Man darf nichts vergessen!

Das herzzerreißende und ermutigende Tagebuch der Pariser Jüdin Hélène Berr aus den Jahren 1942-1944

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der wunderbar sanften und dabei jugendfrischen Stimme eines Mädchens, das offen für die Freuden des Lebens und die Schönheiten der Welt ist, beschreibt die Pariser Jüdin Hélène Berr im April des Jahres 1942 "das Wunder", das "Tautropfen in den Gräsern" herbeizaubern. "Wenn ich ein wenig den Kopf neigte", notiert sie in ihr erst eine Woche altes Tagebuch, "konnte ich sehen, wie ihre Farbe von Diamant zu Smaragd und schließlich zu Rotgold wechselte. Einer wurde sogar rubinrot, man hätte meinen können lauter kleine Leuchtfeuer."

Auch für die Schönheit der Poesie und vor allem der Musik, der klassischen, hat die junge Frau eine empfindsame Ader. Wie oft lauscht sie Konzerten - und sei es mangels besserer Gelegenheit auf einer Grammophonplatte -, oder sie musiziert selbst mit einigen anderen zuhause oder bei Freunden. Dann greift sie zur Geige. Doch ist die junge Frau, die wenige Wochen zuvor ihren einundzwanzigsten Geburtstag feierte, nicht nur für flüchtige Schönheiten kleiner Naturwunder und der Musik empfänglich, sondern zudem bereits voller kluger Gedanken und Einsichten, die auf die Möglichkeit späterer Weisheit vorausdeuten. So reflektiert sie schon wenige Wochen später darüber, dass man nicht das Recht habe, "nur an die Poesie auf Erden zu denken; es ist eine Magie, aber sie ist unendlich egoistisch". Und weil sie nicht nur empfindsam und klug, sondern auch mutig ist, widerspricht sie bald darauf auch einem Bekannten, dem der mögliche Sieg der Nazis gleichgültig ist. Sie "wollte nicht feige sein."

Ästhetisches Empfinden, Klugheit und Mut, es sind dies die drei Eigenschaften, die Berrs kurzes Leben kennzeichnen und auszeichnen. Die Freude an der Ästhetik, des Gartens etwa tritt angesichts des zunehmenden Naziterrors jedoch schon bald zurück. Ende Juni notiert sie, dass sie es nicht mehr schafft, wie früher mit dem einst geliebten Garten "eins zu sein, zu spüren, dass er mich liebt und mich aufnimmt. Er ist fast gleich gültig geworden". Hinzu tritt hingegen eine ausgeprägte Neigung zur kritischen Selbstbefragung, die - und das ist kein Widerspruch - von einer bewundernswerten inneren Stärke zeugt, zu der auch ihre Zartheiten gehören.

Das Tagebuch, das Hélène Berr von Frühjahr 1942 bis zum Februar 1944, wenige Tage vor ihrer Verhaftung und Deportation durch die Nationalsozialisten, führte, wurde erst im vergangenen Jahr in Frankreich veröffentlicht, fand dann aber sogleich große Beachtung. Sehr zu recht, wovon sich nun auch das deutsche Lesepublikum versichern kann.

Schon wenige Wochen nach Beginn der Tagebuchaufzeichnungen werden die jüdischen BürgerInnen im besetzten Frankreich gezwungen, den gelben Stern zu tragen. Berr ringt sehr mit sich, ob sie die "Schande" auf sich nehmen und sich den "Beweis der Unterwerfung unter die deutschen Gesetze" anheften soll. Ausschlaggebend ist einmal mehr, dass sie nicht feige sein will. "Feigheit" wäre es, "es nicht zu tun". Und zwar "gegenüber jenen, die es tun werden". Sie werde "das tun, was am mutigsten ist". Es ist dies zugleich das Motto ihres Lebens. Eines aber nimmt sie sich vor, sie wolle "immer sehr elegant sein", wenn sie ihn trägt, "und sehr würdevoll, damit die Leute sehen, was es bedeutet". Schon früh erkennt sie die Absicht der deutschen Nazis, zu verhindern, dass ihre Opfer bewundert werden. Vielmehr sollen sie verachtenswert erscheinen. "Aber wenn das so ist, dann gelobe ich, ihnen weiterhin mit all meinen Kräften im Wege zu stehen." Nicht zuletzt darum wird sie es später ablehnen, in den nichtbesetzten Teil Frankreichs zu fliehen. Berrs Würde und ihr Mut, die ihr weder der aufgezwungene Stern noch alle anderen Untaten der Nationalsozialisten nehmen können, sprechen aus jeder Zeile ihrer Aufzeichnungen.

