Ein Germanist als Freibeuter

Auf den Spuren Robert Minders

Von Anne KwaschikRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Kwaschik

Scheherazade erzählt - und überlebt. Aus Neugier auf das Ende der im Morgengrauen unterbrochenen Geschichte verzichtet der Sultan darauf, die Erzählerin entgegen seiner Angewohnheit zu töten. Die kunstvollen Geschichten der Wesirstochter, die mit Unterstützung ihrer Schwester auch in den tausend Folgenächten den Sultan fabulierend in Atem hält, haben aufschiebende, lebensrettende und auch zivilisatorische Wirkung. Jede einzelne Nacht hätte schließlich ein neues Opfer bedeutet. Wozu Literatur? Die Frage stellt sich nicht. Und wer sich in der Nachfolge Scheherazades in den Diensten der Literatur sieht, haftet mit seiner Person.

Der junge Elsässer Robert Minder (1902-1980), der sich im Herbst 1920 in Straßburg für das Fach Germanistik einschrieb - eigentlich wollte er Arzt oder Orchesterdirigent werden -, hatte die Literatur schon früh "als Komplizin innerster Träume empfunden und sie zugleich als Trägerin kollektiver Leitbilder sehen gelernt". Immer wieder inszenieren seine viel gelesenen Essays über deutsche und französische Literatur deren Wechselspiel zwischen Innen und Außen, Besonderem und Allgemeinem, Individuum und Gesellschaft und erzielen damit in der Bundesrepublik der 1960er- und 1970er-Jahre einen außerordentlichen Erfolg. Die 10.000 Exemplare des ersten Essaybandes sind bereits nach vier Monaten vergriffen, und insgesamt zirkulieren fast 50.000 Exemplare der ersten beiden Essaybände "Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich" (1962) und "Dichter in der Gesellschaft" (1966).1968 wird Minder Suhrkamp-Autor. Unter dem Titel "Hölderlin unter den Deutschen" erscheinen seine Texte in der regenbogenfarbenen Avantgardereihe des Verlags. Drei Jahre später folgt in der Bibliothek Suhrkamp die letzte Essaysammlung "Wozu Literatur" (1971), die - wieder unter Bezug auf Friedrich Hölderlin -, trotzig-fordernd und lakonisch Bilanz zieht.

Minder ist ein taktvoller Literaturwissenschaftler. Der Literatur und den Dichtern begegnet er mit großem Respekt und einer bemerkenswerten sprachlichen Sensibilität. Nicht ohne Grund gilt dieser Kritiker in den 1960er- und 1970er-Jahren als "liebenswertester Vorstreiter der deutschen Literatur in Paris" (Walter Höllerer). Spontan fertigt Minder Skizzen gelungener Satzgefüge an, enttarnt literarische Figuren oder bedankt sich bei befreundeten Schriftstellern für gelungene Adjektive. Der Germanist kennt das schwierige Geschäft mit dem geschriebenen Wort. Auch er muss immer wieder, zwischen den Idiomen jonglierend, um den Klang seiner Sprache kämpfen. Minders Sprache ist konkret und anspielungsreich zugleich. Sie ist knapp, wo sie knapp sein muss - etwa wenn sie Heidegger mit harten parataktischen Fügungen zu Leibe rückt, und weich, wo sie weich sein muss - dann,wenn sie Jean Pauls Welten wie mit Lianenschlingen einzufangen sucht.

Lebenslang bleibt Minder, dessen Essays nicht zuletzt ihrer Lesbarkeit wegen breit rezipiert werden, fasziniert von der Magie des dichterischen Wortes. Dessen gesellschaftliche Einbindung gerät ihm gleichwohl nie aus dem Blick. Auch dies lehrt ihn die Tochter des Wesirs.

