Achtung, Suchtgefahr

Kathryn Miller Haines grandioser Schauspielroman

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den letzten Tagen war ich viel beschäftigt, unabhängig davon, wo ich mich gerade aufhielt. Abends vor dem Zubettgehen, vor dem Einschlafen und nachts, wenn ich nicht schlafen konnte (ich leide unter sogenannten Schmökerschlafstörungen, ein Anfallsleiden, das ursächlich mit der Lektüre von bestimmten Romanen zusammenhängt und das mich in unregelmäßigen Abständen heimsucht).

Morgens, wenn Zeit war, habe ich mir diese Beschäftigung - noch im Bett liegend - vorgenommen, beim Frühstück habe ich das fortgesetzt. Ich fahre immer dienstags bis donnerstags in den Westen der Republik, um dort meinem Brotberuf nachzugehen; das führt zu einigen Stunden Zugfahrt und zu einem hohen Lesepensum. In den Mußestunden daheim auf der Liege war dann natürlich einiges an Schlaf nachzuholen, der dann immer wieder von Lesepausen unterbrochen wurde.

Meistens habe ich während meiner Beschäftigung, die ich nur für die dringendsten Besorgungen und notwendigsten Arbeiten - essen, trinken, schlafen, Gesicht waschen - unterbrochen habe, geschwiegen. Hin und wieder habe ich gekichert (ein Mann in meinem Alter kichert nicht!), gelegentlich auch lauthals gelacht. Das ist im Zug besonders peinlich. Ich hoffe aber, dass sich meine Neigung bei den mittlerweile vertrauten Fahrnachbarn herumgesprochen hat und als weniger aufdringlich gilt als die geschäftlichen und privaten Telefonate, die im selben Abteil (Bahn Comfort, direkt neben dem Speisewagen) gleichfalls geführt werden.

Normalerweise sind solche öffentlichen Gespräche sehr interessant. Man hört viel vom Leben anderer, begleitet Unternehmen, Geschäfte und Zugfahrer bei ihren Auf- und Niedergängen, hört Imperien und Hoffnungen zugrunde gehen und begleitet Damen und Herren jeglichen Alters bei ihren persönlichen Katastrophen.

Freilich muss ich einräumen, dass ich das Schicksal meiner Fahrtgenossen in den letzten Tagen etwas weniger aufmerksam wahrgenommen und begleitet habe, da ich - wie erwähnt - beschäftigt war. Und zwar mit Lesen.

Schauspieler sind auf Publikumserfolge aus, Autoren auf Leser - und all das unabhängig vom Geschlecht. Kathryn Miller Haines hat jedenfalls Leser verdient und in mir einen gefunden, der gern anderen empfiehlt, es ihm gleich zu tun.

Voraussetzungen sind: Freiraum und ein tolerantes soziales Umfeld, am besten allerdings gar keines. Dann kann einen auch nichts ablenken. Hilfreich ist auch ein robustes Verhältnis zum Arbeitgeber oder ein toleranter Arzt, der ohne groß zu fragen Krankschreibungen ausfüllt. Allerdings sollten ein teigiger Teint, tiefschwarze Augenränder und ein gehetzter Gesichtsausdruck - man hat immerhin Wichtigeres zu tun, als zum Arzt zu gehen oder zur Arbeit - ausreichen, um der Arbeit fern zu bleiben. Transportfähigkeit? Fraglich.

Man muss solche Fälle ja auch nicht an der entgangenen Arbeitskraft messen, sondern an dem Schaden, der bei einem weiteren Einsatz auf der Arbeit ansonsten kaum zu vermeiden wäre. Allerdings muss zugleich vor einer allzu extensiven Ausdehnung dieser Tätigkeit gewarnt werden. So tolerant und belastbar ein soziales Umfeld auch ist, so sehr es sich an Alterungs- und sonstige Erschlaffungserscheinungen auch gewöhnen mag - die rasante Veränderung, die die Lektüre dieses Buches bei jedem Leser nach sich zieht, kann zu grundlegenden Zweifeln an einer früheren Entscheidung ("ist er's - ist sie's nicht" et cetera) führen, ja nicht nur dazu, dass diese Entscheidung rückgängig gemacht wird, sondern auch dass entschieden dementiert wird, dass diese Entscheidung im Zusammenhang mit dieser bleichen und offensichtlich heruntergekommenen Kreatur getroffen worden ist, die mit einem Mal vor einem steht. Das kann nicht sein.

Von daher ist dazu zu raten, dieses Buch weder zu verschenken, noch zu verleihen, noch selber zu lesen. Lesen kann generell zu vertiefter Asozialität führen, Risiken sind unüberschaubar, Nebenwirkungen unvermeidbar und kein Arzt oder Apotheker kann irgendein Mittel dagegen empfehlen. Eine sichere Dosierung ist kaum möglich, insbesondere nicht bei Büchern wie diesem, dessen suchtfördernder Charakter unübersehbar ist.


Titelbild

Kathryn Miller Haines: Miss Winters Hang zum Risiko. Rosie Winters erster Fall. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Kirsten Riesselmann.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
488 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783518460900

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