„Arse=tillery + Säcksuallität“

„Pjj…jj…juu…juuu“ und „Tschuu…uu“: Arno Schmidts fragwürdige Auseinandersetzung mit dem Heimatliteraten Gustav Frenssen ist ein immer noch unerledigter Fall

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Arno Schmidts Wissenschaft der „Meister zweiten Ranges“

„Wir neigen wahrscheinlich in viel zu hohem Maße zur Überschätzung des bewußten Charakters auch der intellektuellen und künstlerischen Produktion“, vermutet Sigmund Freud in der „Traumdeutung“ (1900). Und in seinem Aufsatz über den „Dichter und das Phantasieren“ (1908) fordert der Psychoanalytiker: „Suchen wir uns für unsere Vergleiche nicht gerade jene Dichter aus, die von der Kritik am höchsten geschätzt werden, sondern die anspruchloseren Erzähler von Romanen, Novellen und Geschichten, die dafür die zahlreichsten und eifrigsten Leser und Leserinnen finden.“

Auch für den Freud-Kenner Arno Schmidt sind diese von ihm so genannten „Dichter Priester“ (DPs) – zu denen er jedoch so unterschiedliche und zunächst einmal unvergleichbar erscheinende Autoren wie Adalbert Stifter und Karl May gleichermaßen zählt – nicht nur bloße ‚Deppen‘, sondern ein „sehr ernstes“ Thema. „Deshalb ist es wichtig, für das Schaffen der Guten Meister zweiten Ranges einzutreten, die sonst oft, unbeachtet, durch die Dünung der Jahrzehnte an die Ränder des Literaturmeers gespült werden“, betont Schmidt.

Hinter dem Diktum verbirgt sich eine tatsächlich ziemlich unentschiedene Haltung Schmidts gegenüber seinen literarischen Jugendvorbildern, die er in der Nachkriegszeit einerseits zunehmend kritisch sah und über die er andererseits in der Phase ab Ende der 1950er-Jahre – als er anfing, sich intensiv mit Freud auseinanderzusetzen – geradezu manisch zu schreiben begann. Im Zuge dieser auffälligen Ambivalenz erschien es dem selbsternannten „Klarglas=Witzbold“ zunächst einmal verlockend, immer wieder die Ungebildetheit und Unbelesenheit seiner ‚unbewusst agierenden‘ und deshalb von Schmidt als künstlerisch unterlegen empfundenen ‚Kollegen zweiten Ranges‘ zu betonen. Dieser ‚poetische Vatermord‘, den man vom stilistischen Gestus her schlicht als kleinbürgerliche Besserwisserei empfinden kann, ist wohl als ein klassisches Beispiel für das anführbar, was Harold Bloom als „Einflussangst“ ambitionierter Autoren vor ihren unüberwindbar wirkenden literarischen Ahnen beschrieben hat.

Das „schwappende Niveau des Stehkragenkitsches“

So kanzelt Schmidt den massenwirksamen Autor Karl May mit den Worten ab: „In der Jugend hatte er bedenklich wenig gelernt, (sein immer wieder vorgeführtes ‹Abgangszeugnis› von der Lehrerbildungsanstalt zeigt zur Genüge, daß es sich nicht entfernt um ein Äquivalent auch nur unseres heutigen Abiturs handelte); und auch in späteren Jahren empfand er kaum etwas wie den Lern= & Forschungszwang des geborenen, bedeutenden Autodidakten: zeit seines Lebens hat MAY nichts ernsthaft studiert; nie an einer, meinethalben biografischen Arbeit, im großen Stil die bibliothekarischen Hülfsmittel kennen & brauchen gelernt; nie Urkunden entziffert; nie durch Übersetzungen seinen aktiven und passiven Wortschatz geschmeidig erhalten & erweitert. Ja, man kann fast sagen: nie 1 ernstzunehmendes Buch gelesen; noch seine gehobenste Lektüre lag immer nur im schwappenden Niveau des ‹Stehkragenkitsches›, so FREILIGRATH und ROSEGGER. Was die Wissenschaften angeht, genügte für den kleinen MAY als Kraftquelle der große MEYER (die 5. Auflage nebenbei, 1893–99)“.