Der Erfolg des Essayisten

Minders Essays werden als Kabinettstücke deutscher Prosa und kritische Anmerkungen zu deutschen Befindlichkeiten gefeiert. Mit ihrer Kritik an dem, was man Deutsche Ideologie nennen könnte, setzen sie Denkprozesse in Gang, die zur kritischen Umorientierung der bundesdeutschen Gesellschaft in den frühen 1960er-Jahren gehören. "Man muß das als Deutscher lesen. Wer dem ausweicht, setzt sich ins Unrecht - und nur wer annimmt, was uns da ins Stammbuch geschrieben wird, kann und darf einiges korrigieren", hatte nach Erscheinen des ersten Essaybands wohlwollend die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" konstatiert. Minders Texte erscheinen dem Rezensenten so "modern" und "streitbar", dass er ihre Veröffentlichung in der traditionell und bibliophil gestalteten Reihe der Inselbändchen als Ironie empfindet.

Viel zitiert wird insbesondere der Essay zum "Bild des Pfarrhauses in der deutschen Literatur", in dem Minder die Tiefenwirkung der "protestantischen Sozialethik" und ihre "nestversponnene Innerlichkeit" geißelt. Seine Hauptkandidatin für "die Tiefenwirkung" dieser Sozialethik, die ihren Ausgang nimmt vom "Grundgefühl einer gottgewollten Gemeinschaft im Staat, dessen Fundamente nicht zur Diskussion stehen", ist Ina Seidel. Als weibliches Pendant zu Jochen Klepper ist sie vor allem als Gegenpol "zur souveränen Haltung Ricarda Huchs" inszeniert. Wohlgemerkt - und dies ist im Eifer der zeitgenössischen Diskussion übersehen worden - richtet sich Minders Kritik nicht gegen die deutsche Innerlichkeit, sondern gegen ihre "kleinbürgerlich-pervertierte Schrumpfform", die sich "ohne den leisesten Widerstand einer massiv hereinmarschierenden Pseudo-Gemeinschaft" ausliefert.

Ein Klassiker ist auch die Sadomasochismus-Analyse im Kadettenhaus-Essay geworden, die direkt in die jüngste deutsche Vergangenheit führt. Sie bringt Literatur und Politik in so ungewohnt deutlicher Weise zusammen, dass ein bekannter Münchner Literaturhistoriker in der "Süddeutschen Zeitung" sich aufgefordert fühlte, vehement Einspruch gegen derlei "Eskapaden in außerliterarische Provinzen" zu erheben. Minder hatte - zur Empörung des deutschen Kollegen - einen Bericht der Figur Basini aus Robert Musils Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" mit psychiatrischen Gutachten und Geständnissen von "KZ-Leitern" parallelisiert und, einer Äußerung Musils folgend, eine Verbindung zu den "Triebgrundlagen des Dritten Reiches" hergestellt.

Immer wieder melden sich vereinzelt die Gegner einer solch engen Verbindung von Literatur und Politik mit mentalitätsgeschichtlichen Schlussfolgerungen. Die Mehrzahl der Leser aber nimmt die Kritik dankbar und mit einem im Nachhinein erstaunlichen Selbstbezichtungsgestus an. "Die offiziöse deutsche Literaturbetrachtung kann diesen Widerspruch, den scharfen Spiegel vor der verinnerlichten Miene, brauchen und vertragen" schreibt Reinhart Baumgart in der "Zeit". Der Curtius-Schüler und langjährige Direktor des Münchner Goethe-Instituts Werner Ross spricht in seiner euphorischen Besprechung im "Merkur" gar die Hoffnung aus, der erste Essay des Bands möge als "Bilanz und Beschreibung eines Bankrotts" niemanden in Deutschland mehr ruhig schlafen lassen.

Die Texte werden so direkt auf die deutsche Situation bezogen, dass Minder in einem Leserbrief für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" die deutsch-französische Blickrichtung seiner Essays eigens in den Vordergrund rücken muss. Vorsichtig wendet der Komparatist ein, dass die Essays schließlich nicht nur Deutschland kritisierten. Diskret besteht Minder auf der europäischen Perspektivik seiner Texte gegenüber einer Rezeption, die diese zugunsten aktueller Bezüge auf deutsche Verhältnisse übersehen hat.