Am Morgen des 8. Juni 1942, "de[m] erste[n] Tag, an dem ich den gelben Stern tragen werde", reflektiert sie über "die beiden Seiten" ihres "gegenwärtigen Lebens: die Frische, die Schönheit, die Anfänge des Lebens, verkörpert in diesem klaren Morgen; die Barbarei und das Böse, dargestellt durch diesen gelben Stern". Am Abend, nach den Erfahrungen des Tages, notiert sie mit einem Seufzer: "Mein Gott, ich habe nicht geglaubt, dass es so hart sein würde. Den ganzen Tag über hatte ich großen Mut. Ich ging mit hocherhobenem Kopf und habe den Leuten so fest ins Gesicht geblickt, dass sie die Augen abwandten. Aber es ist hart."

Am nächsten Tag ist es "noch schlimmer als gestern". Ihr Gesicht ist "angespannt, weil ich mich ständig zusammennehmen musste, um die Tränen zurückzuhalten, die mir, ich weiß nicht warum, in die Augen stiegen. [...] Mir schien plötzlich, dass ich nicht mehr ich selbst war, dass sich alles verändert hatte, dass ich eine Fremde war, als befände ich mich mitten in einem Alptraum. Ich sah bekannte Gesichter um mich herum, doch ich spürte ihren Kummer und ihre Betroffenheit. Es war, als hätte ich ein rotes Brandmal auf der Stirn".

Keine drei Wochen später, am 23. Juni, wird ihr Vater verhaftet, weil sein Stern mit Druckknöpfen befestigt und nicht wie vorgeschrieben angenäht ist. Spätestens jetzt schwingt das Bewusstsein um und der Widerstand gegen die Nazityrannei in jeder Zeile mit, worüber auch immer Hélène Berr gerade schreibt. Bis der Vater nach einem Vierteljahr wieder entlassen wird, versucht sie im familiären Alltag "Papas Platz einzunehmen". Bei der Nachricht über seine Freilassung kann sie "keinen Funken Freude verspür[en]. Ich habe nur an die anderen gedacht. Ich hatte das Gefühl, dass eine Ungerechtigkeit geschieht. Und ich werde das niemals Freude nennen können."

Anfang Juli 1942 "hieß es", alle jüdische "arbeitslose junge Menschen sollten unterschiedslos kassiert werden". Obwohl sie darüber räsoniert, dass sie "nicht das Recht [habe], nicht fliehen zu wollen", kommt eine Flucht in die nicht besetzte Zone Frankreichs nicht wirklich für Berr in Betracht. Denn dies hieße, "den Kampf, den Heldenmut aufgeben für Stumpfheit, Erlahmung. Nein, ich werde etwas tun." Auch später legt sie sich immer wieder Rechenschaft darüber ab, warum sie bleibt. So etwa im Dezember 1943: "Warum diese Entscheidung? Nicht, weil sie das Mutigste ist, weil sie die Pflicht ist; diese Haltung wäre erstens dem Hochmut zu nahe, und zweiten spüre ich in Wirklichkeit keine solche Pflicht", räsoniert sie nun, "[u]nd doch, wenn ich plötzlich mein 'offizielles' Leben aufgeben würde, hätte ich das Gefühl, abtrünnig zu werden. Nicht gegenüber den anderen, mir selbst gegenüber." Obgleich sie "in manchen Augenblicken beinahe am absoluten Wert moralischer Grundsätze" zweifelt, denn "alle verbiegen sie oder bezahlen dafür mit dem Tod". Aber noch ein Zweites spielt für ihren Entschluss zu bleiben, eine große Rolle: ihre Liebe zu Jean Morawiecki.

