Melancholie & Dickschädeligkeit

Moderne Amerikamythen und reale Geschichte in Thomas Pynchons Roman "Mason & Dixon"

Von Peter KockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Kock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eines der literarischen Highlights des ausgehenden Jahrtausends war das Erscheinen erst der amerikanischen, dann der deutschen Ausgabe von Thomas Pynchons "Mason & Dixon", mit dem Der Große Anspruchsvolle in der amerikanischen Gegenwartsliteratur so tief wie noch nie in die Geschichte seines Landes abgetaucht ist.

In Kneipen und Kutschen

Geschichte? Das ist, scheint's, für Pynchon bloß ein Chaos, zudem ein Chaos, das, sobald es fixiert wird, dazu tendiert, die überkommenen Machtstrukturen zu zementieren. Werfen wir einen Blick auf das Kapitel 35 von "Mason & Dixon". Es hebt an mit einem längeren Zitat aus einem Traktat des Erzählers, des Reverend Wicks Cherrycoke, in dem es heißt:

"Die Historik ist keine Chronologie, denn diese bleibt den Advokaten überlassen - sie ist auch nicht Erinnerung, denn Erinnerung ist Sache des Menschen. Die Historik kann so wenig auf die Wahrhaftigkeit der einen Anspruch machen, wie sie die Macht der anderen für sich reklamieren kann - wer sie betreibt, muß, um zu überdauern, rasch die Künste des Neuigkeitskrämers, Spions und Schankstuben-Witzlings erlernen - muß lernen, daß jederzeit mehr als eine Lebenslinie in die Vergangenheit zurückreichen kann [...] keine Kette aus einzelnen Gliedern, denn ein einziges gebrochenes Glied, und wir wären allesamt verloren -, sondern vielmehr ein großes, unordentliches Gewirr von Linien, langer wie kurzer, schwacher wie starker, welche in der mnemonischen Tiefe verschwinden und nur ihre Bestimmung gemeinsam haben."

Ein unverhüllter Angriff auf die Geschichte, wie sie, als geronnenes Produkt, immer schon in den Geschichtsbüchern nachzulesen ist. Unmittelbar anschließend - ein Bruch nicht der inhaltlichen Logik, sondern nur in der Handlungslogik, wird sich hieran - wir sind im Jahre 1786 - eine Diskussion der Familie des Reverend entzünden, eine Diskussion über die Mächte der Geschichte und was Wahrheit sei. Die ältere Generation, verkörpert vom Waffenhändler, in dessen Haus dies spielt, vertritt den Fakten-Konventionalismus der Geschichte, die jüngere bezweifelt ihn vorsichtig. Die Diskussion bleibt offen und verschiebt sich, untermalt vom Flirt eines Vetters mit seiner jungen Cousine Tenebrae (lateinisch: das Dunkel, die Nacht; eine Anspielung auf die metaphorische Blindheit des Schicksals) zu einer Debatte über den Wahrheitsgehalt von Shakespeares Stücken. Schließlich, bei einer weiteren Flasche Wein - es wird überhaupt viel getrunken in "Mason & Dixon", der zentrale Raum ist geradezu die Kneipe - setzt der Reverend seine Erzählung fort mit einer Episode aus dem Winter 1764/65, in der er eine Kutschfahrt unternimmt. Zu den Passagieren gehört eine Deutsche, Frau Redzinger, die in Begleitung ihrer Tochter in die Stadt fährt und unterwegs vom religiösen Wahn ihres Mannes berichtet. Sie selbst ist in einen aktuellen Fall der Rechtsstreitigkeiten zwischen Maryland und Pennsylvania verwickelt, als dessen Resultat schließlich auch der Auftrag zur definitiven Grenzziehung an Mason und Dixon erfolgen sollte. Auf die Frage, warum der Gegenstand der Grenzziehung soviel Leidenschaft erwecke, schließt einer der Kutschfahrenden beim Entkorken einer weiteren Flasche Rotweins:

"Das alles<, hätte er können anheben, >geht auf den zweiten Schöpfungstag zurück, als G-tt das Firmament schuf und zwischen den Wassern unterhalb des Firmaments und den Wassern oberhalb des Firmaments unterschied - daher die erste Grenzlinie. Alles andere, was in der Historie danach kam, ist nur noch Unterteilung.<"

Oder, um auf den Anfang zurückzukommen, Fakten-Chronologie, bloßes Material für Advokaten. Das Kapitel, das hier die Linie schlechthin als Machtprinzip definiert, dessen aktuelle Anwendung bloß die Mason-Dixon-Linie sei, endet mit einem Gutenachtwunsch, den der junge Reverend später an sich selbst richtet, noch in Gedanken an die Kutschfahrt versunken:

