Das Trauma kennt keine Zeit

Ursula Krechel verwebt in ihrem Tatsachenroman "Shanghai, fern von wo" das Flüchtlingsschicksal Tausender zu einem bewegenden Erzählpanorama

Von Luitgard KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luitgard Koch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwangsarbeit in einem Ghetto muss die deutsche Rentenkasse als Beitragszeit für die Rentenversicherung nicht anrechnen, entscheidet das Sozialgericht Düsseldorf. Grund: Die Vorraussetzungen dafür, betonen die Richter, nämlich die Ausübung einer Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss und dies auch noch gegen Entgelt, waren unter den damaligen Umständen meist nicht gegeben. Der Holocaust habe gar nicht existiert, behauptet noch dazu Bischof Richard Williamson von der Piusbruderschaft. Und wird von Papst Benedikt XVI. trotzdem wieder in den Schoß der katholischen Kirche aufgenommen. Der Augsburger Bischof Mixa vergleicht: Abtreibungen seien dasselbe Verbrechen wie der Holocaust.

In diesem Klima kann ein Buch wie "Shanghai, fern von wo" kaum mehr objektiv gewürdigt werden. Denn jedes Bewahren der Erinnerung an das Schicksal der Opfer ist angesichts dieser Verleugnung und Verdrängung für die Nachgeborenen unentbehrlich. Schließlich schafft es kein deutsches Geschichtsbuch, das volle Ausmaß des Verbrechens und die demütigende Behandlung danach auch nur ansatzweise zu thematisieren. Menschliche Schicksale werden dort meist ausgeklammert. Geschichtsaufarbeitung bedeutet heute, 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, stattdessen die Gründung eines Vertriebenenmuseums vor allem für deutsche Opfer.

Shanghai ist eine von der Exilforschung beinahe vergessene Stadt. Für 18.000 jüdische Emigranten stellt die internationale Stadt an der Westküste des pazifischen Ozeans, ein exterritorialer Welthafen mit britischen und französischen Niederlassungen, 1938 den letzten Ausweg aus der Nazihölle dar. Denn es war der einzige Ort der Welt ohne Visumspflicht. Überfüllt mit chinesischen Flüchtlingen aus den japanisch-chinesischen Kämpfen und russischen Flüchtlingen aus der Oktoberrevolution ist das Manhattan des Ostens ein Ort der Enge und der bitteren Armut. Mit den erlaubten zehn Reichsmark in der Tasche, traumatisiert von KZ-Aufenthalten, Fluchtstrapazen und dem Verlust von Angehörigen, müssen die Neuankömmlinge sich in der Fremde einrichten. Im feucht-heißen Klima gilt es sich täglich neu zu erfinden, um den Überlebenskampf einigermaßen zu bestehen.

Jede Fähigkeit wird zur Ware, zum Tauschobjekt. Ludwig Lazarus, Buchhändler aus Berlin, handelt mit Informationen. Die Erinnerungen des Überlebenskünstlers, aufgezeichnet auf Tonbändern, bilden die Grundlage der grandiosen Erzählung von Ursula Krechel. Die Angst in dem fremdartigen, bedrohlichen Wartesaal Shanghai, die Unsicherheit, ob es je eine Zukunft geben wird sowie der Wahnsinn der deutschen Vernichtungsideologie, der bis nach Ostasien reichte, macht ihr Tatsachenroman eindringlich spürbar.

Vor allem beschreibt die preisgekrönte Schriftstellerin plastisch den mühseligen Alltag in Shanghai. Sie verschränkt dabei den Lebensweg Einzelner mit den großen Verwerfungen der Geschichte. Entlang von wenigen Hauptfiguren und zahlreichen Nebenhandlungen entwirft sie ein atmosphärisch dichtes Panorama, das vom kommunistischen Widerstand bis zur DDR-Diplomatie, von der Ausreisebürokratie 1938 bis zur Wiedereinreisebürokratie 1945, vom Kampf um Menschenwürde bis zum Kampf um Gerechtigkeit im Wirtschaftswunder-Deutschland reicht.

Souverän verwandelt die Essayistin und Lyrikerin ihren gründlich recherchierten Reportagestoff aus authentischen Briefen und Berichten zu einem erschütternden Roman. Ursula Krechels Buch besticht nicht zuletzt als Zeitdokument gegen das Vergessen. "Shanghai fern von wo" ist aber gleichzeitig auch ein Stück Historie in literarisch bewegender Prosa.


Titelbild

Ursula Krechel: Shanghai fern von wo. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2008.
500 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783902497444

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