Wenn nur noch Fallobst sinnvoll ist

Günter Grass‘ Tagebuch „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland“ von 1990 ist ein Buch des Unmuts

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 20. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer steht bevor, und schon frühzeitig beginnt man, an die epochale Wende zu erinnern, obwohl es eines solchen Erinnerns kaum bedarf. Denn trotz des zeitlichen Abstands ist das historische Geschehen präsent, und seine Bewertung und besonders die Bewertung seiner Folgen sind Gegenstand der politischen Auseinandersetzung geblieben. An dieser beteiligt sich nach wie vor Günter Grass. Er tut es, indem er noch einmal als Zeitzeuge auftritt und ein von Anfang 1990 bis Februar 1991 geführtes Tagebuch veröffentlicht.

Obwohl eigener Einschätzung zufolge kein „passionierter Tagebuchschreiber“, bedient Grass sich des Genres nicht zum ersten Mal. Schon „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ greift auf Aufzeichnungen aus dem Wahlkampf von 1969 zurück, und auch während seines Aufenthalts in Kalkutta 1986 führte er Tagebuch, Grundlage seines Indien-Buchs „Zunge zeigen“. Die außergewöhnlichen politischen Ereignisse machen ihn 1990 wiederum zum Diaristen, der diesmal jedoch ohne literarische Einkleidung und Zutat auskommt. Leider ist das entscheidende Ereignis, die Öffnung der Mauer im November 1989, bereits verpasst und verpasst ist auch das für die Aufzeichnungen angemessene Erscheinungsdatum: Was kurz nach dem Ende der deutschen Teilung hätte Aufsehen erregen können, ist knapp zwei Jahrzehnte später kaum mehr als eine zeithistorische Quelle unter anderen ihrer Art. Die Ereignisse sind bekannt und ihre überaus negative Einschätzung durch Grass ist es auch, spätestens seit dem Roman „Ein weites Feld“ (1995). Wer trotzdem eine Gedächtnisstütze braucht, dem kommt Grass mit dem Bändchen „Als der Zug abfuhr“ zu Hilfe, das seine 1989 bis 1991 publizierten Verdikte über den Einigungsprozess enthält. Den halbwegs informierten Leser jedoch langweilen die mit eintöniger Penetranz vorgetragenen Warnungen.

Auf die Frage, warum er das Tagebuch von 1990 erst jetzt, 20 Jahre später, veröffentliche, hat Grass in der „ZEIT“ die Antwort gegeben: „Ich möchte einigen Sonntagsrednern in die Suppe spucken“. Sonntagsredner sind für ihn diejenigen, welche im Rückblick die Vereinigung der beiden deutschen Staaten als nationale Errungenschaft zu feiern geneigt sind, während er daran festhält, dass die deutsche Einheit missglückt ist. Obschon nicht in allen Punkten im Unrecht, macht er dennoch den Eindruck eines Polemikers, dem die Munition ausgegangen ist und der deswegen überlebte Argumente bis zum Überdruss wiederholt und neue nicht mehr sorgsam abwägt. Anders ist die von ihm vorgenommene Verknüpfung der aktuellen weltweiten Finanzkrise, die doch gewiss nicht von Deutschland ausgegangen ist, mit der deutschen Wiedervereinigungspolitik kaum erklärbar: „Wir löffeln jetzt die Suppe aus, die wir uns damals eingerührt haben“. Die jetzige Veröffentlichung des Tagebuchs bezeugt eine Rechthaberei des „Schwarzsehers der Nation“ – so nennt sogar Erich Loest den mit ihm befreundeten Grass –, der es nicht zur hinreichenden Entschuldigung dienen kann, dass auch manche hoffnungsvolle Prophezeihung falsch war.

Grob gesehen lassen sich die Eintragungen des Tagebuchs zwei Rubriken zuordnen: Da ist einmal der umtriebige Großschriftsteller, der viel herumreist, öffentlich auftritt und politisch Flagge zeigt; zum andern erleben wir den Autor bei der stillen Textarbeit, den Künstler beim Zeichnen und last but not least den Menschen Grass in seiner privaten Sphäre.

Sein öffentliches Leben ist randvoll und enthält viele Höhepunkte, die aber der an Ruhm gewöhnte Diarist nicht als außergewöhnlich zu empfinden scheint. Beeindruckend ist die Zahl der renommierten Persönlichkeiten, denen er im Lauf nur eines Jahres begegnet. Im Mai begleitet er den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker bei einem Besuch Polens, in dessen Verlauf er auch Lech Walesa trifft, der übrigens unfreundlich charakterisiert wird: „platzt mittlerweile vor Würde“. Im Juni geht es wieder nach Polen, wo er die Ehrendoktorwürde der Universität Posen entgegennimmt. Zwischen die beiden Polenreisen fällt ein Treffen der Veteranen der Gruppe 47 in Prag; sie werden vom tschechoslowakischen Präsidenten Václav Havel empfangen. Im August nimmt Grass an einem von Elie Wiesel nach Oslo einberufenen Kongress über „The Anatomy of Hate“ teil, an dem unter anderem Nelson Mandela, György Konrád, Václav Havel, Nadine Gordimer, Jimmy Carter und François Mitterrand teilnehmen. Gegen Mitterrand tritt Grass offen auf und wirft ihm vor, „eine nur rhetorische, das heißt leere Rede gehalten zu haben“. Die „inhaltslose Schönrede“ des französischen Präsidenten verstimmt ihn erneut einen Monat später bei einer anderen Konferenz in Paris.