"Was für ein Wagen ist es [...], der uns so erbarmungslos dahinträgt? Wir rasseln durch einen weiteren Tag - ein weiteres Jahr - wie durch eine menschenleere Stadt ohne Namen, um Mitternacht [...] wir suchen unseren Aufenthalt zu verlängern, doch schon deutet ein stummer Geselle in dunkler Livree an, daß es an der Zeit sei, die Kutsche wieder zu besteigen und die Reise fortzusetzen. Überdies wird der Wagen lange vor seiner Bestimmung jäh zum Stehen kommen... von Furcht beklommen, werden wir den Schlag öffnen, um uns mit dem Kutscher zu besprechen, und feststellen, daß es keinen Kutscher gibt... keine Pferde... nur den bereits dahinschwindenden Wagen und eine Prärie von verzweifelter Unermeßlichkeit..."

Diese Ausweitung ins Allegorische scheint am Ende des Kapitels wie in einer Parabel Kafkas zu enden: eine Kutsche ohne Pferde, ohne Kutscher, die sich auflöst.

Compositum mixtum

Religiöse, philosophische, politische und psychologische Komplexe sind in einer Weise miteinander verzahnt, dass die Analyse, das Sortieren der Fäden einige Geduld und Dechiffrierarbeit erfordert. Zentriert ist das Buch in jedem Fall um die Geschichte des britischen Astronomen Charles Mason und seines Landsmannes, des Landvermessers Jeremiah Dixon, die in den Jahren 1763 bis 1767 die bereits erwähnte, nach ihnen benannte Linie vermaßen, die bis heute Philadelphia von Maryland trennt. Diese Linie war knapp hundert Jahre später die Trennlinie zwischen den Nord- und den Südstaaten im Bürgerkrieg um die Aufhebung der Sklaverei. Dieser Vermessungsaktion vorgeschaltet sind Forschungsaufenthalte der beiden am Kap der Guten Hoffnung und auf der Insel St. Helena, deren Darstellung die ersten 350 Seiten des Romans umfasst. Nach dem Hauptteil, der in Amerika spielt, gibt es noch einen weitgehend ohne Bezug auf Quellen fingierten Epilog, der Mason und Dixon im Alter schildert.

Erzählt wird die ganze Geschichte 1786, also nach erfolgreichem Abschluss des Unabhängigkeitskrieges gegen die Briten, in einer prototypisch-archaischen Erzählsituation am winterlichen Kamin, während draußen die Schneestürme toben. Erzähler ist der Reverend, der die Reisen der beiden Landvermesser teilweise mitgemacht hat (und den Rest hinzufabuliert und ohnedies ein windiger Chronist ist).

Nun schreibt Pynchon, dessen "Gravity's Rainbow" (1973) neben Ecos "Name der Rose" und Calvinos "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" einer der wesentlichen Bausteine bei der Herausbildung der literarischen Postmoderne vor gut 20 Jahren war, natürlich nicht einfach so einen historischen Roman. Es handelt sich vielmehr, um einen Ausdruck von Gary Thompson aufzugreifen, um so etwas wie ein postmodernes Pastiche, das sich zwar vor allem in Stil und Handlungsführung souverän der ästhetischen Mittel der Romane des 18. Jahrhunderts zu bedienen weiß, dies aber gleichzeitig so deutlich von heute aus tut, mit Komik und Hinweisen auf die Gegenwart würzt, dass die Folie schnell durchsichtig wird und sich in jedem Fall kein schlichtes identifikatorisches Lesen im Ohrensessel einstellen kann, wie dies die Rahmenerzählung und vor allem die Sprache des 18. Jahrhunderts nahelegen. In dem sicherlich nicht ohne Pynchons Mitwirkung erstellten Klappentext heißt es, das Buch "re-imaginiere" das Leben von Mason und Dixon; ein deutlicher Hinweis, dass jede Imagination qua Fiktion hier wie aus zweiter, wenn nicht dritter Hand zu genießen ist. Und entsprechend ist das opulente Werk auch gearbeitet. Es ist prallvoll gespickt mit Handlungsbrüchen, funktional verwendeten Liedtexten, Abschweifungen und Nebenhandlungen, dem Rückgriff auf fiktive Tagebücher, tatsächlichem dokumentarischen Material, erfundenen Epen des 18. Jahrhunderts, allegorischen Passagen, Witzen, Kalauern und Traumpassagen - all dies situiert im geistigen Milieu der ideologischen Ungeschiedenheit, mit der sich die Aufklärung des 18. Jahrhunderts aus den Fesseln der Vorwissenschaftlichkeit und des Irrationalismus herauszuarbeiten versuchte, und all dies fast mime/osmotisch in Sprache und Denkweise der damaligen Epoche eingebettet, dass zumindest in Europa nur der Leser voll auf seine Kosten kommt, der in Philosophie wie in amerikanischer Geschichte und Landeskunde einigermaßen sattelfest ist. Unweigerlich fängt man an zu recherchieren, nachzuschlagen, sich in eigenen Pfaden zu verlieren. Das macht dieses Werk zunächst zu einer Zumutung, die im Leseprozess vom Interesse am Gegenstand, dem Gegensatz der ganz unterschiedlichen Charaktere der beiden Männer sowie durch die Komik in Stil und Darstellung aufgefangen wird.

