmerz verbundener Kampf.

Stefanie Rinke untersucht in ihrem Beitrag die Bedeutung der Träume in Kafkas Schreiben und Leben und betont die Unvereinbarkeit der schriftstellerischen Existenz und des bürgerlichen Lebens, die auch Kafkas Beziehung zum allmächtigen und omnipotenten Vater prägte. Thomas Anz charakterisiert letztendlich Kafkas Protagonisten als Verlierertypen, als demontierte Helden der Moderne, die einen aussichtslosen Kampf gegen und um Macht und um Anerkennung führt. Gleichzeitig würden diese Antihelden im Laufe des literarischen Geschehens verkleinert, reduziert und stünden hilflos übermächtigen Kontrastfiguren gegenüber.

Als Abschluss des Sammelbandes findet sich ein Gespräch der Herausgeberin Marie Haller-Nevermann mit der kürzlich mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Autorin Sibylle Lewitscharoff, das erneut die Aktualität und die ungebrochene Gültigkeit Kafkas für die heutige Gesellschaft betont.


Titelbild

Marie Haller-Nevermann / Dieter Rehwinkel (Hg.): Franz Kafka - Visionär der Moderne.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
166 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302730

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