Als dann wenige Jahre später der zweite Essayband "Dichter in der Gesellschaft" erscheint, ist Minder in den deutschen Feuilletons kein Unbekannter mehr. In den großen überregionalen Zeitungen sind die Essays vorabgedruckt worden und ihr Autor hat zahlreiche Preise und andere Ehrungen erhalten. Der Band überrascht mit zarten Porträts Jean Pauls und Johann Peter Hebels, die eigentliche Sensation aber ist die sozioliterarische Analyse der "Sprache von Meßkirch", mit der Minders Heideggerkritik ihren Höhepunkt erreicht. Der Text greift in weite kulturhistorische Horizonte aus und bleibt doch immer dicht am Detail, körnig-konkret schöpft Minders Sprache ihre Möglichkeiten aus, wenn sie Heidegger kritisiert.

Der Germanist als Freibeuter

Als Freibeuter inszeniert sich der Kulturhistoriker, der die Grenze zur Philosophie übertritt. Nur ein paar Seitenschüsse auf das "stolze Schiff" Heidegger wollte er abfeuern. Ein Skandal war bereits im Jahr 1965 seine Rede "Hölderlin und die Deutschen" in Tübingen gewesen. Diese wurde breit besprochen und machte aus dem Essayisten endgültig den Kritiker deutscher Ideologie.

Sichtbar wird nun in Deutschland Minders Koalition mit Theodor W. Adorno, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Deutschland als intellektueller Gegenpart Heideggers gilt und zwei Jahre vor Minder vor der Hölderlin-Gesellschaft über die späte Lyrik Hölderlins gesprochen hat.

Die beiden Männer kennen sich seit 1956. Minder hatte dem Soziologen eine Nummer seiner Deutschland-Zeitschrift "Allemagne d'aujourd'hui" gesandt, in der Annahme, der Geist der Zeitschrift und insbesondere der eigene Beitrag stünden den Auffassungen Adornos nicht fern. Er hatte sich nicht getäuscht. Schon während des ersten Treffens im Winter 1958 in Paris war ein Vortrag Minders in Frankfurt mit "literarsoziologischem Inhalt" verabredet worden. Und im März 1961 hatte dann Minder Adorno zu einer Vortragsreihe nach Paris eingeladen, aus der wenige Jahre später die "Negative Dialektik" hervorging.

Minders Hölderlin-Rede aber war kein Antiheidegger-Pamphlet gewesen. Das Skandalon des Vortrags lag vielmehr in der Politisierung des Dichters. Minders Hölderlin wird mit Hilfe eines fulminant inszenierten geistesgeschichtlichen Panoramas mitten im Schwaben des 18. Jahrhunderts platziert. Politik war für Hölderlin und seine Freunde aus dem Tübinger Stift um 1790 "eine Lebensnotwendigkeit und ein Fundament des Denkens", resümiert der Franzose. Er setzt gegen den Geist eines geheimen, erst noch zu konstituierenden Deutschlands, dessen Herold Hölderlin sei, den "Geist" des protestantischen Schwabenlands, der den Dichter prägt. Unverhohlen visiert er damit "die sektiererische Abkapselung" Hölderlins durch Heidegger an.

Heidegger tritt aufgrund der Angriffe des "Herrn M." drei Jahre später aus der Hölderlin-Gesellschaft aus. Diesem aber geht es um mehr. Minder hat mit den hoch suggestiven Bildern seiner Essays allgemeine enthistorisierende deutsche Denkgewohnheiten im Blick. Als "metaphysisch-anthropologische Sauce" hatte Adorno deutsche Dinge, wie verhärtetes Ursprungsdenken oder den obligaten "Gang zu den Müttern", im "Jargon der Eigentlichkeit" bezeichnet.