Das Flirren des Irr=Realen

Muss angesichts dieser inhaltlichen Fülle und Breite auch noch diese umständliche Rahmenerzählung sein? Ja, muss sie, weil sie die Oberflächenhandlung permanent aufbricht, die plane Logik eines vorgegebenen Handlungsablaufs gezielt durchlöchert und weitere Möglichkeiten eröffnet, Gegenwartsbezüge herzustellen. Die Erzähler-Instanz im Roman rückt damit das Geschehene noch weiter von uns fern; das Erzählte kommt andererseits durch die eingestreuten Anspielungen auf unsere Gegenwart wieder zu uns zurück und erlaubt witzige Pointierungen (wie die Erfindung der Pizza, des Sandwich, der Surf- und Rockmusik in quasi archaischen Vorformen), vor allem aber wird dadurch ein eigenartiger Irrealisierungseffekt beim Leser permanent verstärkt!

Je genauer also das historische Material ausgebreitet wird, desto fremder wird es tatsächlich, nicht nur, weil der Erzähler kein objektiver Gewährsmann ist, sondern auch durch die eingebauten Brüche in der Erzähllogik, die Vielzahl der nicht ausgeführten Handlungssequenzen, das Überkippen etwa eines im Roman zitierten Schauerromans in die eigentliche Romanhandlung.

So wächst im gleichen Maße wie die wachsende Vertrautheit mit Zeit und Stoff der Effekt der permanenten Verunsicherung. Dazu kommt, dass es keine epische Breite gibt: sofort ist man in medias res; snapshotartig grell werden Figuren und Umgebungen wie mit einem Punktstrahler ausgeleuchtet, um nach kurzem Aufleuchten einer Handungssequenz wieder im Dunkeln zu versinken. Die Fremdheit wirkt dabei im amerikanischen Original noch weit stärker durch das Englisch des 18. Jahrhunderts mit seinen orthographischen Besonderheiten (Scientificks usw.), was in der deutschen Übersetzung eher geglättet wurde.

Wenn sich Mason und Dixon im Verlauf des Romans immer häufiger fragen, in welcher Art Realität sie sich befinden, ob sie überhaupt Boden unter den Füßen haben, beschreibt dies genau die Verunsicherung, in der sich der Leser befindet. Manche Rezensenten haben das irritierend Ungreifbare der Figuren konstatiert, die quasi wie in einer luftleeren Sphäre durch Raum und Zeit geisterten. Dieser Effekt ist aber beabsichtigt: das gewöhnliche Realitätsverständnis, mit dem wir doch gut durch den Alltag kommen, löst sich auf in dem Maße, in dem die Fiktion immer wuchernder aufblüht. Während die historischen (und aktuellen) Realitätspartikel immer deutlichere Konturen gewinnen, durchqueren wir wie im Traumflug ganze Zeiten und Räume. Der Roman wirkt so als "Irrealisierungszentrum" (Sartre), als imaginärer "Hallraum" (Heissenbüttel), der Imagination und Assoziationsfähigkeit erst eigentlich freisetzt.

Freud unterschied in seinem einschlägigen Aufsatz "Der Dichter und das Phantasieren" drei Zeitebenen: "Eine Phantasie schwebt gleichsam zwischen den Zeiten, den drei Zeitmomenten unseres Vorstellens." Vereinfacht gesagt: um sich einen Wunsch in der Gegenwart zu erfüllen, wird ein harmonisches Idealbild der Vergangenheit (Kindheit) genommen und auf die Zukunft als erfüllter Wunsch projiziert. Diesem Vergangenheit - Gegenwart - Zukunfts-Modell fügt der Autor Pynchon also gleichsam eine vierte Dimension der Vor-Vergangenheit hinzu, die durch die Vervielfachung der Bezugsebenen einen träumerischen Unschärfefaktor einführt, der über Brüche, Widersprüche usw. hinwegzugleiten erlaubt - und damit genau die Funktionsweise des Traums nachvollzieht, in dem bekanntlich auch Widersprüche unvermittelt nebeneinander stehen können, ja, ein Wunsch laut Freud auch durch sein Gegenteil ausgedrückt werden kann. Das äußerst Fremde, Abgeschlossene, wird zunächst nahegerückt, imaginär realisiert, um gleich wieder irrealisiert zu werden - und in diesem Hin und Her arbeitet die Imagination des Lesers, produziert er "seinen" Text.

