Der Roman zur Krise?

Wilhelm Genazino erzählt "Das Glück in glücksfernen Zeiten"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ja, man kann Wilhelm Genazinos "Das Glück in glücksfernen Zeiten" als Roman zur Krise lesen, wenn man es denn will - dass es ein Bedürfnis nach derart tagesaktueller Belletristik gibt, verdeutlicht die Vermarktung von Bodo Kirchhoffs "Erinnerungen an meinen Porsche", die schon im Titel das prestige- und symbolträchtige Emblem wirtschaftlich-viriler Potenz verabschieden. Kirchhoff promotet sein Buch in Interviews als literarisches Gegenmittel zu den Mechanismen des schnellen und trügerischen Erfolgs der "sexuellen Quickies", "Finanzquickies" und "Prominentenquickies", der "im Grunde etwas mit Sprachschlamperei zu tun" habe: "Und jemand, der von der Sprache lebt, die Sprache liebt [...], der geht dann eben auf seine ganz persönliche Barrikade." Besondere Nachhaltigkeit wird man seinem Roman gleichwohl nicht attestieren, im Gegensatz zu Genazinos "Glück in glücksfernen Zeiten", der, ohne gegen die Uhr geschrieben zu sein und ohne der politisch-ökonomischen Tageswirklichkeit der Bundesrepublik hinterher zu buchstabieren, ein Roman zur Krise ist oder sich so lesen lässt. Immerhin verliert der beruflich wie privat scheinbar sicher situierte 41-jährige Gerhard Warlich im Laufe des Buchs seine Arbeitsstelle, wohl auch seine Lebensgefährtin und die behütete Mittelklasseexistenz. Seine Selbstdiagnose, "ich weiß nicht, warum mich zuweilen die Angst vor einer zukünftigen Armut innerlich durchschüttelt", lässt sich biografisch deuten - wie alle Figuren Genazinos kommt auch Warlich aus so 'kleinen Verhältnissen', dass seine Mutter vor dem Kauf neuer Schuhe die Kreditabteilung des Kaufhauses aufsuchen musste. Die Furcht vor zukünftiger Armut verweist aber auch auf die behauptete, bis dato noch nicht 'gefühlte' Stimmungslage in jenem Mittelstand, dem inzwischen fast alle angehören. Und was Warlich in den Straßen Frankfurts beobachtet, lässt sich auch in anderen deutschen Städten beobachten: "Es gibt neuerdings arme Männer, die am Abend umherschweifen und in den Mülltonnen nach leeren Flaschen suchen."

Eigentlich sind solche sozio-realistischen Details nur die äußere Bestätigung einer inneren Vorahnung, die Genazinos Held als Gefühl grundsätzlicher Brüchigkeit immer schon hatte: "Gegen meinen Willen beschleicht mich das vertrauteste Unbehagen: Daß mein Leben nicht so bleiben kann, wie es ist. Groteskerweise bin ich im großen und ganzen mit unseren Verhältnissen zufrieden. Dennoch habe ich den Eindruck, dass die ganze Zeit eine unhaltbare Sache abläuft: mein Leben."

"Eine unhaltbare Sache - mein Leben", das ist die diffus distanzierte Fassungslosigkeit angesichts der Eigendynamik von Biografie, die sich selbstbewusster "Lebensplanung" entzieht: Als promovierter Philosoph ohne Aussicht auf eine Universitätslaufbahn ist Warlich zufällig an eine Beschäftigung als Ausfahrer eines Wäschereibetriebs geraten, in dem er allmählich bis zum Geschäftsführer aufsteigt, bis er ebenso erwartbar wie überraschend entlassen wird: Zur Bespitzelung von Kollegen eingesetzt, wird er selbst Opfer der Überwachungsmaßnahmen seines Vorgesetzten und, obgleich nur Beobachter, als aktiver Teilnehmer einer Demonstration von Anarchisten denunziert. Das absurde Missverständnis hat indes einen psychisch wahren Kern, insofern Warlich sich aus den Verhältnissen, in die er geriet, hinauswünscht, ohne diese Wünsche aktiv umsetzen zu können: "Ich beneide die Anarchisten in gewisser Weise, weil sie ihre Unzugehörigkeit darstellen können: Meine Unzugehörigkeit war immer ganz innerlich und verweigerte jede Darstellung."

Warlich ist expressiv nur in einer Art Alltags-Performance: dem Verwittern-Lassen einer Hose auf dem Balkon, der demonstrativen Übergabe einer Scheibe Schwarzbrot als Begrüßungsakt oder dem Projekt einer "Schule der Besänftigung", die in Gesprächen mit Studienkollegen und städtischen Beamten sogar schon - fantastische - Gestalt annimmt. Selbst bei diesem Projekt, das den auf Event-Psychologie schielenden Kulturbetrieb persifliert, ist der Leser gewillt, anders als Traudl, die Lebensgefährtin Warlichs, dessen Ideen und Gefühlen Wirklichkeitsstatus zuzugestehen, so kunstvoll und so beständig ist der Pakt, den Genazino hier wie auch in anderen Romanen zwischen seinem Helden und den Lesern zu stiften vermag, weil der Protagonist als Ich-Erzähler der einzige Mittler zwischen Fiktion und außerliterarischer Wirklichkeit ist. Seine Perspektive übt einen Sog aus, dem man sich ungern entziehen mag (außer vielleicht als Leserin).