Vom Entwicklungshelfer zum "Klassiker deutsch-französischer Koexistenz"

Minders Karriere als deutscher Essayist ist ebenso erstaunlich wie seine Bedeutung für die deutsche Germanistik. Es scheint, als wäre, wer in den 1970er-Jahren an deutschen Universitäten germanistisch oder romanistisch ausgebildet wurde, an den Minder'schen Essays nicht vorbeigekommen, deren unorthodoxe Methodik zu eigenen Versuchen anspornte und zwischen den verhärteten Fronten der Zeit dankbar als "dritter Weg" akzeptiert wurde. Als der Suhrkamp Verlag 1975 Minders thèse über Karl Philipp Moritz, die mittlerweile immerhin fast fünfzig Jahre alt ist, in seiner Wissenschaftsreihe neu herausbringt, ist Minder auch als Wissenschaftler im engsten Sinne auf dem deutschen Buchmarkt präsent und kann in Proseminaren empfohlen werden.

Der Blick auf die 1960er-Jahre zeigt Minder als "französischen Entwicklungshelfer" deutscher Mentalitäten. "Wir sind auf Ihre Mitarbeit angewiesen, sozusagen als Korrektur von außen her", schreibt der Schriftstellerkollege und Freund Hans Erich Nossack aus der Literaturklasse der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur in den frühen 1960er-Jahren nach Paris. Er bestätigt Minder in der Rolle eines "französischen Intellektuellen", der seinen "öffentlichen Verpflichtungen" in Deutschland nachkommt. Die Wahrnehmung als "französischer Entwicklungshelfer" inkludiert nicht nur ein allgemeines gesellschaftskritisches Potential, sondern bedeutet immer auch eine Gegenposition zu einer schwer bestimmbaren "deutschen Intellektualität".

Insbesondere für die 1960er-Jahre, in denen die emphatische Idee einer selbstbestimmten öffentlichen Meinung in Deutschland an Raum gewinnt, ist das französische Gegenbild konstitutiv. Immer wieder werden die Verbalinjurien Ludwig Erhards dem Verhalten Charle de Gaulles gegenübergestellt, der Jean Paul Sartre nicht inhaftieren ließ, als er die verbotene Zeitung "La cause du peuple" verteilte. Auch für Minder ist das "Kanzlerwort vom Avantgardisten als Pinscher" keine Entgleisung, sondern Tradition. Eigens fügt er diesen aktuellen Bezug in die Druckfassung seiner Rede vor der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung von 1964 ein.

Minders Überlegungen zum unterschiedlichen Grad der Einbürgerung deutscher und französischer Schriftsteller begleiten die Versuche der bundesdeutschen Schriftsteller, tradierte antiintellektuelle Denk- und Aktionsmuster zu überwinden. Im Jahr 1960 hatte die Anthologie "Ich lebe in der BRD" von Wolfgang Weyrauch distanziert-solidarisch nach dem Ort des Dichters in der Gesellschaft gefragt. Ein Jahr später schon wird der Rowohlt-Band von Martin Walser "Die Alternative - oder brauchen wir eine neue Regierung?" konkret-politisch. Und mit Hans Werner Richters Sammelband "Plädoyer für eine neue Regierung", dem "Wahlkontor deutscher Schriftsteller" und den Wahlreden Günther Grass' ist an der Nähe der deutschen Schriftsteller zur Politik im Jahr 1965 nicht mehr zu zweifeln.

Minders Erfolg als Hoffnungsträger einer emanzipatorischen deutschen Öffentlichkeit ist an diese frühen Diskussionen über das Verhältnis von Literatur und Politik gebunden, das kein anderes ist als das von Geist und Macht. Entscheidend für die deutsche Karriere des französischen Germanisten sind neben den Modernisierungs- und Demokratisierungsprozessen in der Bundesrepublik der 1960er-Jahre die staatliche Förderung der Verständigung mit Frankreich im Zeichen der Westintegration und die beginnende sogenannte "Vergangenheitsbewältigung" der Deutschen. Minders erster Essayband "Kultur und Literatur in Frankreich und Deutschland" erscheint 1962, im Jahr der Spiegel-Affäre und der spektakulären Sommerreise Charle de Gaulles durch Deutschland - ein Jahr nach Beendigung des Eichmann-Prozesses in Jerusalem und ein Jahre vor Eröffnung der Frankfurter Auschwitzprozesse.