Traumbilder, Spreng-Witze

Träume und Witze sind elementare Bausteine diese historischen Montage Pynchons. Dazu eigenen sie sich auch, weil sie zu einem Großteil - immer nach Freud - nach denselben Prinzipien arbeiten (Verdichtung, Verschiebung, indirekte Darstellung). Während die Träume die Stimmung der Melancholie, die das Buch durchzieht, verstärken, sprengen die Witze die Handlungsoberfläche permanent auf. Die Träume unterziehen so die Oberflächenhandlung mit der Unterwelt des Unbewußten, zu deren Schreckensbildern die Realität des damaligen (und heutigen) Amerika nur zu deutliche Parallelen aufweist, so wie auch die Handlung selbst sich im Verlauf des Romans immer stärker in unterirdischen Drachenhöhlen, Feldern mit Riesengemüsen, zum Schluss gar in einer nordpolaren Unterwelt verliert und immer irrealere Züge annimmt. Das Witzige, das Groteske, die Elemente des Satirischen sorgen jedoch dafür, dass der Albdruck des Realen und des Irrealen sich nicht zu einem geschlossenen Kosmos auswachsen kann, sondern immer wieder subversiv aufgesprengt wird und Löcher in die drohend sich schließenden Wände schlägt.

Die Geschichte von Dixons Uhr in Kapitel 32 liefert ein schönes Beispiel für die Korrelation beider Momente. Es ist eine groteske kleine Substory für sich, wie es deren viele in diesem Roman gibt. Dixon hat die Uhr, die angeblich über ein Perpetuum Mobile verfügt, von seinem Lehrer Emerson aufgedrängt bekommen, obwohl er, Dixon, als guter Newtonianer gemäß dem Gesetz von der Energieerhaltung solche Erfindungen bezweifelt. Je länger er die unverdrossen tickende Uhr durch Amerika schleppen muss, desto eher wird sie so etwas wie sein Symptom: "In ihrem Ticken bei Tageshelle ist die in seinem Traum gleichsam geknebelte, kryptische Stimme immer deutlicher geworden. Saufen vertreibt sie nicht."

Im Traum wuchert sie zu einer Art Gemüse aus, das danach drängt, von ihm einverleibt zu werden. Dixon gelingt es erst, sie loszuwerden, als einer der angestellten heimischen Landmesser sie, beim Klauen ertappt, verschluckt. Die Geschichte verlagert den Fokus auf das weitere Schicksal dieses Mannes, dessen Frau schließlich den Beischlaf verweigert, da sie das permanente Ticken stört. Als er die Uhr genervt herausziehen will, holt er sich gar blutige Finger. Das Symptom hat ein prächtiges Eigenleben entwickelt und verteidigt sich hartnäckig wie nur je ein zahnbewehrtes Gemüse. Dixon, der schließlich seinem Lehrer Emerson von dem Verlust berichten muss, erhält einen Antwortbrief von dessen Frau, in dem sie von seiner Freude über die Nachricht vom Einverleiben der Uhr berichtet; ein Postscriptum des Lehrers lautet: "Die Zeit ist der Raum, den man nicht sehen kann." So entwirft diese Binnenerzählung eine Allegorie der Relativitätstheorie.

Herr & Knecht

Dixon ist übrigens seinem formellen Vorgesetzten Mason als proletaroider Widerpart zugeordnet. ImVerhältnis der beiden zueinander verkörpert er eher den Witz, den Scharfsinn und die Aktivität. Mason hingegen steht mehr für Traum, Trauer, Schwermut und Passivität. Oder, in Farben ausgedrückt: Dixon trägt einen knallroten Rock, während Mason in Mausgrau daherkommt. Aus beider Dialog entsteht der Zündfunke, der die Handlung und die Spannung durch die mühsam zu durchquerenden Wildnisse des damaligen Amerika zum einen, durch die Ungeschiedenheit der Gedankengebäude des Zeitalters andererseits treibt. Zusammengeschweißt werden sie durch das traumatische Erlebnis einer blutigen Kriegsschlacht, als ihr Schiff bei ihrer ersten gemeinsamen Ausfahrt unter schweren Beschuss einer französischen Fregatte gerät. Unterdeck helfen sie beim Verarzten etlicher Verletzter und beim Bergen der Toten. Ihr jahrelanger Disput läßt sich auch als Versuch lesen, dieses Trauma zu bewältigen. Während sie, witzelnd und streitend wie nur je ein zänkisches Ehepaar, zu Beginn beschließen, "wann immer möglich die Daten ihrer Träume auszutauschen", träumen sie am Schluss, im Alter, versöhnt, gemeinsam.

