Von der Einsamkeit in der Menge

Emmanuel Boves bedrückender Roman "Ein Mann, der wußte"

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Maurice Lesca war in seiner Jugend ein hoffnungsvoller Student der Medizin mit hohen Ambitionen, mit 33 Jahren musste er jedoch erkennen, dass er weder seine gesellschaftlichen noch seine beruflichen Ansprüche erfüllen würde. Der "Arzt ohne Berufung" resignierte nach häufigen Fehlschlägen im Berufs- und Privatleben, zog sich nach einer gescheiterten Ehe und einer schweren Krankheit in den Ruhestand zurück.

Heute lebt Lesca - vielmehr: er existiert - in einer kleinen Wohnung, die er sich mit seiner verwitweten Schwester teilt. Seine Rechnungen und die Miete kann er nur durch die Großzügigkeit früherer Bekannter bezahlen, darunter der zweite Ehemann seiner früheren Frau.

Mit 57 Jahren ist Lescas Leben bereits vorüber. Seine Welt dreht sich nur noch um das Geld, das er nicht hat. Lescas Welt, das sind die Straßen von Paris, über die er täglich in alten, schmutzigen Kleidern spaziert, meist ungewaschen und ohne Ziel. Zu dieser Welt gehört auch der Buchladen von Madame Maze, den sie nach der Trennung von ihrem Mann eröffnet hat. Lesca versucht die Dame zu überreden, das Geld, das "ihr zusteht", von ihrem Ehemann zu fordern. Er bietet sich als Verbindungsmann an, erhält Madame Mazes Geld auch von einem Notar ausgehändigt, entschließt sich dann jedoch, seiner Schwester Emily aus den ärmlichen Verhältnissen herauszuhelfen. Doch deutet er seinen Wunsch nur an - Emily versteht ihn falsch und verlässt die gemeinsame Wohnung, Lesca bleibt allein zurück.

"Ein Mann, der wußte" ist ein Roman über die Kommunikationslosigkeit, über die Einsamkeit und Bindungslosigkeit der Menschen in unserer modernen, egoistischen Welt. Obwohl schon im April 1942 abgeschlossen, schildert er durchaus zeitgemäß oder zeitlos, wie ein Mann vor sich selbst wegläuft, ohne sich jedoch entkommen zu können. Der Roman zeigt, wie dieser Mann versucht, andere zu durchschauen, sie zu manipulieren, sich dabei aber selbst am wenigsten erkennt. "Ich bin nicht imstande, und ich werde auch nie imstande sein zu zeigen, was ich wirklich bin", sagt Lesca, und damit hat er recht. Zumeist ist er noch nicht einmal sich selbst gegenüber ehrlich.

Durch das Buch ziehen sich denn auch Fragen: Wer ist Maurice Lesca? Was will er? Intrigiert er? Oder ist die letztendliche Zerstörung der einzigen Beziehungen, die Lesca sich noch erlaubt, die er bis jetzt bewahren konnte, lediglich das ungewollte Ergebnis gut gemeinter Absichten?

Lesca bemüht sich, seiner Schwester zu helfen, aber er kann seine Gedanken nicht aussprechen, sich nicht mitteilen. Dass sein ursprünglicher Wunsch schließlich falsch interpretiert wird, dass seine Bemühungen darin resultieren, dass seine Schwester ihn verlässt, ist das eigentlich tragische der Geschichte. Lescas Anstrengungen laufen in die falsche Richtung: In seinem verzweifelten Versuch, die Schwester durch Geld an sich zu fesseln und sich dadurch selbst Beachtung und Liebe zu verschaffen, bevor er stirbt, zerstört er die letzte Bindung, zu der er noch fähig ist. Anstatt Ungesagtes und Ungetanes aufzuarbeiten, bleibt er stumm. Lesca ist unfähig, von anderen nicht nur in Kriterien der Nützlichkeit und des Fortkommens zu denken; so glaubt er selbst nun auch, nur materiell wertvoll zu sein.

Der Roman ist auch eine Geschichte über die Unmöglichkeit, menschliche Beziehungen durch Bestechung - und mag es sich dabei um zwar gutgemeinte, jedoch ungebetene Hilfe handeln - aufrechtzuerhalten. Wer Freundschaften und Gefühle zu kalkulieren versucht, läuft Gefahr, dass seine Rechnung nicht aufgeht und er allein zurückbleibt.

Emmanuel Bove beobachtet seine Hauptfigur dabei - und das ist das Schöne an diesem Roman - sehr genau. Der Leser folgt Lesca auf seinem Weg durch Paris, teilt, zwar nicht immer, aber doch häufig, die Gedanken des Protagonisten, erfährt dabei viel Verstörendes über dessen einsames, perspektivloses und gleichförmiges Leben. Die Dialoge, die Lesca mit anderen führt, sind in dieser Hinsicht - obwohl auf den ersten Blick karg und lückenhaft - ungewöhnlich aussagekräftig. Man kann die emotionale Spannung, das Ungesagte, in den Pausen zwischen den Zeilen mitlesen. Dadurch wirken die Gespräche gelegentlich zwar unnatürlich inhaltslos, zumeist aber erscheinen sie einfach der Wirklichkeit nachempfunden.

Der Roman zieht dabei ein trauriges Fazit. Jeder lebt offenbar nur für sich. So über-leben auch die Nebenfiguren, gehen zwar ihrer Arbeit nach, heiraten, lassen sich scheiden, sterben, doch Beziehungen zu anderen und das wahre Glück scheinen in dieser Welt immer nur die anderen zu besitzen.

"Ein Mann, der wußte" ist ein leiser, unspektakulärer Roman, zu dem man erst einen Zugang finden muss. Doch die Suche lohnt sich: Wer sich auf die langsame Erzählweise, die sich teilweise nur zögerlich entfaltenden Dialoge, die langen auktorialen Erzählpassagen, die sich oft erst auf den zweiten Blick erklären, einlässt, entdeckt ein außerordentlich einfühlsames, gleichzeitig aber auch bedrückend hoffnungsloses Buch.

Titelbild

Emmanuel Bove: Ein Mann, der wußte.
Edition Epoca, Zürich 2000.
191 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3905513161

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