Zwischen den Mauern

François Bégaudeau beschreibt in "Die Klasse" den Schulalltag in einer Pariser Banlieue

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Aus einem Kalender gerissenes Blatt, liniert, nicht kariert: Ich heiße Sandra und bin ein bisschen traurig, weil die Schule wieder losgeht, aber auch froh, weil ich die Schule mag, vor allem Französisch und Geschichte, wo man lernt, wie die Menschen die Welt gemacht haben wo wir heute leben. Ich könnte noch ganz viel sagen, und jetz kommen Sie gleich die Zettel einsammeln, ich wollt es richtig gut machen und hab erst vor zwei Minuten mit schreiben angefangen tut mir leid wegen der Feler."

Zu Beginn des neuen Schuljahres bittet der namenlose Ich-Erzähler jeden Einzelnen aus seiner neuen Klasse, ein Selbstporträt zu verfassen. Nach einigem Widerstand und der Frage nach dem Sinn des Ganzen macht sich die größtenteils aus Migranten bestehende Gruppe an die Arbeit. Die kurzen Texte geben einen ersten Einblick in die Welt der verschlossenen, sich aber cool gebenden Jugendlichen. Sie zeigen das Dilemma, in dem sich diese Schüler befinden: Abseits des pulsierenden Pariser Lebens führen die jungen Bewohner des 19. Arrondissements ein trost- und perspektivloses Dasein, aus dem es kein Entrinnen für sie gibt. Gefangen zwischen den Mauern ihres Banlieues, das sie wie ein Brandmal zeichnet, pendeln sie - ohne sich dessen bewusst zu sein - beständig zwischen der französischen Kultur und der ihres jeweiligen Heimatlandes.

Des "Hochfranzösischen" nicht mächtig, bedienen sie sich einer Umgangssprache, die es ihnen nicht ermöglicht, ihre Hoffnungen, die sie hegen, respektive die Sorgen, die sie plagen, adäquat zu artikulieren. Ihre Abstammung aus sogenannten bildungsfernen Schichten, die geringen Französischkenntnisse der Eltern, deren größtenteils schlechte berufliche Situation, schließlich die nicht selten zerrütteten und aufgelösten familiären Bindungen erschweren ein reibungsloses Weiterkommen in Schule und Beruf. Die meisten Schüler tragen eine ganze Menge an Problemen, die sie daheim kommunikativ aufzuarbeiten nicht in der Lage sind, mit sich herum. Und so wissen sie ihre angestaute Wut und Verzweiflung oftmals nicht anders auszudrücken als ständig nach einer Gelegenheit zu suchen, um ihre Aggression durch verbale und körperliche Attacken zu kanalisieren.

Soweit ist die Situation der Jugendlichen - grob gezeichnet - allseits bekannt. François Bégaudeau gelingt es jedoch mit seinem 2006 erstmals erschienenen und mit dem "Prix France Culture / Télérama" ausgezeichneten Roman "Entre les murs", der jetzt unter dem Titel "Die Klasse" auch auf Deutsch vorliegt, ein differenzierteres Bild von der Gesamtsituation an den Schulen der Banlieues zu liefern. Der 1971 in Luçon (Vendée) geborene Schriftsteller weiß, wovon er schreibt: In seinem Roman verarbeitet er Erfahrungen, die er als Lehrer für Französisch und Literatur in Dreux und in Paris gesammelt hat.

Bégaudeau zeigt, wie der Unterricht abläuft - nämlich so gut wie gar nicht. Den Aufforderungen des Lehrers setzen seine noch pubertierenden Schüler pure Verweigerung entgegen. Seine Fragen beantworten sie mit Gegenfragen. Sie lassen sich mehrmals bitten, bis sie unlustig einlenken. Letztlich geht es auch und vor allem um einen Machtkampf zwischen beiden Seiten, den der Lehrende fast immer gewinnt. Ist einer zu forsch, so wird er ermahnt. Gehorcht er nicht dem Pädagogen, folgt der Gang zum Schuldirektor, mit dem es zu einem Gespräch unter vier Augen kommt. Einen Tag später findet der Lehrer meistens ein Entschuldigungsschreiben in seinem Fach vor. Und dann geht das Ganze wieder von vorne los. Wiederholt sich der Vorgang bei einem Schüler öfter, kommt es zu einem Disziplinarverfahren, bei dem Ausschluss und Versetzung desselben auf eine der Nachbarschulen beschlossen werden. Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Schüler, seinen Problemen und Hilferufen findet nicht statt.