Um Verhaftung und Deportation zu entgehen, meldet Hélène Berr sich am 5. Juli 1942 bei der Union générale des israélites de France als ehrenamtliche Sozialhelferin. Dabei hegt sie wenig Sympathien für zionistische Organisationen und Ideologien. "Ich betrachte das als den Preis, den ich zahlen muss, um hierzubleiben" notiert sie. "Es ist ein Opfer, denn ich verabscheue alle diese mehr oder weniger zionistischen Bewegungen, die, ohne es zu ahnen, das Spiel der Deutschen mitspielen".

Während Hélène Berr mit ihrer Entscheidung, im besetzten Teil Frankreichs zu bleiben, ringt, wird der jüdische Teil der Bevölkerung von Woche zu Woche immer unerträglicher schikaniert und drangsaliert. So müssen JüdInnen in die hinteren Wagen der Straßenbahn einsteigen, dürfen die Champs-Élysées nicht mehr überqueren, der Besuch von Theater und Restaurants wird ihnen verboten und sie dürfen Geschäfte nur noch zwischen 15 und 16 Uhr betreten. Es ist dies die Zeit, in der die Läden geschlossen sind. Berr notiert dies ebenso wie verschiedene konkrete Vorfälle, die so oder so ähnlich durchaus nicht nur vereinzelt, sondern vielmehr massenhaft vorkamen. Etwa, dass sich die Familie von Mlle. Monsaingeon, "Vater, Mutter und fünf Kinder", mit Gas töteten, um nicht bei einer Razzia aufgespürt und deportiert zu werden. Eine andere Frau sprang aus dem Fenster. "Mehrere Polizisten sind angeblich erschossen worden, weil sie die Leute gewarnt hatten, sie sollten fliehen."

Doch Berr hält nicht nur den Naziterror fest, sondern auch kleine Heldentaten des "bewundernswert[en]" Volkes. Etwa, dass "viele kleine Arbeiterinnen", die vor der Besetzung mit Juden zusammenlebten, nun ihre Geliebten heiraten, um sie vor der Deportation zu schützen. Auch stumme Aufmunterungen sind wichtig, wie die "gütigen Blick[e] von Männern und Frauen, d[ie] einem das Herz mit einem unbeschreiblichen Gefühl erfüll[en]", und überhaupt "die Sympathie der Leute auf der Straße, in der Metro".

Ende November 1942 verstummt Berr vorläufig. Erst im August des folgenden Jahres greift sie wieder zum Tagebuch: "Vor zehn Monaten habe ich dieses Tagebuch abgebrochen, heute Abend hole ich es aus meiner Schublade, damit Mama es an einen sicheren Ort bringt. [...] Es gibt unendlich viel Gründe zu hoffen, aber ich bin sehr ernst geworden, ich kann das Leid nicht vergessen." Erst Mitte Oktober nimmt sie ihre Eintragungen endgültig wieder auf, "von einem Gefühl überwältigt: dass ich die Wirklichkeit aufschreiben muss". Düsterer, aber auch noch reflektierter als zuvor schon sind ihre Tagebuchaufzeichnungen nun. So legt sie sich zunächst einmal Rechenschaft darüber ab, warum sie wieder zu schreiben beginnt.

Eine möglichst große Authentizität ihrer Berichte verspricht sie sich durch "vollkommene Aufrichtigkeit", indem sie "nie daran denkt, dass andere es lesen werden, um die eigene Haltung nicht zu verfälschen". Sie gelobt sich, "die ganze Wirklichkeit" aufzuschreiben "und die tragischen Dinge, die wir erleben, indem man ihnen ihren ganzen nackten Ernst gibt, ohne etwas durch Worte zu verzerren". Dabei ist sie sich sehr wohl bewusst, eine "schwierige Aufgabe" auf sich zu nehmen, "die eine beharrliche Anstrengung erfordert".

