Kleinbürger in der Gründerzeit
Theodor Fontanes nachgelassener und unvollendeter Roman "Mathilde Möhring" in der Historisch-Kritischen Ausgabe
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWer etwas über die Geschichte und Kulturgeschichte des späten 19. Jahrhunderts erfahren möchte, über die Mode und gesellschaftlichen Gepflogenheiten einzelner Schichten, den finanziellen Aufstieg von Spekulanten in der Gründerzeit und das Bildungsbürgertum, der kann entweder Thomas Nipperdeys ersten Band seiner deutschen Geschichte zur Hand nehmen oder aber in den hervorragend kommentierten Romanen von Theodor Fontane in der im Aufbau-Verlag erscheinenden "Großen Brandenburger Ausgabe" lesen.
Als zwanzigster Band dieses ehrgeizigen Editionsprojektes ist nun Fontanes erst posthum erschienener Roman "Mathilde Möhring" erschienen, den der Schriftsteller im Januar 1891 begonnen hat. Im Mittelpunkt steht die intelligente, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Titelfigur. Sie heiratet den "ästhetisch fühlenden und mit einer latenten Dichterkraft ausgestatteten", ansonsten aber bequemen Hugo Grossmann, der sein Jura-Examen gerade so besteht, und treibt seine berufliche Karriere auch in ihrem Interesse voran. Hugo wird Bürgermeister einer kleinen ostpreußischen Stadt, stirbt aber recht bald, nachdem die beiden sich gesellschaftlich etabliert haben. Auch ohne ihren Mann geht Mathilde ihren zielstrebigen und auf sozialen Aufstieg ausgerichteten Weg weiter und beginnt eine Lehrerausbildung, die sie auch abschließen kann.
Durch das kleinbürgerliche Personal, die ostpreußischen Handlungsschauplätze und die jüdische Herkunft Hugo Grossmanns erfährt der Leser - oft genug nur in Anspielungen - vieles über die preußische Judenpolitik, den seit den späten 1870er-Jahren wieder aufflammenden Antisemitismus, die konfessionellen Verhältnisse im Grenzgebiet zum katholischen Polen und die Entwicklung der europäischen Kolonialinteressen. Oft deuten sich ganze sozialgeschichtliche Phänomene wie der Mangel an menschenwürdigen Wohnungen in Berlin nur in einem einzigen Wort ("Kellerwohnungen") an. Diese wie auch die Nennung zeitgenössischer Persönlichkeiten aus der Theater- und Opernwelt wie Charlotte Wolter, Theodor Döring oder Arthur Krausneck erschließt der Kommentar in knapper aber präziser Form.
Anderes, zum Beispiel das Reichsmünzgesetz (1871), die Währungsreform (1874) und technische Errungenschaften wie die Berliner Stadtbahn (1874-1882) werden immer wieder thematisiert und nehmen für die Symbolstruktur des Romans wichtige Funktionen ein. Denn wie auch in seinen anderen Romanen zeichnet sich Fontanes auf ernüchternder Faktizität aufbauendes Realismus-Konzept nicht durch eine naturalistische und rein abbildhafte Darstellung der Verhältnisse wie bei Zola oder auch in Romanen des Vormärz aus, sondern unterliegt - wenn auch vielleicht weniger ausgeprägt als in früheren Romanen - seinem 'Verklärungspostulat', das auf die Ausgrenzung etwa von Elendsdarstellungen zielt. Die präzise und nachvollziehbar dargestellte Lebenswelt des Kleinbürgertums ist Teil der Zeit- und Raumstruktur des Romans. So wird etwa bei der Nennung von Uhrzeiten bei wichtigen Ereignissen auf biblische Geschehnisse angespielt und die Wohnsituation der Protagonisten wird durchweg vor dem Hintergrund einer sozialen Topografie beschrieben, die für die Interpretation des Textes ebenso von Bedeutung ist wie der Einsatz von Denkmälern für eine ganze "Denkmaltopographie" etwa in "Effi Briest".
Bedingt durch Krankheit und die Überarbeitung beziehungsweise Niederschrift seiner Autobiografie "Meine Kinderjahre" (1893/94), "Die Poggenpuhls" (1895/96), "Effi Briest" (1894/95), und "Der Stechlin" (1897/98) nahm Fontane die 1891 begonnene Arbeit an "Mathilde Möhring" erst wieder 1896 auf, ohne jedoch das Manuskript für eine Publikation fertigzustellen. Aus dieser 'Vernachlässigung' des Textes hat die Forschung in der Vergangenheit fast einhellig eine Geringschätzung des Romans durch Fontane selbst geschlossen und ihm und seiner weiblichen Hauptfigur weniger Beachtung geschenkt als etwa den Frauenfiguren Melanie von der Straaten, Cécile, Jenny Treibel und Effi Briest. Die wissenschaftliche Rezeptions- und Bewertungsgeschichte der Mathilde Möhring mit ihrem berechnenden Kalkül als herausragender Charaktereigenschaft hat jüngst Sabina Becker in einem Beitrag für die "Zeitschrift für Germanistik" (2000) zusammengefasst und darin auch durch neue Interpretationsansätze das Bild der Mathilde Möhring korrigieren können. Tatsächlich gehe es - wie in den bekannteren Fontane-Romanen - weniger um Standes- und Geschlechterunterschiede, doch sei Mathilde als Aufsteigerin mit Stärken und Schwächen zu sehen und besonders auch die Rolle von Hugo Grossmann zu überdenken, der von dieser Ehe ebenso profitiere wie Mathilde selbst.