Dixon sieht seine Aufgabe auch darin, den umdüsterten Mason aufzuheitern, der im inneren Gespräch steht mit seiner früh verstorbenen Frau. Mason, der Melancholiker, definiert sich als jemand, der aus der Heimat vertrieben wurde, als Exilant, in permanenter Fluchtbewegung fort oder "Vielleicht auf etwas hin" - von dem offen bleibt, was es wäre. Dies unterscheidet ihn signifikant von Dixon, der auf so etwas wie schlichtes menschliches Glück hinstrebt und in einer Szene auch nicht zufällig als Stichwortgeber für das pursuit of happiness in der amerikanischen Verfassung auftritt.

Beide ziehen sie gemeinsam durch Kneipen und Schenken und stoßen "in den Hinterzimmern sämtlicher Lokale, die sie besuchen, auf Zusammenkünfte von Geheimgesellschaften". Halbblind tappen sie durch das Gewirr von Intrigen, Verschwörungen und Gegenverschwörungen. Der als passiv gekennzeichnete Mason entwickelt dabei großes Geschick, die Hinterzimmer der Hinterzimmer aufzuspüren, die "für die Hege der Melancholie am fruchtbarsten" sind. In einem solchen Spelunken-Kabuff stoßen sie auf Wachsautomaten, die mit Gesichtern der Mitglieder der Grenzziehungs-Kommission versehen sind. Durch den Roman geistert das Motiv einer sino-jesuitischen Weltverschwörung, die misstrauische Siedler hinter der weltweiten Missionstätigkeit der Elite-Christen wittern. Sie bedienen sich modernster Kommunikationsmittel wie einer Art Ballon-Telegraphie, konkurrieren mit dem Feng-shui versprengter Chinesen; diffus hineinverwickelt sind ferner Kabbala studierende jüdische Indianerstämme. In entlegenen Territorien des äußersten Westens tragen Kneipen Namen wie "Der Rabbi von Prag".

Das Generalthema der Paranoia bei Pynchon ist allzu bekannt und geradezu sein Markenzeichen, dieMelancholie taucht aber hier zum ersten Mal auf und verlangt nach ausführlicher Untersuchung. Sie geht nicht individuell in der Psyche Masons auf.

Trauer und Tapferkeit

Die Melancholie, die im 18. und zum Teil auch noch im 19. Jahrhundert zum selbstverständlichen kulturellen Wissen gehört und häufig in der Literatur gestaltet wird, ragt wie ein Überbleibsel, ein Fremdkörper in das Zeitalter der Aufklärung hinein, der es um ein exaktes Erfassen der als machbar begriffenen Realität ging und in der wir uns in der Zeit des Romans bewegen - in einem Vermessungs-Projekt stecken Mason und Dixon ja ganz buchstäblich. Masons Melancholie rührt eher vom Hinschauen auf die finsteren Seiten der Epoche, der das Kolonialisieren und Unterwerfen des Wilden und der Natur als bloßer Fortschritt erschien. Unter diesem scharfen Blick, den übrigens der unbekümmertere Dixon teilt, stellt sich alles, was dem oberflächlichen Blick als bloßer Aufschwung von Wissenschaft, Technik, Produktivität und gesellschaftlichem Fortschritt erscheint, auf der anderen Seite als Resultat von Unterdrückung und Unterwerfung, ja oft nur als eine modernisierte Variante der Barbarei heraus.

So schildert beispielsweise der Beginn des 29. Kapitels das Aufblühen der Städte: "Städte nehmen ihren Anfang an dem Tag, da die Wände des Schlachthauses emporwachsen, um Blut und Blutgeschäft, Tierschreie, Gerüche und Schmutz vor Bewohnern abzuschirmen, die gegen die Wirklichkeit des Landlebens schon empfindlich sind. Die Bessergestellten wohnen so weit als möglich von der konzentrierten Schlächterei entfernt. Land-Melancholiker strömen in die Stadt wie Krähen, welche die Sonne verdunkeln. Auf dem Markt taucht zugerichtetes Fleisch auf - vor dem Himmel hängen Würste, bilden Textlinien, dunkle organische Kommentare."

