Aus dem Vergessen lockst Du
Patrick Modianos Roman "Aus tiefstem Vergessen"
Von Julia Schöll
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Grunde, so Patrick Modiano, schreibe er immer am gleichen Roman. Das erste Kapitel dieses Lebensprojekts hieß "La Place de l'Etoile" und war sein Debüt, mit achtzehn Jahren geschrieben. Mittlerweile, Mitte fünfzig, hat der Prix-Goncourt-Träger über zwanzig Romane veröffentlicht und ist seinem Thema immer noch treu: dem Erinnern, dem Vergessen und der Suche nach der verlorenen Unschuld. Statt sich ob dieser Monotonie zu langweilen, wartet Modianos französische Fangemeinde auf jedes seiner Bücher mit jener Mischung aus Ungeduld und Erwartung, mit der man in Frankreich etwa auf ein ausgesuchtes Menü wartet - im Wissen, dass dessen sorgfältige Herstellung seine Zeit braucht und dass es am Ende mehr sein wird als bloße Nahrung.
In Deutschland sind die Modiano-Leser spärlicher gesät, vielleicht, weil das Lesen seiner Bücher diesen speziellen Umgang mit der Zeit erfordert, der hierzulande wenig kultiviert wird. Peter Handke - auch einer, der Zeit hat - gilt als Modianos Entdecker für das deutsche Publikum. Ihm hat Modiano seinen aktuellen Roman gewidmet - wenn auch eher eine Widmung unter schreibverwandten Kollegen als unter persönlichen Freunden. "Aus tiefstem Vergessen", das im Original schon 1996 bei Gallimard herauskam, ist jetzt sorgfältig und zurückhaltend von Elisabeth Edl ins Deutsche übersetzt worden.
Wieder begibt sich Modiano auf eine Reise in die Vergangenheit. Der Ich-Erzähler erinnert sich im Jahr 1994 an seine Jugend im Paris der 60er Jahre. Gerade dem Elternhaus entwachsen wohnt er in einem billigen Hotel des Quartier Latin, gibt sich den Anstrich eines Studenten, doch die Universität interessiert ihn nicht. Um seine Hotelrechnungen bezahlen zu können, verkauft er Bücher an die Händler um Saint Michel. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt begegnet er eines Nachmittags einem merkwürdigen Paar: ihm, Gérard Van Bever, doch nur beim Nachnamen genannt; und ihr, Jacqueline, die Schöne, von der man nur den Vornamen kennt. Auch sie leben in Hotelzimmern, wo Jacqueline Äther schnüffelt, die träumerische Droge des Vergessens. Die beiden bestreiten ihren Lebensunterhalt auf die wenig orthodoxe Weise, an den Wochenenden nach einem von Van Bever ausgeklügelten System in den Casinos der nördlichen Provinz zu spielen. Von dem bescheidenen Gewinn sitzen sie mit dem Erzähler in den Cafés des Quartier und träumen im winterlichen Paris von Mallorca. "Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich damals an die Zukunft dachte. Ich glaube eher, daß ich in der Gegenwart lebte, mit diffusen Fluchtplänen, so wie heute, und mit der Hoffnung, sie, Jacqueline und ihn, nachher im Café Dante zu treffen."
Modianos Helden sind immer auf der Flucht - vor der Vergangenheit, vor sich selbst, vor der Vergänglichkeit des Alltags. Auch im aktuellen Roman flieht der Ich-Erzähler schließlich mit Jacqueline, mit der er inzwischen ein Verhältnis hat, und einem gestohlenen Koffer voll Geld nach London. Doch wie alles in Modianos Romanen geschieht auch diese Flucht in träger Ruhe. In London nehmen die beiden ihre endlosen Wanderungen durch die Großstadt wieder auf, die Kulisse hat sich verändert, das Lebensgefühl aber bleibt das gleiche. Modiano beschreibt die Szenerie so präzise, dass man einen Stadtplan danach zeichnen könnte. Selbst das altbekannte Paris betrachtet er, als sähe er es zum ersten Mal, als gäbe es keine Vergangenheit, aus der er diese Stadt wie seine Westentasche kennt. Seine Figuren haben keine Geschichte, irgendwann verschwinden sie ins Irgendwohin und niemand läuft ihnen nach.
So verschwindet auch Jacqueline eines Tages in London, auf unspektakuläre Weise, als wäre sie nie dagewesen. Sie ist die ewig begehrte und niemals erreichbare Frau, hinter deren Fassade niemand blicken kann. Erst fünfzehn Jahre später sieht der Ich-Erzähler sie zufällig wieder, folgt ihr leise, wie im Traum - nur um sie genauso geräuschlos an das Nichts zu verlieren wie beim ersten Mal. "In den großen Städten treffen sich im Sommer Leute, die sich seit langem aus den Augen verloren haben oder sich überhaupt nicht kennen, für einen Abend auf einer Terasse, dann verlieren sie einander wieder. Und nichts ist wirklich von Bedeutung."
Mit den immer gleichen Utensilien ausgestattet - Stadtplänen, Telefonbüchern, Auszügen aus dem Geburtsregister - begeben sich die Menschen auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Modiano begleitet sie mit scheinbar einfachen Worten, die man in Frankreich "sa petite musique" nennt. Ihm gelingt es, so ein französischer Kritiker, mit Worten Stille zu schaffen. Was sich hinter dieser Leichtigkeit auftut, kann man nur ahnen. Aus dem vergessen lockst du..." - diese Zeile von Stefan George stellt Modiano als Motto seinem Roman voran. "Aus dem vergessen lockst du träume", heißt es bei George. "Nichts was mir je war raubt die vergänglichkeit./ Schmachtend wie damals lieg ich in schmachtender flur/ Aus mattem munde murmelt es: wie bin ich/ Der blumen müd o der schönen blumen müd!"
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