Das verdrängte Hauptwerk

Der Erfolg des Essayisten in Deutschland hat den Blick auf das kulturhistorische Großprojekt "Allemagnes et Allemands" verstellt, das seinem Autor nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich schlagartig den Ruf eines Deutschlandexperten einbrachte. Das unbekannte Hauptwerk Minders formuliert nicht nur die ideologiekritische Perspektive, aus der dieser in den 1960er- und 1970er-Jahren über Deutschland spricht und schreibt, sondern erprobt auch zum ersten Mal die mentalitätsgeschichtliche Ebene von Minders Nachkriegsarbeiten.

Natürlich ist das Deutschlandbuch, als es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erscheint, ein Beitrag zur Erklärung der nationalsozialistischen Katastrophe und ein Kommentar zur französischen Besatzungspolitik. Es setzt sich mit den französischen Interpretationstraditionen des "deutschen Problems" auseinander und führt in der Art eines Handbuchs in eine kritische Deutschlandkunde ein. Vor allem aber ist es eine wissenschaftliche Programmschrift. "Comment l'Allemand imagine-t-il - et a-t-il imaginé à travers les siècles - les différentes régions dont l'ensemble constitue sa patrie?" - fragt der Germanist im Vorwort und siedelt seinen "essai de synthèse" auf der "dritten Ebene" der Geschichtswissenschaften an, die Ernest Labrousse denen der "Ökonomie" und der "Gesellschaft" an die Seite gestellt hat.

Von den vielen einander überlagernden Perspektiven, die das Buch gleichzeitig und manchmal auch gegeneinander verfolgt, ist die mentalitätsgeschichtliche Fragestellung die entscheidende, und kein Geringerer als Lucien Febvre hat dies bereits in seiner Rezension für die "Annales" betont.

Die Besonderheit von Minders Fragestellung ist ihre regionale Perspektive. Schon im Plural des Titels empfiehlt sich der Verweis auf die Regionen programmatisch als neue Blickrichtung auf die Imagination der deutschen Nation. Demonstrativ vollzieht Minder im Aufbau seines Buches die intellektuelle Bewegung von der Auseinandersetzung mit Deutschland als Nationalstaat zu der Auseinandersetzung mit einem pluralen Deutschland der Regionen: Nachdem er im ersten Teil in einer allgemeinen deutschen Kulturgeschichte die Beteiligung der verschiedenen Regionen Deutschlands an der nationalen Geschichte beschrieben hat, ändert er in den Folgebänden die Perspektive und will mit der Analyse der Mythen von den einzelnen Provinzen vorführen, wie die Deutschen sich ihre Regionen vorstellen.

Minders Projekt ist auf drei Bände angelegt. Auf die Überlegungen zum Rheinland, die den zweiten Teil des 1948 erschienenen Buchs darstellen, sollen in zwei Bänden eine Gegenüberstellung Schwabens und Niedersachsens und eine Gegenüberstellung Bayerns und Preußens folgen. Beide sind jedoch nicht erschienen.

Immer wieder ändert Minder die Konzeption und sitzt in den Semesterferien an dem Text, der sein Lebenswerk werden soll. Die Doppelperspektivik des Projekts ist faszinierend, aber schwer durchzuhaltenden. Es soll eben nicht nur eine Art Einführungslexikon in eine umfassende Deutschlandkunde sein, sondern gleichzeitig ein kritisches Inventar der zentralen deutschen Mythen. Ausgehend von den Fragen, welche Bilder die Deutschen von sich und ihrer Geschichte im Kopf haben und welche Rolle regionale Identitäten bei der Herausbildung der "nationalen Geschichtsoptik" spielten, soll das Buch methodisch innovativ sein.