Nun ist sie doch davon überzeugt, eine "Pflicht zu erfüllen" zu haben. "[D]enn die anderen müssen Bescheid wissen. In jeder Stunde des Tages wiederholt sich die schmerzliche Erfahrung zu merken, dass die anderen nichts wissen, dass sie nicht einmal etwas ahnen von dem Leiden anderer Menschen und dem Bösen, das manche Menschen anderen zufügen."

Sie will nicht nur zu ihren ZeitgenossInnen sprechen, sondern auch zu künftigen Generationen, denen sie zeigen möchte, "was diese Zeit gewesen ist". Dabei geht sie davon aus, "dass manch einer gewichtigere Lehren zu erteilen und schrecklichere Dinge zu enthüllen haben wird", und denkt dabei "an all die Deportierten, an alle, die den großen Versuch des Fortgehens gewagt haben". Aber das dürfe sie selbst nicht die "Feigheit" des Schweigens begehen lassen, denn "jeder kann in seinem kleinen Bereich etwas tun". "Und wenn er es kann", lautet ihre von Ferne an Immanuel Kants Pflichtethik gemahnende Maxime, "dann muss er es auch". Zudem - und auch dies zu notieren gehört wohl zu der selbstverordneten "vollkommene Aufrichtigkeit" - sei das Schreiben "eine Erleichterung". Von dieser angestrebten Aufrichtigkeit verspricht sie sich eine möglichst große Authentizität ihrer Berichte. Dabei gesteht sie sich ein, dass ihr Tagebuch in zwei Teile zerfällt. "[D]as merke ich, wenn ich den Anfang wiederlese: es gibt den Teil den ich aus Pflichtgefühl schreibe, um das in Erinnerung zu behalten, was später erzählt werden muss, und es gibt den Teil der für Jean geschrieben ist, für mich und für ihn." Jean Morawiecki ist es auch, dem sie das Tagebuch zugedacht hat. Über Andrée Bardiau, einer treuen Haushälterin der Familie Berr, gelangte es nach Kriegsende tatsächlich in seine Hände. Ihm ist die Veröffentlichung 2008, seinem Todesjahr, zu verdanken.

Am Morgen des 15. Februar 1944 kann Hélène Berr zum letzten Mal in ihr Tagebuch schreiben. Mit den Worten "Horror! Horror! Horror!" bricht es ab. Drei Wochen später, am 8. März 1944 wird sie verhaftet und am 23. des Monats, der zugleich ihr 23. Geburtstag ist, deportiert. Fünf Tage vor der Befreiung im April 1945 wird sie im KZ Bergen-Belsen erschlagen, weil die inzwischen an Typhus Erkrankte es nicht mehr schafft aufzustehen.

Die Ahnung der grauenhaften Verbrechen und des Leidens, die uns Hélène Berrs Tagebuch vermittelt - mehr als eine Ahnung kann es nicht sein - macht seine Lektüre immer wieder unerträglich. Die Verbrechen der Nazis aber dürfen nicht vergessen werden. Ebenso wenig, dass es Menschen gab wie Hélène Berr. Es gebe "nichts zu erhoffen", schreibt sie einmal voller Verzweiflung, "und alles zu befürchten von der Zukunft, vom nächsten Tag". Uns Nachgeborenen aber sind Menschen wie sie ein aus finsterster Barbarei und Unmenschlichkeit über die Zeit hinweg leuchtendes Zeichen der Humanität. Menschen wie Hélène Berr sind es, die uns hoffen lassen und uns ermutigen.


Titelbild

Helene Berr: Pariser Tagebuch 1942-1944.
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edel.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
320 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783446232686

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