Die Erzählweise des Romans legt den Lesern nahe, Warlichs Empfindungen nicht als Idiosynkrasien eines Sonderlings hinzunehmen - selbst dann nicht, als sie ihn in eine geschlossene Anstalt bringen -, sondern als bekanntes, wenn auch verdrängtes eigenes Existenzgefühl wieder zu erkennen, dem auf ungewöhnliche, aber doch anschauliche Weise Gestalt verliehen wird. Darin besteht der Trick Genazinos, sein von Roman zu Roman variierter Kunstgriff, den Leser weniger über die Eigentümlichkeiten skurriler Figuren staunen zu lassen als darüber, die eigene Wunderlichkeit so wenig wahrzunehmen und auszuleben. Das poetische Verfahren, vielleicht ja schon eine der in der "Schule der Besänftigung" praktizierten Methoden, verläuft in drei Schritten: Eine banale Begebenheit, etwa die Beobachtung, dass der vermeintliche Straßenmusikant nur ein schlecht getarnter Bettler ist, der seinen Musikantenlohn schamlos vor den Augen der Spender in eine Flache Cognac umsetzt, verhilft dem Ich-Erzähler dazu, ein Gefühl zum Ausdruck zu bringen, dessen Opfer er ist und mit dem er sich allein wähnt.

Dieser subjektive Sonderstatus wird mit der Versprachlichung des zuvor nur diffus Erlittenen in Frage gestellt und die Idiosynkrasie des Helden erscheint nun, diskursiviert, auch dem Leser als ästhetisch-anthropologische Gegebenheit, die zuvor im blinden Fleck der Wahrnehmungslosigkeit verblieb. Der dreist betrügerische Bettler-Künstler etwa, den Warlich durchschaut, motiviert ihn zu folgenden Überlegungen: "Er bläst nur ein paar Takte, dann geht er von Tisch zu Tisch. Es erstaunt mich, daß die Menschen dem Trompeter trotz seines dürftigen Auftritts reichlich Geld spenden. Ich erliege immer wieder meinem dann doch stumm bleibenden Drang, die Menschen über die allgemeine Ödnis des Wirklichen aufklären zu wollen. Dann merke ich rasch, die anderen wissen längst, wie kläglich alles Geschehene ist. Danach beschäftigt mich das Problem, ob die anderen ihre intimen Kenntnisse absichtlich geheim halten oder aus anderen Gründen nicht über sie sprechen wollen. Ganz zum Schluß taucht die Frage auf, wie es möglich ist, dass wir alle mit der öffentlichen Armseligkeit so gut zurechtkommen."

Und das ist dann auch die Frage, die an die Leser weitergegeben wird, sofern sie nicht die Grundthese dementieren - wozu der Roman wenig Handhabe liefert, zu freundlich ist das Angebot, sich im "Wir alle" des Empfindsamkeits-Ghettos eingeschlossen zu fühlen.

"Das Glück in glücksfernen Zeiten" ist nur insofern Zeitroman, als er Befindlichkeitsroman ist, weniger Ausdruck einer unspezifischen Sehnsucht in einer spezifischen historischen Situation als Beschreibung (und Evokation) sehr spezifischer Wohlseinsempfindungen in einem grundsätzlich wenig behaglichen Leben, der "Ödnis des Wirklichen", die in "glücksfernen Zeiten" lediglich offen zu Tage tritt.

Das Glück nun, das Genazino verheißt - und in seinem Roman gewährt, satzweise nur, aber zuverlässig -, dieses Glück besteht im Aufgehen der psychischen Versehrung in der sinnlichen Wahrnehmung, in der Vermischung von Empfindung und Bild und in der psycho-physischen Entlastung, die mit dieser Entäußerung einhergeht. Die Bereicherung, die dem Leser zuteil wird, ist also zweifacher Natur: Neben der kathartischen Wirkung, zu der die Wirklichkeit, richtig gesehen, dem Subjekt verhelfen kann, erfährt sie, weil sie dieses Potential enthält, eine ästhetische Aufwertung, die umso stärker ausfällt, als sie aufgrund ihrer Banalität ansonsten aus dem Bereich des Ästhetischen ausgeschlossen ist (auch wenn diese Position theoretisch längst überwunden und die "Anästhetik" anerkannter Forschungsgegenstand ist, Genazino illustriert die Erfahrung alltäglicher Wahrnehmungsblindheit so anschaulich und überraschend, dass die Lektüre ihren Reiz behält, auch nachdem man das poetische Programm durchschaut hat).