Mit den Jahren aber ist das Material ins Unübersehbare angewachsen, und es stellt sich die Gewissheit ein, dass das französische Projekt wohl ein Torso bleiben wird. Immer wieder fragt sich der Germanist, wie man ein solches Monumentalprogramm hätte umsetzen können. Die Abschiedsvorlesung am Collège de France 1973 wird zu einer mea culpa. Natürlich erschwerte die Teilung Deutschlands die Realisierung eines solchen regionalistischen Projekts, natürlich wandelte sich das Forschungsobjekt dem Forscher unter der Hand und die Methoden der 1940er-Jahre müssen sich anfragen lassen, aber hätte nicht eine interdisziplinäre Forschungsgruppe, ausgestattet mit einem großzügigen Etat, die Aufgabe lösen können? Eine Art Deutschland-Labor am Collège de France?

Der Skeptiker und Ironiker Minder lässt seinen Bedenken und Zweifeln freien Lauf, eines aber erwähnt er nicht: seine Verunsicherung durch die Zweisprachigkeit. Das "Doppelleben" des Elsässers zwischen zwei Sprachen hat sich als manifestes Schreibhindernis herausgestellt. Die Leser der deutschen Essays loben die Tatsache, dass beide Sprachen sich immer und ungewollt durchdringen und die Darstellungsweise der einen auf die andere abfärbt. Den kreativen Sprachgestalter selbst ängstigt das Eigenpotential der Sprache.

Pardon wird nicht gegeben

Der Gedanke, an den eigenen Ansprüchen gescheitert zu sein, lässt Minder nicht mehr los. Überquellende Zettelkästen, Bücherskelette in den Regalen - die Liste der ungeschriebenen Bücher ist lang. Immer häufiger wendet sich der Blick des Germanisten in den 1970er-Jahren zurück. In die Fragen nach der eigenen Leistung mischt sich die Trauer um die Freunde. "Wie kam es, dass wir 1940/45 davon kamen?", sinniert Minder. Lebhaft steht ihm der 16. Mai 1940 vor Augen, als ihn Alfred Döblin, mit dem er ein Büro im französischen Informationsministerium teilte und Flugblätter gegen die Deutschen schrieb, auf die Straße geholt hatte. Gemeinsam hatten sie vor dem requirierten Hôtel Continental gegenüber dem Tuilerienpark gestanden und beratschlagt, wie der gemeinsame Freund Hermann Kesten unbehelligt von den französischen Sicherheitsbehörden aus Paris entkommen könnte. Kesten hatte Glück, knapp gelang ihm die Flucht nach Amerika. Ebenso wie dem Ehepaar Döblin, mit dem Minder im Juni 1940 gemeinsam vor den Deutschen aus Paris floh. Im Juli 1940, am letzten Gültigkeitstag des Ausreisevisums, "lieh" ihnen ein französischer Präfekturbeamter das fehlende Geld für die Zugfahrt von Marseille über Perpignan nach Lissabon und ermöglichte die Flucht nach New York.

Andere wurden aufgegriffen und deportiert. Freunde, wie das Philosophen-Ehepaar Landsberg aus Bonn. Vor seiner Emigration wurde Paul Landsberg als Nachfolger Max Schelers gehandelt. In Paris hatte er nach 1936 Anschluss an die Kreise um Jean Wahl gefunden, und seine Theorie des Engagements war nicht nur für die Personalisten wichtig gewesen, die sich um den katholischen Philosophen Emmanuel Mounier und die Zeitschrift "Esprit" sammelten. Alles war für seine Ausreise in die USA vorbereitet, die Papiere lagen bereit, aber Landsberg wollte in der Nähe der Anstalt bleiben, in der seine Frau Madeleine (Magdalena) nach dem psychischen Schock der Internierung in Gurs behandelt wurde. Er wurde denunziert und nach Oranienburg deportiert. Die Witwe des Freiburger Kunsthistorikers Ernst Polaczek, eines engen Mitarbeiters Georg Dehios, wurde in Auschwitz vergast. Minder hatte Friederike Polaczek ein Versteck in Grenoble besorgen können, aber sie wurde bei einer Razzia gefunden.

