"Postmoderne? Was für ein Quatsch! Was für eine Farce!"

Gilbert Adairs Roman "Und dann gab's keinen mehr" befremdet den Leser mit einem vergnüglichen Verwirrspiel

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wieso entschließt sich ein Autor, sich von seinem bisherigen Konzept und den Figuren, die das Publikum inzwischen liebgewonnen hat, zu lösen und infolge dessen seinen Erfolg aufs Spiel zu setzen? Sherlock-Holmes-Schöpfer Arthur Conan Doyle könnte dazu aufschlussreiches sagen, versuchte er doch ebenso entschlossen wie vergebens, sich von seiner berühmtesten Figur zu befreien, die vom Publikum geliebt, von ihm selbst jedoch gehasst wurde.

Conan Doyle ließ seinen Meisterdetektiv in der Erzählung "Das letzte Problem" in die Reichenbachfälle nahe des schweizerischen Meiringen in den Tod stürzen - freilich nur, um ihn alsbald unter dem Druck der Lesererwartungen wieder auferstehen zu lassen. Gilbert Adair knüpft an Conan Doyles gescheitertes Projekt an, indem er seinen dritten Roman über die Amateurdetektivin Evadne Mount just vor der symbolträchtigen Kulisse der Reichenbachfälle spielen lässt und alles dafür tut, seine populäre Detektivin los zu werden. Adairs Ansinnen dürfte ein glücklicheres Ende beschieden sein als seinerzeit dem Conan Doyles. Während dieser zwar seine Hauptfigur in den Ruhestand schicken wollte, dabei aber die bewährte erzählerische Form nicht in Frage stellte, wählt Adair einen anderen Weg: er weiß, dass er es mit literarischen "Pappfiguren" zu tun hat, die selbst einen Absturz vom großen Reichenbachfall überstehen. Da die Figuren unzerstörbar sind, zerstört er die Erzählung selbst.

In seinem Essay "Wenn die Postmoderne zweimal klingelt" erklärt Adair, das Credo des postmodernen Künstlers laute: "Jedermann parodiert, was er liebt." Die Umsetzung dieses Credos führte er in "Mord auf ffolkes Manor" meisterhaft vor. Im grandiosen ersten Teil seiner Trilogie von Kriminalromanen gelang Adair das Kunststück, zugleich eine Parodie wie die definitive Hommage auf den klassischen britischen Kriminalroman zu schreiben. Der zweite Roman, "Ein stilvoller Mord in Elstree", hielt sich an dieses Erfolgsrezept, fügte ihm aber noch eine Huldigung an Hitchcock und das britische Kino der 40er-Jahre hinzu und begab sich bereits in die Gefahr der Überfrachtung. Die Verbeugung vor den Meistern britischer Spannungserzeugung war bereits hier nicht steiger-, sondern allenfalls wiederholbar.

Signalisierten schon die ersten zwei Romane durch ihre (leider in der deutschen Übersetzung nicht adäquat wiederzugebenden) Titel unverhohlene Anlehnungen an Klassiker von Agatha Christie, ist bei "Und dann gab's keinen mehr" der Bezug erstmals auch im Deutschen augenfällig. Denn woran, wenn nicht an Christies "Und dann gabs keines mehr", sollte der Titel wohl sonst erinnern? Als sei dies nicht schon prominente Referenz genug, wählt Adair als Kulisse ausgerechnet das dem geneigten Krimileser durch Conan Doyle vertraute Meiringen. Was ist bei derart erlesenen Vorläufern anderes zu erwarten als eine erneute augenzwinkernde Hommage auf das goldene Zeitalter des Kriminalromans?

Allein: Adair gefällt sich darin, diese Erwartungen unerfüllt zu lassen. Er weicht allen Fallstricken, die sich aus der Wiederholbarkeit des eingespielten Musters ergeben, mit großer Eleganz und Lust an der Verwirrung aus. Statt einer abermaligen nostalgischen Reise in die 30er- und 40er-Jahre verlegt er die Handlung kurzerhand in das Jahr 2011. Die Hauptfigur ist, entgegen der Ankündigung des Untertitels, nicht etwa Evadne Mount, sondern - ganz recht - ein Schriftsteller namens Gilbert Adair, der in der jüngeren Vergangenheit durch zwei Agatha-Christe-Pastiches sehr erfolgreich war und nun ein Buch mit apokryphen Sherlock-Holmes-Erzählungen veröffentlicht hat (deren eine, "Die Riesenratte von Sumatra", dem Leser dankenswerterweise auch nicht vorenthalten wird).