In Deutschland trifft er in erster Linie mit Parteifreunden aus der SPD zusammen, obwohl er bereits den Austritt aus der Partei erwägt und die Distanz zu Willy Brandt wegen dessen Haltung zur Wiedervereinigung immer spürbarer wird. Was er über ihn und über andere Politiker und auch Politikerinnen schreibt – es kommt zu einer Art Zusammenarbeit mit der Grünen-Politikerin Antje Vollmer –, sind Marginalien, die keine große Aufmerksamkeit verdienen.

Bemerkenswerter wird das Tagebuch, liest man es weniger unter politischem Aspekt – obwohl dieser vorherrscht und der ausgreifende Titel „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland“ dazu auffordert – als vielmehr mit Blick auf den Texte konzipierenden Autor, den Künstler und den Menschen Grass. Sofern er nicht mit politischen Reden und Aufsätzen beschäftigt ist, wälzt Grass den Plan zur Erzählung „Unkenrufe“ im Kopf herum: Plot, Charaktere, narrative Mittel, außerdem Einbeziehung der jüngsten politischen Entwicklung in die vom deutsch-polnischen Verhältnis bestimmte Handlung werden detailliert erwogen und mehrfach modifiziert. Die erste Niederschrift erfolgt dann zu Beginn des Jahres 1991. Nach und nach jedoch wird sein Interesse an der Erzählung geschmälert durch das Projekt zu einem „dicken“ Buch: Der Plan zu „Ein weites Feld“, Arbeitstitel noch „Treuhand“, nimmt Gestalt an. Das Tagebuch stellt also dem an textgenetischen Fragen interessierten Philologen aufschlussreiches Material zu zwei Erzählwerken bereit.

Mehr noch als dem Schreiben widmet sich Grass 1990 dem Zeichnen, das er zuweilen fast rauschhaft betreibt, bietet es ihm doch Zuflucht vor der politischen Welt und anderen Kümmernissen. „Möchte weder Pole noch Deutscher sein, sondern zeichnen“, notiert er während der in Begleitung des Bundespräsidenten unternommenen Reise nach Polen, deren Sinn er nicht recht einsieht; und einem enervierenden Telefonat folgt der Stoßseufzer: „Gäbe es nicht das große und kleine Zeichenbrett!“ Allerdings ist das Zeichnen keine Flucht in die Idylle, sondern es hält die Zerstörung der Natur fest: das überall wahrnehmbare Waldsterben und die Folgen des Braunkohleabbaus in der Niederlausitz.

Was den Menschen Grass angeht, so erhalten wir einige Einblicke in sein Familienleben, über das uns schon das im Vorjahr erschienene autobiografische Werk „Die Box“ ins Bild gesetzt hat. Das Tagebuch bietet Variationen und Ergänzungen. Allerdings bleibt der Privatmann Grass meist diskret und belässt es bei Hinweisen, die Neugier wecken, ohne sie zu befriedigen. Offenbar macht seine Ehe eine Krise durch. Davon erfährt man lediglich durch kryptische Andeutungen und außerdem erst nachträglich, als sich die Harmonie zwischen den Eheleuten wieder einzustellen beginnt. Was sich nur erahnen lässt, wüsste man gern genauer, denn die Ehekrise trägt offenbar zum psychischen Missbefinden von Grass bei: Er selbst diagnostiziert eine „umfassende Depression“. Diese wird eben nicht nur ausgelöst durch die politische Entwicklung, die drohende Klimakatastrophe, das Altern und gesundheitliche Defizite – er muss sich wegen eines Leistenbruchs operieren lassen –, sondern auch durch atmosphärische Eintrübungen im persönlichen Umfeld. Alles fasst der Sinnbildlichkeit suggerierende Eintrag zusammen, der die Notizen eines Oktobertags abschließt, an dem Grass vom Sturm herunter geschütteltes Obst aufgelesen hat: „Zur Zeit ist einzig das Fallobst sinnvoll.“ Ein in seiner lakonischen Melancholie schöner Satz.

Titelbild

Günter Grass: Als der Zug abfuhr. Rückblicke auf die Wende.
Steidl Verlag, Göttingen 2009.
96 Seiten, 6,00 EUR.
ISBN-13: 9783865219022

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Titelbild

Günter Grass: Unterwegs von Deutschland nach Deutschland. Tagebuch 1990.
Steidl Verlag, Göttingen 2009.
256 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783865218810

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