Einigen Emigranten konnte Minder, der seit Herbst 1940 als Germanist an der Grenobler Universität lehrte, helfen. Sein Büro an der Fakultät war eine wichtige Anlaufstelle für deutsche und tschechische Flüchtlinge. Pässe wurden besorgt, Arbeitsstellen und andere Kontakte vermittelt, bis die Gestapo nach Minder suchte und er aufs Land flüchten musste. Aber was bedeutet das angesichts des Ausmaßes der Katastrophe, der Aktionen und Schicksale der anderen? Der Freund Pierre Brossolette, mit dem Minder als junger Normalien 1923 eine internationale Verständigungsgruppe gegründet hatte, die Schriftsteller und Intellektuelle zu Gesprächsrunden in die Rue d'Ulm einlud, war im März 1944 aus dem Fenster der Pariser Gestapozentrale gesprungen, um die Details seiner Londoner Mission nicht preiszugeben. Der französische Mentalitäten-Historiker Marc Bloch, der in den 1920er-Jahren an der Straßburger Fakultät eine Gehaltserhöhung Minders befürwortet hatte, wurde im Juni 1944 als Mitglied des "Franc-Tireur" erschossen. Der Soziologe Maurice Halbwachs, dessen Überlegungen zum "kollektiven Gedächtnis" Minders Forschungen in den 1940er-Jahren eine neue Richtung gaben, verhungerte im März 1945 in Buchenwald.

Mit dem querulatorischen Erzähler Döblin verbindet Minder die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die Trauer über den Tod so vieler und das Nachdenken über die deutschen Ursachen. Menschlich schwer wiegt deshalb das Ausbleiben der viel versprechenden Monografie über den wohl engsten Dichterfreund. Alles hatte 1937 mit einem Artikel Minders über Döblins Exilroman "Pardon wird nicht gegeben" begonnen, nach dessen Lektüre Döblin dem Germanisten enthusiastisch "von innen einiges Material" angeboten hatte.

Bis zu dessen Tod im Jahr 1957 hat Minder Döblin begleitet, der ihm in den Jahren zuvor seine Lebensbeichte in die Feder diktiert. Der Rückgriff auf diese Informationen wird den Germanisten im Jahr 1979 wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte Döblins vor das Berliner Landgericht bringen.

Schon im August 1974 schwebt die Prozessandrohung über Minder, und die zunehmenden Querelen mit der Familie bringen ein Döblin-Buch von vornherein in ungeahnte Schwierigkeiten. Während der Prozess sich hinzieht, erliegt Minder am 10. September 1980 einem Herzinfarkt. Der Skandal aber zieht Kreise. Anlässlich des Prozessbeginns vertritt Fritz Raddatz in Absprache mit Hans Mayer in der "Zeit" vehement die Sache einer Literaturwissenschaft, die "schmerzhafte Porträtskizzen" Heldendenkmälern vorzieht und dabei auch Sexuelles nicht ausspart.

Der Zopf des dichterischen Elans

Literatur und Leben? Minder war die Frage immer deutlicher geworden, nicht nur aufgrund der Angriffe im Umkreis der Anklage. Die Bilanz könnte umfassender nicht sein: Als Gefährtin in dunklen Stunden, mit der sich Träume und Ängste verbinden, hat Minder die Literatur kennen gelernt, als Trägerin kollektiver Leitbilder hat sie ihn zu den deutschen Erinnerungsorten geführt - und immer wieder hat sie ihn in dem Glauben an die Macht des dichterischen Wortes bestärkt: "Dichtung steht in einem Netz von sozialen Verflochtenheiten, von denen sie mitbestimmt wird, die sie aber auch mitverändern kann. Am Zopf des dichterischen Elans reißt sie sich tatsächlich aus dem Sumpf der Verhältnisse und reißt die anderen mit auf eine neue Ebene" heißt es im Vorwort von "Dichter in der Gesellschaft".