Nicht jeder kommt mit dieser Situation zurecht. Auch unter den Lehrern bricht sich der Frust mitunter Bahn: "Ich hab die Schnauze voll von diesem Theater, ich kann die nicht mehr sehn, ich will die nicht mehr sehn. Immer wie aufm Basar, ich kann nicht mehr, ich halt die nicht mehr aus, ich halt die nicht mehr aus, können nix und glotzen dich an wie'n Auto, wenn du ihnen was beibringen willst, dann bleiben sie eben in ihrer Scheiße, solln sie doch da bleiben, ich hol sie bestimmt nicht da raus, ich hab getan, was ich konnte, hab versucht, die da rauszuholen, aber sie wolln ja nicht, das isses, da kann man nix machen, verdammt, ich kann die nicht mehr sehn, ich bring noch mal einen um, die sind ja sowas von falsch und gemein und immer auf Stress aus, na los, macht weiter so und bleibt in eurem Scheißviertel, bleibt euer ganzes Leben lang dort, ist doch okay, und die Idioten sind auch noch ganz zufrieden damit, glücklich sind die, die Deppen, dass sie da niemals rauskommen werden, [...]".

Der Roman ergreift für keine der Seiten Partei. Bégaudeau stellt Lehrende und Lernende ähnlich dar. So tragen auch die Lehrer bevorzugt legere Kleidung, T-Shirts statt beispielsweise Anzüge, verfallen, wenn sie untereinander sind, leicht in die Umgangssprache, sind trotzig, lustlos und leisten dem Direktor auf Konferenzen nicht selten genauso gerne Widerstand wie ihre eigenen Schüler.

Auch was seinen namenlosen Protagonisten angeht, macht der Autor keine Ausnahme. Er stellt den Ich-Erzähler nicht als vorbildlichen und stets ausgeglichenen Pädagogen dar, sondern als einen überforderten und ständig an mangelndem Schlaf leidenden Mittdreißiger. Dieser legt auch nicht selten ein unkonventionelles Verhalten an den Tag, wenn er beispielsweise einige vorlaute Mädchen mit "Schnallen" vergleicht. Stoff für reichlich Aufregung unter den Schülern bietet er zudem, wenn diese das nicht unbegründete Gefühl haben, dass er sie für "dumm" und unwissend hält, weil sie angeblich so gut wie nie ihr "Revier" - sprich das 19. Pariser Arrondissement - verlassen würden: "Warum verarschen Sie uns immer, wie wenn wir überhaupt nichts raffen würden?"

Die Monotonie und Tristesse des Lebens und Lernens in der Vorstadt spiegelt sich auch in der Struktur des Romans wieder. Jedes der fünf Kapitel beginnt mit dem Eintreffen des Ich-Erzählers in der Schule. Dann wiederholt sich der Kreislauf von Unterrichtsstunden, Konferenzen und Disziplinarverfahren. Es läuft derart fließend, dass der Leser noch die Schüler zu hören glaubt, wenn die Lehrer schon beisammen sitzen und sich unterhalten. Dabei erörtern letztere Fragen, wie künftig mit Verweigerung und Störung vonseiten der Jugendlichen umgegangen werden sollte. Wäre es sinnvoll, härtere Strafen und damit eine autoritäre Erziehung (wieder-)einzuführen? Wenn ja, wie sollte diese in der Praxis realisiert werden?

Darüber erfolgen Fragen ganz grundsätzlicher Art, die über die Grenzen der Banlieues hinaus Bedeutung haben: "1. Welche Werte vertritt die französische Schule, und wie kann man deren Anerkennung durch die Gesellschaft erreichen? [...] 3. Wie kann das Prinzip der Chancengleichheit in der Schule umgesetzt werden? 4. Sollte man die Schulbildung anders auf Jugend- und Erwachsenenalter verteilen und die Arbeitswelt stärker mit einbeziehen? 5. Welche grundlegenden Kenntnisse, Kompetenzen und Verhaltensregeln sollten alle Schüler am Ende jedes Abschnitts der Pflichtschulzeit vorrangig beherrschen? [...] 8. Wie kann man Schüler motivieren und zu effizientem Arbeiten anregen? [...] 12. Wie können Eltern und externe Mitarbeiter der Schule zum Schulerfolg beitragen? [...] 15. Wie geht man wirksam gegen Gewalt und unsoziales Verhalten vor? [...] 18. Wie sind die Rollen und Zuständigkeiten von Staat und Kommunen im schulischen Bereich zu definieren und zu verteilen? [...] 21. Muss man den Beruf des Lehrers neu definieren?"