Man beachte, wie in diesem poetischen Aufriss nicht nur ein Bild davon aufscheint, auf welchem Boden (hier am Beispiel der Tierwelt) der Aufschwung von Kultur und Zivilisation erfolgt, sondern dass umgekehrt auch nicht die Natur romantisiert und idyllisiert wird ("Land-Melancholiker strömen in die Städte"). Masons zunächst befremdend wirkender Drang, in den Städten Zeuge bei Hinrichtungen zu sein, enthüllt sich hier als bewußtes Hinschauen auf die zivilierteren Formen des Gräuels, die sich in den Städten abspielen, den Orten, die als Knotenpunkte des kulturellen Fortschritts fungieren und in denen das Kapital akkumuliert wird. Vor kurzem hat eine Ausstellung über Lynchjustiz in den Vereinigten Staaten Furore gemacht, die gezeigt hat, dass von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Mitte des letzten hinein das Lynchen von Schwarzen, von der Polizei geflissentlich übersehen, als allgemein akzeptierte Volksbelustigung galt, von der Postkarten verschickt wurden. Und noch heute wird nahezu jede Woche allein in Texas ein Mensch, meist ein schwarzhäutiger, vom Staat hingerichtet. Todesstrafe, Waffenfetischismus, Armed Response-Warnungen an den Grenzen von Grundstücken, das sind bis heute der Preis, den die Ideologie der unumschränkten Entfaltung des Individuums fordert.

Mason und Dixon erleben auf ihrer Reise in das noch jungfräuliche Amerika zwar ein Land, in dem die Freiheit des Individuums sich in ungeahntem Ausmaß zu entfalten beginnt, deren Kehrseite aber die Massaker an den Indianern, die Versklavung der Schwarzen, um nur das Offensichtlichste zu nennen, bilden. Sie suchen, kurz nach ihrer Ankunft, den Ort eines grauenvollen Massakers einer Siedlerbande an Indianern auf. Pynchon zitiert aus dem überlieferten Arbeitsjournal des historischen Mason, der seine Neugier erwähnt, "den Ort zu sehen, wo im letzten Winter der abscheuliche und unmenschliche Mord an 26 Indianern, Männern, Weibern und Kindern verübt wurde." Dixon wird am Ort des Massakers geschildert, als ihm schlagartig die schon zuvor am Kap der Guten Hoffnung miterlebten Szenen der Sklaverei wieder bewußt werden, die Auspeitschungen, das aufgerissene Fleisch:

"Er sieht, wo Stöße mit Gewehrkolben ihr Ziel verfehlt und Splitter aus der Wand gebrochen haben. Er sieht Blut in niemals gesäuberten Ecken [...] Dennoch ist Dixon gewiß, so gewiß wie die Leichtigkeit, die er nun verspürt, eine ans Fliegen gemahnende Leichtigkeit, daß hier, daß diesen Menschen, weit Schlimmeres geschehen ist, als daß Blut floß und die Kinder schrien - daß am Ende keiner verstand, was sie sagten, als sie starben. `Ich bete nicht genug´, sagt sich Dixon, und ich kann jetzt nicht niederknien, weil zu viele zusehen -, doch könnte ich niederknien und würde ich beten, dann um ergebenst darum zu bitten, daß hier Recht geschehe, daß die Mörder ihr verdientes Schicksal finden und mir die Verlegenheit erspart bleibe, sie aufzuspüren und so viele zu erschlagen, wie ich kann, ehe sie mich überwältigen. Viel besser, wenn das auf andere Weise gehandhabt würde, von jemandem, der ein bißchen glaubwürdiger ist...´ Er fühlte sich trotz dieses Ausbruchs nicht besser."

Das Vordringen in die Wildnis durch die Expedition der beiden Landvermesser stellt zugleich ein Vordringen in ein immer deutlicheres Horrorszenario dar. "Wo hört es auf? Werden wir überall auf der Welt, einerlei wohin wir gehen, Tyrannen und Sklaven finden? Amerika war der eine Ort, wo wir sie nicht hätten finden sollen."