Doch spielt die Forschungsdiskussion in der von Gabriele Radecke besorgten Ausgabe nur eine untergeordnete Rolle. Gleichwohl wird sie diese Edition sicherlich neu beleben können, stellt der hier konstituierte Text doch nach Meinung der Herausgeberin, in deren Verantwortung bereits Band vier ("L'Adultera") und sechzehn ("Die Poggenpuhls") der "Großen Brandenburger Ausgabe" lagen, die "maßgebliche les- und zitierbare Grundlage für die Lektüre und wissenschaftliche Analyse" dar. Um diesen Anspruch zu untermauern, liefert die Editionsgeschichte eine penibel nachgezeichnete Zusammenfassung der bisherigen Ausgaben des Romans, die Radecke als Geschichte "editorischer Fehlentscheidungen" kritisiert. Gleichwohl erläutert sie auch die Motive, die Joseph Ettlinger zu seiner 1906 in der "Gartenlaube" publizierten, stark bearbeiteten und stilistisch geglätteten Fassung des Romans bewogen haben mögen, zumal die Publikation von Friedrich Fontane unterstützt worden war.
Wie Ettlingers Edition beanspruchte auch der von Gotthard Erler 1969 im Rahmen der Werkausgabe im Aufbau-Verlag publizierte und bis heute maßgeblich gebliebene Text von "Mathilde Möhring", eine "authentische" Fassung von Fontanes letztem 'Frauen-Roman' zu sein. Erler wies dabei auf Ettlingers Texteingriffe und auch darauf hin, dass Ettlingers Publikation nicht auf die Handschrift Fontanes, sondern auf eine Abschrift des Textes durch Friedrich Fontane zurückgehe. Erlers Text, so fasst Radecke zusammen, orientiere sich zwar an der Handschrift und behalte Unregelmäßigkeiten etwa bei unterschiedlichen Namen der Personen bei, doch seien auch hier die "Spuren der Unvollendetheit" getilgt und eine exakte Analyse der Handschrift versäumt worden, aus der "überlieferungsadäquate editorische Prinzipien hätten gewonnen werden können". Im Hinblick auf die (wissenschaftliche) Rezeption des Romans beurteilt die Herausgeberin diese Editionsgeschichte mit deutlichen Worten: "Obwohl Fontane den Roman unvollendet gelassen und nicht zum Druck befördert hat, ist er ebenso wie die abgeschlossenen und bis 1898 veröffentlichten Romane und Erzählungen als ein Text letztgültiger Gestalt rezipiert worden."
Radecke liegt gerade an der Herausstellung des fragmentarischen Charakters von "Mathilde Möhring", weshalb sie sich auch konsequent und ausschließlich bei der Textkonstitution an der Handschrift orientiert. Allerdings muss sie einräumen, dass aufgrund der Überlieferung und Materialität auch ihre Edition durchaus eine bearbeitete Fassung darstellt und nicht einen "authentischen Text" nach dem Willen des Autors. Das "typographische Nebeneinander" der Handschrift mit Überschreibungen, Streichungen und Anmerkungen wurde im Text weitgehend zugunsten eines "eindimensionalen Zeichengefüges" reduziert, so dass der Text nun "die letzte überlieferte Textschicht und somit alle nicht eindeutig getilgten Textteile" enthält.
Nun mag der Purist selbst die wenigen Texteingriffe etwa bei offensichtlich fehlenden Wörtern und der Pragmatiker den editionsphilologischen Übereifer brandmarken und jeweils die Frage stellen, ob dies tatsächlich für die eine oder andere Lesart, ganz konkret auch für die Interpretation, Unterschiede zeitige. Zu welcher Gruppe man sich auch immer rechnet, so verdeutlicht Radeckes Edition durch ihre akribische Arbeit und plausiblen Erläuterungen sowie mit ihrem Variantenverzeichnis ganz allgemein, wie spannend solche Fragen und Projekte sein können. Für den Leser ist anhand des Apparates leicht nachvollziehbar, dass Radecke ihre eigenen Vorgaben und ihren Anspruch bei der Textherstellung auch tatsächlich eingelöst hat.
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