Nach dem "Prolog", der über das spätere Mordopfer - der wegen seines Antiamerikanismus von ultrapatriotischen Kreisen gejagte Schriftsteller Gustav Slavorigin - informiert, erzählt Adair von seiner Teilnahme an einem Sherlock-Holmes-Festival in Meiringen. Dort trifft er schließlich auf seine eigene, wie üblich liebevoll schrullig gezeichnete Figur Evadne Mount. Spätestens an diesem Punkt wird klar, dass nicht eine stringente, auf Spannung ausgelegte Narration, sondern eine selbstironische poetologische Reflexion über den Status fiktionaler Literatur beabsichtigt ist. Adair stößt den Leser von einer gedanklichen Herausforderung in die nächste und gebärdet sich als Zeremonienmeister eines postmodernen Verwirrspiels, bei dem weder Leser noch handelnde Figuren eine klare Trennung zwischen Erfundenem und Wahrem aufrechterhalten können.

Nachdem die Leiche schließlich nach zwei Dritteln des Buches gefunden wird, scheint es doch noch ein 'echter' Kriminalroman zu werden. Doch wird auch diese Erwartung rasch enttäuscht: keine Ermittlungen, kein Auffinden scheinbar unwichtiger Spuren, keine ausführlichen Vernehmungen der Verdächtigen werden nun geschildert. Sogar die Auflösung des Mordes gerät zur Darstellung postmoderner Selbstreferentialität und letztlich zur Farce. Dieses Buch ist so manches: eine Ansammlung von Betrachtungen über das brüchige Verhältnis von Fiktion und vermeinter Wirklichkeit sowie über Glanz und Klischee des klassischen britischen Kriminalromans, geradezu ein Lehrstück über die Funktionsweise postmoderner Literatur, eine recht schonungslose Kritik seiner selbst und nicht zuletzt ein apartes Lesevergnügen. Es ist aber, ganz anders als seine beiden Vorgänger, weder ein konventioneller Kriminalroman noch dessen Parodie.

Indem er das bislang erfolgreiche Muster offensiv torpediert, setzt Adair sehenden Auges seinen Erfolg aufs Spiel und wird viele der Leser, die er mit seinen letzten Romanen gewann, abschrecken. Dieser Effekt ist ebenso unausweichlich wie gewollt. Doch eingedenk dessen, dass Adairs Romane im allgemeinen und die Evadne Mount-Krimis insbesondere noch nie einen Hehl aus ihrer Zitathaftigkeit und Selbstreflexivität gemacht haben, ist dieses Buch nichts anderes als die logische, radikal durchgeführte Konsequenz. Nicht mehr Christie und Conan Doyle - auch wenn Titel und Setting Gegenteiliges suggerieren - sind die wichtigsten Referenzautoren, sondern Adair selbst.

Dies gilt auch für die Auflösung des Mordes, die zwar auf einen erzähltechnischen Clou Agatha Christies zurückgeht, den aber kein anderer als Adair bereits zweimal in früheren Romanen nutzte. So viel zur Schau gestellte Selbstbezüglichkeit muss nicht jedem gefallen und ist sicher nichts ganz und gar Neues. Aber so geistreich, so schelmisch, so lustvoll und so unverblümt, wie es hier dargeboten wird, gerät die Lektüre zur reinen Freude, sofern die beabsichtigte Enttäuschung, es nicht mit dem klassischen Whodunit?-Muster zu tun zu haben, überwunden werden kann. Dass die Reihe um Evadne Mount nach diesem Roman fortgesetzt wird, muss indes höchst fraglich erscheinen. Arthur Conan Doyle wäre neidisch.


Titelbild

Gilbert Adair: Und dann gab's keinen mehr. Evadne Mounts dritter Fal.
Übersetzt aus dem Englischen von Jochen Schimmang.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
304 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783406576928

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