Als das Treiben der Indianerstämme in der Wildnis im damals äußersten Westen um sie herum immer bedrohlichere Züge annimmt - ein Indianer zeigt ihnen stolz den Skalp eines Weißen, den er kurz zuvor getötet hat -, müssen Mason und Dixon die Expedition abbrechen. Nach dem Abbruch des Unternehmens kommt es zu der vielzitierten Sklavenbefreiung, als Dixon einem Sklavenhändler die Peitsche entreißt und den Sklaven zur Flucht verhilft; Mason und Dixon müssen ihrerseits vor dem weißen Mob flüchten. Aber sie haben wenigstens einmal die Wahl einer Aktion im befreienden Sinne genutzt, ganz in Sartres Sinne:

"Hier in Maryland hatten sie endlich eine Wahl, und Dixon entschloß sich zu handeln, Mason dagegen nicht - es sei denn, er wäre dazu gezwungen -, so wie ein jeder von uns sich wünscht, er möchte den selbstverständlichen Anstand dazu besitzen, um dann doch zu versagen. Für all jene zu handeln, die derart versagt haben. Für die Schafe. Doch Mason bot seine Bewunderung an, die er so lange und unvernünftig zurückgehalten, nur um Dixon Futter für weitere derbe Scherze zu liefern."

Diese Einschränkung, ja dieses quasi pro domo gesprochene Geständnis mindert nicht den Wert dieser Aktion. Es bleibt eine tollkühne Aktion, und wem dabei nur einfällt, daß an den Verhältnissen ja doch nichts geändert werde, kann nicht erklären, wie es denn doch ab und zu in der Geschichte Fortschritt gibt: womöglich durch eine Massierung einzelner tapferer Aktionen, die irgendwann einen Punkt erreichen, an dem sie etwas bewirken. Was war denn die einige Jahre darauf veranstaltete Bostoner Tea Party - eine Handvoll von 50 bis 60 als Indianer verkleideter junger Siedler warf unter dem Beifall der Umstehenden Teekisten ins Wasser - anderes als schließlich der Auftakt zur antikolonialen Rebellion?

(Virtuelle) Demokratie

Dass von der antikolonialen Befreiung nicht einfach das Glück der Menschheit zu erwarten ist, wird übrigens in einem sehr schönen Disput über das Prinzip der parlamentarischen Repräsentation klar, in den Mason verwickelt ist. Während die Siedler sich über ihre mangelhafte Vertretung in London aufregen, weist der Brite Mason auf das virtuelle Prinzip der Interessenvertretung hin und vergleicht das Verfahren der Vertretung durch den konkreten Leib des Abgeordneten mit der Konsubstantiation: während die spirituelle Repräsentanz der Volksinteressen durch den Leib des Abgeordneten verkörpert sei, blieben die Deputierten in "bestürzender Weise" auch Menschen. Die hitzige Diskussion der amerikanischen Siedler darüber, ob die Abgeordneten eher mit Geistern oder eher mit Schauspielern zu vergleichen seien, erhält ihre ironische Würze dadurch, dass es sich um eine Gruppe von Wegelagerern handelt, die in Brooklyn wohnen und New Yorker Bürger ausrauben wollen. Mason entkommt ihnen nur, weil er das Fernrohr zu reparieren weiß, mit dem sie die Ostküste Manhattans auf der Suche nach Opfern beobachten

Es ist also wenig mit Goethes "Amerika, du hast es besser!" Mason und Dixon erkennen schließlich, dass sie gescheitert sind, dass die Linie, die sie gezogen haben, eine "Leitung für das Böse" ist, wie es ein Chinese bei der Expedition ausdrückt, "eine ihrem Wesen nach korrupte Landvermessung gegen Geld, welche am Ende nur denen von Nutzen wäre, die aus dem Verkauf, der Aufteilung und dem Wiederverkauf von Land Gewinn schlagen." Dieses Bild wird zwar in typisch Pynchonscher Weise relativiert (auf der Linie entsteht eine Vergnügungsschneise mit Buden etc., die sich Disneyparkmäßig als Leuchtband durchs Land zieht), aber dadurch nicht aufgehoben.

Himmel & Hölle

Die Vermessungstätigkeit, das Zählen, Nummerieren, Sortieren, Karten- und Registeranlegen erscheint geradezu als Prinzip des Übels - womit sich der Bogen zum Beginn schließt -, dem das an Erkenntnis interessierte Wahrnehmen entgegengesetzt wird und, vielleicht als verschwiegenes utopisches Moment im Hintergrund, das Bild des schlichten, nicht am rücksichtslosen Gewinnstreben interessierten Daseins. Zahlreich sind die Passagen, in denen die Analogien unseren Lebens mit den Projektionen von Himmel und Hölle durchgespielt werden, und unsere Lage zwischen beiden Extremen zur Disposition steht. Die Hörerrunde um den Reverend diskutiert über die Predigt eines deutschen Mystikers (häufig, wenn's mystisch wird, tauchen Deutsche auf!) zum Thema Himmel und Hölle: der Unendlichkeit des Himmels entspreche die Hölle als schrumpfende, zusammenfallende Sphäre. Zwischen diesen beiden Dimensionen liege die flache Dimension des Alltags:

