Expedition ins weiße Nichts

Ammer / Einheits Hörstück Frost 79º40'

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mittlerweile ist es üblich, Hörstücke auf CD zu veröffentlichen, nachdem man sie zuerst live inszeniert und im Radio gesendet hat. Die live-Inszenierung wird dabei immer mehr zur Probeaufführung, nach der, vielleicht je nach Publikumsreaktion wie im US-amerikanischen Kino - wenn die Künstler ihr Stück kokettierend "akustisches Breitwand-Gefühlskino" nennen, müssen sie sich diesen Vergleich gefallen lassen -, noch einiges verbessert werden kann. Bei dieser live-augenommenen CD weiß man nicht, woran man ist. Ein vermeintliches Publikum ist auf der Aufnahme jedenfalls nicht zu vernehmen, und bekanntlich werden die meisten live-Aufnahmen nachträglich manipuliert.

Selbstverständlich bietet diese Vorgehensweise über die Mehrfachverwertung hinaus noch weitere Chancen. Die Gruppe HCD schuf aus ihrem auf der intermedium 1 aufgeführten Stück "Six Memos for the next Millenium" im Studio ein beinahe völlig neues Stück mit dem Titel "CosmicMemos". "Frost" bleibt demgegenüber undefiniert. Zumindest ein Rezensent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" will einen Unterschied zwischen Inszenierung und CD ausgemacht haben. Demnach verzichten Ammer und Einheit auf einige Effekte, die sie eventuell in die Nähe des Gefühlskinos gebracht hätten, und die so einfach zu erzeugen gewesen wären. Und dennoch folgt daraus nicht, dass es sich hierbei um Kunst handelt. Nach den so faszinierenden Arbeiten des eingespielten Teams von Autor Andreas Ammer und Musiker FM Einheit, vor allem als Schlagwerker der "Einstürzenden Neubauten" bekannt, nach "Apokalypse live", "Radio Inferno" oder der "Deutsche Krieger"-Trilogie, fällt "Frost" dagegen eigentümlich ab.

Dabei ließ die gewählte Geschichte einiges erhoffen. Robert Falcon Scotts Expedition zum Südpol des Jahres 1912 wird anhand von Tagebuchaufzeichnungen nacherzählt. Scott scheiterte im Wettlauf mit Amundsen, und weitaus tragischer, im Wettlauf mit dem Tod. Scotts letztes Lager wird auf 79º40' von Suchmannschaften entdeckt.

Durchbrochen von Erklärungen etwa des "Whiteout", einer Folge der diffusen Streuung des Lichts, so dass dieses schließlich aus allen Richtungen kommt, was dem Menschen die Unterscheidung von oben und unten unmöglich macht - eine Erfahrung sicher nahe am Wahnsinn -, oder den verschiedenen Abstufungen der Erfrierung unterbrechen die Erzählung. Die Erinnerungen von Tryggve Gran an die Entdeckung von Scotts Leiche fügen sich in die Komposition nahtlos ein. Unterlegt wird die Szenerie vom finnischen Elektronik Duo "Pan Sonic", die sparsam mit eiskalten Klängen ihrem Metier nachgehen, zu denen die dänische Sängerin Gry Bagoien Scott als Stimme des Eises verführerisch entgegentritt; sie ist übrigens auch die Sängerin von Einheits neuer Pop-Band "GRY", die 1998 mit "touch of E!" ein überzeugendes Debüt gab. Der Schauspieler Günter Rüger spricht Scott.

Doch was geschieht? Die Reise zum Pol wird zur Eroberung der Jungfrau. Das königliche ius prime noctis gilt auch für die Antarktis: "Das ganze Land ist eine Frau, und in deren Mitte muß er die Fahne seines Königs stecken. Als Erster." Grys Gesang folgt dieser etwas lächerlichen, doch so geläufigen Metapher und verleiht der unendlichen Eiswüste einen Ausdruck ihrer anziehenden wie todbringenden Reize. Zu Beginn des Hörstücks will sich daraus keine Spannung ergeben. Erst in dem Augenblick, als der Wettlauf mit Amundsen verloren ist und Scott von den ersten Toden berichtet, wird der Hörer vom Geschehen gefesselt. Die Entwicklung jedoch vom zuerst begeisterten und heldenhaft entschlossenen Scott zum verzweifelten, ist in der Betonung durch Günter Rüger kaum nachzuvollziehen. Zu gleichmäßig verläuft der Bericht, zu wenige Schwankungen stellen sich ein. Ganz anders verhält es sich ab dem Moment, in dem Scott sich dem Tode nähert. "Ich friere." Immer und immer wieder sagt er nur diese Worte, worauf der Gesang ihm mit, "you're free, you're freezing, you're freezing to death", antwortet. Der Tod lockt mit der totalen Freiheit, im Eis mit der Sehnsucht nach endgültigem Schlaf. In diesen Augenblicken erzielt "Frost" seine eindrucksvollsten Effekte, die sich bis zum schneidenden und dröhnenden Ausklang von "Frozen" als Schlusspunkt erstrecken.

Trotzdem scheint auch dann das Stück auf halber Strecke liegengeblieben zu sein. Die Idee, mit der Musik, Zitat, Klang und Gesang aus der bloßen Tagebuchaufzeichnung herauszutreten, wurde in Heiner Goebbels "Schliemanns Radio" weitaus besser und konsequenter verwirklicht. In Goebbels Produktion, dessen Inhalt sich auf die Vorgehensweise Schliemanns bei der Ausgrabung Trojas beschränkte, wurde diese Technik auf die musikalische Komposition übertragen, und diese wies im weiteren Verlauf bald über den Inhalt hinaus. In "Frost" aber wirkt die Toncollage, außer in wirklich seltenen Momenten, rein illustrativ, auch wenn sie das sicher nicht beabsichtigt war. Oder doch? Breitwand-Gefühlskino? Man weiß es nicht. Genause wenig, wie man weiß, was hier "live" bedeutet.

Kein Bild

Andreas Ammer / FM Einheit: Frost 79°40´. Robert Falcon Scotts Tod im Eis. Mit PAN SONIC und GRY, Günter Rüger als Scott.
king.ink promotion, rattingen 2000.

ISBN-10: 3934847617

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