Die aufgelisteten Fragen erwachsen aus den Verhältnissen, wie sie gegenwärtig nicht nur an den französischen Vorstadtschulen, die Bégaudeaus Roman auf sehr realistische Weise beschreibt, vorherrschen. Die meisten Schüler der "Klasse" werden nach dem neunten Jahr eine Ausbildung beginnen - sofern sie denn mit ihren Abschlussnoten eine Stelle angeboten bekommen. Die Mehrheit der ursprünglich aus Schwarzafrika und dem Maghreb, aber auch aus Ostasien stammenden Jugendlichen würde, so gewinnt man den Eindruck, gern auf eine weiterführende Schule gehen. Trotz der Unlust und Verzweiflung erscheinen die Schüler neu- und begierig, etwas Sinnvolles aus ihrem Leben zu machen. Der Roman indes ist realistisch: Er macht deutlich, dass es nur in einigen wenigen Ausnahmefällen gelingen werde, den Absprung zu schaffen.

Es sind die starren Verhältnisse, die eingefahrenen Denk- und Verhaltensmuster, die Vorurteile, schließlich die Fremd- und Selbstbilder auf Lehrer-, aber auch auf Eltern- und Schülerseite, die eine "Verflüssigung" und also Belebung zwischen den Mauern des 19. Arrondissements verhindern. Als eine Folgerung aus der Romanlektüre ist festzuhalten: Der schulische Umgang miteinander - insbesondere in sogenannten Problembezirken mit einem hohen Anteil an Migranten und Personen aus bildungsfernen Schichten - kann auch als ein Indikator für die Atmosphäre, wie sie in der Gesellschaft gerade herrscht, gesehen werden. Anders ausgedrückt: In der schulischen Interaktion wird sowohl die Bereitschaft einer sozialen Gemeinschaft erkennbar, sich mit Fremden auseinanderzusetzen, als auch ihre Fähigkeit, Mechanismen zu entwickeln, mit denen die Anderen in die Gesamtgesellschaft integriert werden können.

"Die Klasse" macht allerdings darauf aufmerksam, dass dieser Prozess von beiden Seiten gewollt sein muss. In dem Brief einer Schülerin an den namenlosen Lehrer steht, was dies für die Arbeit in der Schule bedeutet: "Ein Jugendlicher lernt nach und nach, seine Lehrer zu respektieren, wenn die ihm drohen oder wenn er davor Angst hat, dass es sonst Ärger gibt. Nur so zum Beispiel. Ich respektiere Sie schon, aber der Respekt muss gegenseitig sein. Ich sage auch nicht zu Ihnen, dass Sie hysterisch sind zum Beispiel, also warum sagen Sie es dann zu mir? Ich habe Sie immer respektiert, deswegen verstehe ich auch nicht, warum ich das alles schreiben muss!! Auf jeden Fall weiß ich, dass Sie was gegen mich haben, ich weiß aber nicht, was ich gemacht habe. Ich komme doch nicht in die Schule, dass mich der Lehrer anmacht und ich weiß nicht einmal warum. Nehme ich Ihren Kalender? NEIN! Ich bin Ihre Schülerin und Sie sind mein Lehrer. Deswegen verstehe ich auch nicht, warum Sie mich anmachen. [...] Mit ,wenn die ihm drohen' meine ich zum Beispiel, dass Sie in mein Heft geschrieben haben ,sehe ich mich zu strengeren Maßnahmen gezwungen', also das ist eine Drohung (meiner Meinung nach!). Und mit ,wenn er davor Angst hat, dass es sonst Ärger gibt' meine ich, dass die Person Angst hat, dass sie zum Beispiel zum Direktor muss oder ,rausfliegt'. Ich auf jeden Fall verspreche Sie zu respektieren, wenn es GEGENSEITIG ist."


Titelbild

Francois Begaudeau: Die Klasse. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Katja Buchholz und Brigitte Grosse.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
232 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783518460313

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