"Wir glauben nur, wir bewohnten eine feste Stadt aus Ziegeln und Zimmerholz - in Wirklichkeit leben wir auf einer Landkarte. Vielleicht ist auch unser Leben nur die Darstellung eines wahreren Lebens, das oben und unten geführt wird." Und in der Hölle würden demnach Mason und Dixon seit ihrem Tod ihre ewige Linie auf der Innenfläche des kleinstmöglichen Sphäroids beschreiben.

Dixon bereist am Ende, nach dem Amerika-Höllentrip, den hohen Norden - ein ähnlich hoch konnotierter Bereich wie der unendliche Wilde Westen -, und landet in einer schwerelosen, konkaven Unterwelt, in der ihm die Mitglieder einer unterirdischen Akademie davon klagen, dass ihr Reich immer weiter schrumpfe, je mehr die Welt vermessen werde, bis es schließlich ganz verschwinden werde.

Der Melancholiker Mason aber, der ja eigentlich kein Landvermesser ist, sondern die Sterne ausmißt, erfährt eine überwältigende Ausweitung seines Sehens ins Halluzinogene: "Die Sterne breiten sich nicht wie auf einer gewölbten Oberfläche - nein, er erblickt sie nun auch in der Dritten Dimension - das Auge schafft sich seine eigene Z-Achse, entlang derer die stern-überfüllten Tiefen nah und fern sowohl einwärts- als auch fortstürzen und sich bald, sehr bald, über alles Maß hinaus dehnen."

Im Umsturz der Perspektiven scheint doch so etwas wie Erkenntnisglück zu liegen. Und es gibt sogar tröstliche Momente gegen Schluss des Buches - im Angesicht der düsteren Perspektiven, die es eröffnet hat.

Mason und Dixon, diese beiden so unterschiedlichen Charaktere - und es ist noch kaum gewürdigt worden, dass Pynchon hier erstmals in seinen Romanen wirkliche Charaktere entworfen hat - unterhalten sich schließlich bei späteren Besuchen, als Dixon schon von der Gicht geplagt ist, ohne Streit, dösen zusammen ein bisschen, und träumen dabei vom jeweils anderen. Es entsteht sogar einmal der geradezu alttestamentarische Gedanke einer gemeinsamen Sippengründung in Amerika, Mason ist Vater zweier Söhne, Dixon Vater zweier Töchter. Dixon stirbt jedoch bald, und erschüttert steht Mason an Dixons Grab. "Am Grabe, das nach quäkerischer Sitte keinen Namen trug, flehte Mason das traurig Wenige, was er von Gott wußte, an, Dixon durchzuhelfen." Begleitet wird er von einem seiner Söhne, von demjenigen, bei dessen Geburt seine Frau gestorben ist und der immer den Verdacht hatte, sein Vater werfe ihm das vor. Auch hier kommt es zur Versöhnung. Das Buch klingt aus an Masons Sterbelager, als ihm seine Söhne, Trost flüsternd, "durchhelfen".

All das postmodern-Leichte, das Spielerische, was wir sonst mit Pynchon verbinden, ist hier zum Schluss ganz abgestreift. Es scheint, als ob sich der Autor dagegen wehre, der Melancholie, die das Buch dermaßen grundiert und trotz Dixons Witz und Mut dominiert, das letzte Wort zu lassen. Und wenn es auch ein Zugeständnis an die literarische Konvention sein sollte - angesichts der Leichenberge, die wir praktisch täglich im Fernsehen wahrnehmen können, angesichts unser eigenen Sterblichkeit sind auch wir Religionslosen in einem versteckten Winkel solchen Trostes bedürftig. Der Autor und seine Figuren werden uns dadurch nur um so lieber.

Tenebrae weist die anderen in der eben zitierten Himmel-Hölle-Diskussion zurecht: "`Warum sollten die Landmesser nicht dort droben zu finden sein´ - eine Geste mit ihrer Nadel [...], `wo sie umherziehen, die endlosen luftigen Meilen ausmessen und sich dabei selbst einem Zustand reiner Geometrie annähern?´" Ja, warum eigentlich nicht?

Titelbild

Thomas Pynchon: Mason & Dixon. Roman.
Übersetzt aus dem englischen von Nikolaus Stingl.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
1024 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3498052926

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