Die spezifische Mischung von anschaulichem Detail-Realismus, Stimmungsevokation, Abstraktion und Kommentar - wobei vor allem die beiden letzteren keine Garanten für Publikumwirksamkeit darstellen, im Gegenteil -, diese Mischung gelingt Genazino, indem er die Untrennbarkeit hochbewussten Beobachtens und verzagt-unfähigen Eingreifens durch das Psycho- und Soziogramm seiner Hauptfigur plausibel macht: des in die Banalität des entfremdeten Brotberufs gerutschten und dort (zeitweise) reüssierenden Philosophen. Die Konstellation verbindet Sozio-Realismus - Stichwort akademisches Prekariat - mit erzählerischer Plausibilität und liefert eine handwerklich überzeugende Lösung des Problems, vor das Ich-Erzähler ihre Autoren stellen: Entweder schildern sie nur den begrenzten Erlebnisraum, in dem sich ein wortmächtiges und sprachreflexives Subjekt, wie es Genazinos Erzählerfiguren ausnahmslos sind, realistischerweise aufhält, und büßen damit Welthaltigkeit ein - oder sie verlieren an Glaubwürdigkeit dadurch, dass ihr Erzählerbewusstsein die soziale Existenz und den Berufsstand der Figur zu transzendieren scheint, wie die Kritik es im Zusammenhang von Genazinos so genannter "Abschaffel-Trilogie" moniert hat, deren Held als Angestellter lebt, ohne als Angestellter zu empfinden - wobei, dies als Marginalie zur Supervision literaturwissenschaftlicher Stereotypen, ein eigenartig statusängstliches Abrücken der Literaturwissenschaftler von Angestelltenexistenzen zu verzeichnen ist. Nachdem Genazinos letzte Romane dem Dilemma durch surreale Lebensentwürfe und Phantasieberufe beizukommen suchten - dem Flaneur als Luxusschuh-Tester (in "Ein Regenschirm für diesen Tag") oder dem "freischaffenden Apokalyptiker", "Panik Berater" und "Ekel Referenten" (in "Die Liebesblödigkeit"), kann der Wäsche ausfahrende Philosoph glaubwürdig zwischen den Welten vermitteln, und die Risiken, denen Genazinos Erzählweise ausgesetzt ist, durch ironische Eigenschelte begrenzen: So etwa angesichts der philosophischen Höhenflüge, zu denen ein von der Hundehalterin beseitigter Hundehaufen anregt: "Das heißt, sie fügt dem öffentlichen tierischen Scheißen nachträglich die sittliche Verheimlichung des menschlichen Scheißens zu. Ich bin mal wieder enorm schlau."

Weniger glücklich gelöst ist im neuen, wie in fast allen bisherigen Romanen die "Frauenfrage". Hier muss man, bei aller Wertschätzung des Autors, sogar eine gewisse Stagnation verzeichnen, die auch als mentalitätsgeschichtliche Archivierung von Kindheitsprägungen (der 1950er-Jahre) nicht zu retten ist, zumal der Ich-Erzähler erst Ende der 1960er-Jahre geboren ist: Zu den Tröstungen gehört für Genazinos Helden ganz wesentlich die Wahrnehmung weiblicher Körper, und zwar auch jenseits modischer Vorgaben oder 'reiner Geschlechtlichkeit' - das ist menschlich erfreulich und politisch korrekt. Problematischer ist, dass, da es ein männliches Pendant für die weibliche Brust bei Genazino nicht gibt, da seine Helden gerade keine 'zum Anlehnen einladende Schulter' bieten, Frauen also ungetröstet durchs Leben gehen müssen, so dass es nur folgerichtig erscheint, wenn sie in Kindern ein "paar deutliche Geschmacksverstärker" für ihr reizarmes Leben suchen.

Letzteres aber ist der stete Vorwurf und die Angst der sie liebenden, auf der eigenen Infantilität bestehenden Männer. Die Frage ist nicht, inwiefern das realistischen Beobachtungen entspricht - die verweigerte Vaterschaft taucht angesichts niedriger Geburtenraten ja immer mal wieder als Erklärungsansatz auf -, die Frage ist, inwiefern Genazinos Erzählweise diese Geschlechterstereotype poetisch ins Recht setzt. Denn als Agenten einer auf Realismus und Pragmatismus geeichten Außenwelt ist Frauen eine kreative Teilhabe an der Welt des Poetischen versagt: Wo sie Poesie suchen, produzieren sie Unwahrhaftigkeit, also Kitsch, wie Traudl, die dem Verblühen der Rosen in der Vase zusieht, bis "der Kitsch zu stinken anfängt", für die Poesie einer verwitternden Hose auf dem Balkon aber so blind ist, dass sie deren künstlerischen Schöpfer in eine psychiatrische Anstalt einliefern lässt.

Um mit einem Kalauer zu enden: Dem Gattungswesen Frau ist in Genazinos Werk der Ruf nach einer neuen Hose für den Lebensgefährten in die Gene gelegt: "Du musst dir sowieso mal wieder eine neue Hose kaufen! Ich will dich mal wieder in anderen Klamotten sehen!" Mutatis mutandis schließt sich Rezensentin der Klage an und mahnt ihren Autor, seine Frauengestalten endlich neu einzukleiden. Leserinnen haben naturgemäß keine Erinnerungen an ihren Porsche, aber auch sie sind trostbedürftig in diesen "glücksfernen Zeiten".


Titelbild

Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446232655

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