Gestrandet im Dazwischen

Jan Christophersens Debütroman "Schneetage" erzählt von einer archäologischen Identitätssuche im hohen Norden

Von Karen RauhRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karen Rauh

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Nordseeküste ist eine Landschaft, deren Boden alles andere als fest ist. Das Meer spült Land an und zerstört es in der nächsten Sturmflut wieder. Alles Leben auf diesem trügerischen Grund verläuft im Dazwischen der Katastrophen. Der französische Ethnologe Arnold van Gennep schrieb am Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Buch "Les rites de passage" ('Übergangsriten'): "Bei uns berührt ein Land das andere; aber früher, als noch der christliche Boden nur einen Teil Europas ausmachte, war das keineswegs so. Jedes Land war von einem neutralen Streifen umgeben."

Solche Zonen waren meist Wüstengebiete, Sümpfe, häufig unberührte Wälder, in denen jedermann sich gleichermaßen aufhalten und jagen konnte. "Jeder, der sich von der einen in die andere Sphäre begab, befand sich eine Zeit lang, sowohl räumlich, als auch magisch-religiös in einer besonderen Situation, er schwebte zwischen zwei Welten", stellte Gennep fest. Ein neues, eindeutig begrenztes und benanntes Gebiet durfte man erst betreten, wenn man seinen früheren Status abgelegt hatte. Dem rituellen Tod folgte die rituelle Wiedergeburt. War das aus irgendeinem Grund nicht möglich, verblieb der Initiant in der Schwellenphase. Dem Dazwischen entkam er nicht.

Vidtoft in Jan Christophersens Erstlingsroman ist ein solches Grenzland, ein kleines Dorf zwischen Meer und Land auf der einen Seite, zwischen Deutschland und Dänemark auf der anderen. Der Fokus allen Lebens ist hier der Gasthof 'Grenzkrug', auch er eine Zwischenwelt, das Wort 'Grenze' im Namen. Der Wirt, Paul Tamm, ist ein Zugezogener, ein Soldat, der während des Zweiten Weltkrieges durch Vidtoft zog und dabei die junge Wirtstochter Kirsten kennen und lieben lernte. Nach dem Krieg brach er mit seinem ganzen bisherigen Leben, ließ sich hier nieder und gründete mit Kirsten eine Familie, zu der neben dem Sohn Nils und der Tochter Nane auch noch die Kriegswaise Jannis gehört. In der Familie Tamm herrscht eine bedrückende Atmosphäre: Probleme werden nicht diskutiert. Obwohl alle eng miteinander verbunden sind und für einander auch so empfinden, sind sie letztendlich nur Monaden, die umeinander kreisen.

Paul lebt in einer Welt des Dazwischens. Er bemüht sich, in den Streitigkeiten der Dorfbewohner neutral zu bleiben, sich auf keine Seite zu schlagen. Doch genau dadurch macht er sich zum Außenseiter, der letztendlich keiner Seite angehört. Als Flüchtlingsbeauftragter vertritt er die Interessen der Ostflüchtlinge und quartiert sie bei sich im Grenzkrug ein. Für die meisten ist der Aufenthalt in Vidtoft nur vorübergehend, der Gasthof eine Durchgangsstation zu einem neuem Leben.

Im Gegensatz zu seinen leiblichen Kindern pflegt Paul zu Jannis eine intensive Beziehung. Sie sind sich ähnlich. In ihrer beider Leben gab es eine Katastrophe, die sie aus ihrem bisherigen Dasein herausriss und zu einem Neuanfang zwang. Christophersen sagte in einem Interview über Paul und Jannis: "Es gibt Momente in ihrem Leben, wo etwas abgebrochen ist." Heute, wo fast jeder sich mit Neuanfängen in immer kürzeren Abständen konfrontiert sieht, weil sich Berufsfelder und Arbeitsplätze topografisch ständig verändern, ist das nichts Besonderes mehr. In der Nachkriegszeit blieben Paul und Jannis durch ihre gebrochenen Biografien in dem kleinen Dorf Vidtoft die Fremden. Das Gefühl fremd zu sein hat Folgen: Der heimatlose Paul gräbt sich beinah wortwörtlich in den Boden - das Watt - seiner neuen Heimat ein. Zusammen mit Jannis sucht er nach Resten der im 14. Jahrhundert bei einer Sturmflut zerstörten Stadt Rungholt. Der untergegangene Ort steht im Roman für das Erinnern. Genauso wie Meer und Watt von Zeit zu Zeit Relikte Rungholts freigeben, setzen sich im Buch nach und nach die Lebensläufe der Figuren zusammen. Lange glaubte man, dass das historische Rungholt nur eine Legende sei, auch damit spielt Christophersen: Die Biografien der Figuren bleiben unvollständig. Ihr gewesenes Leben ist in tausend Scherben zersprungen und tief im Schlick des Wattenmeeres verborgen wie Rungholts Kirchenglocke.

Paul findet zusammen mit Jannis eine dieser Glockenscherben, aber es bleibt offen, ob sie tatsächlich von Rungholts Kirche stammt. Alles ist möglich. Paul sagt im Buch: "Warum finden, wenn man auch suchen kann." Dieser Ansatz macht die Figuren interessant. Ihre Abgründe und Geheimnisse stehen unsichtbar hinter den Zeilen. Das Mögliche wird zum Motor der Geschichte und der Zweifel ist es, der das Leben und Denken vorantreibt.

Christophersen erzählt die Geschichte von Paul und Jannis in Rückblenden. Die Sturmflut von 1362 findet ihr Äquivalent in der Schneekatastrophe des Jahreswechsels 1978/79, in dem die erzählte Zeit angesiedelt ist. Genau wie im 14. Jahrhundert die Marschlandschaft unter dem Sand verschwand, ist es jetzt der Schnee, der alles bedeckt und jede Bewegung einfriert.

Mit "Schneetage" ist Jan Christophersen im Getöse des Buchmarktes ein wunderbar leiser Roman gelungen - keine Handlung, in der sich die Ereignisse überschlagen oder eine überraschende Wendung die andere jagt. Christophersens Sprache und die Charaktere seiner Figuren sind so unprätentiös, so selbstverständlich wie der ewige Wechsel der Gezeiten im Wattenmeer. Das macht "Schneetage" zu einer wunderbaren Hommage an die Marschlandschaft Nordfrieslands und ihre wortkargen Bewohner.


Titelbild

Jan Christophersen: Schneetage. Roman.
Mare Verlag, Hamburg 2009.
366 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783866481060

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