Bemerkenswert ist, dass sich solche – immer etwas oberlehrerhaften – Bildungsbeurteilungen Schmidts gegenüber seinen Lieblings-DPs im Vergleich fast wörtlich überschneiden. So heißt es über den seit Beginn des 20. Jahrhunderts über mehrere Jahrzehnte überaus erfolgreichen Bestseller-Produzenten und Beinahe­-Nobelpreisträger Gustav Frenssen, einen literarisch überaus produktiven Pastor a. D., dieser habe „abwechselnd immer nur Zweierlei verfertigt: wenn’s hoch kam Gartenlaubenlesefutter; meist sogar undiskutablen Kitsch!“ Und schon geht es wieder los: Auch Frenssen habe „sich zeitlebens mit einem BROCKHAUS begnügt, mit der 16=bändigen Jubiläumsausgabe von 1901-03“.

Ein kurzer Seitenblick auf Adalbert Stifter eröffnet aber auch noch weitere Konvergenzen zwischen den Schmidt’schen Beurteilungen ganz unterschiedlicher Autoren aus verschiedensten Zeiten: Bei Stifter moniert Schmidt die „habituelle Verschwiegenheit & Unaufrichtigkeit in sexuellen Dingen“, während er im Blick auf Frenssen nahezu gleichlautend „den Eindruck – ja eben nicht nur der faden Prüderie victorianischer Jahrhundertwende“ betont, „sondern den einer ausgesprochen überdurchschnittlichen Unaufrichtigkeit & Verschwiegenheit; und nicht nur in sexuellen Dingen“. Demgegenüber rühmt Schmidt May übrigens als „einen unserer größten Erotiker“ – wenn auch mit einer veritablen „Meisterschaft im Verdrängen“.

Stifter wird in Schmidts großer und besonders unter Karl-May­-Fans überaus umstrittener psychoanalytischer Studie über Mays angebliche Homosexualität, „Sitara und der Weg dorthin“ (1963), immerhin auf mehreren Nachwortseiten als weiterer (heterosexueller) Meister von als Landschaftsbeschreibungen verschlüsselten ,Organabbildungen‘ gewürdigt. Frenssen wird jedoch in der gesamten Studie nur einmal beiläufig und in ganz anderem Zusammenhang erwähnt. Warum eigentlich diese ‚Missachtung‘, wo doch offensichtliche, ja frappante Ähnlichkeiten zwischen May und Frenssen zu bestehen scheinen, wenn man einmal die ähnlichen Formulierungen in Schmidts DP-Charakterisierungen ernst nimmt?

Merkwürdiges Lob für einen – zu Recht? – vergessenen Autor

Immerhin: Frenssen gehört für Schmidt offensichtlich genauso wie May und Stifter zu den „Meistern zweiten Ranges“. Auch diese Bezeichnung findet sich bei Schmidt für alle drei Autoren: May taucht als Verfasser von „Spätwerke[n] zweiten Ranges“ auf, Stifter im betreffenden Funk-Essay als „guter Meister zweiten Ranges“. Frenssen ist wahrscheinlich sogar derjenige, mit dem Schmidt-Leser diese Qualitätsbezeichnung am ehesten verbinden, da Frenssens Roman „Otto Babendiek“ (1926), den Schmidt aus dessen Gesamtwerk als ausnahmsweise gelungenes ,Opus Magnum‘ hervorhob und überaus schätzte, meist in einem Atemzug mit der raunenden Formulierung „gutes Meisterstück zweiten Ranges“ genannt wird.

Nicht zuletzt sei darauf hingewiesen, dass Schmidt sogar sich selbst im Jahr 1961, also auffälligerweise zu Beginn der gleichen Werkphase, aus der „Sitara“ und Schmidts berühmte Funk-Essays über Stifter und Frenssen stammen, als „deutschen Schriftsteller vom zweiten Range“ bezeichnete, mit dem Zusatz: „worin keine übermäßige Bescheidenheit liegen soll: wir haben keinen Mann ersten Ranges zur Zeit!“ Über Frenssen schreibt Schmidt zwei Jahre später: „– da FRENSSEN nun einmal […] ein Geist zweiten Ranges war: aber, cave!, Wer ist das schon?! Selbst ihrer sind Wenige! –“.

Wie aber ist zu erklären, dass Schmidt seinen ‚vergessenen Kollegen‘ Frenssen, der hier als gleichberechtigter Protagonist einer für ihn selbst offenbar enorm wichtigen Autorengruppe geadelt wird, demonstrativ nicht als einen solchen ‚unbewussten‘ Erotiker zu analysieren versuchte, wie Stifter und vor allem auch May? Während Schmidt den ‚Trivialautor‘ May als – nicht von Ungefähr so beliebten – Prototyp eines ‚typisch deutschen‘, genüsslich ausfantasierten literarischen Sadismus entlarvte, verschonte der Erfinder neuer Prosaformen in den 1960er-Jahren ausgerechnet den nach 1933 auch noch offen nationalsozialistisch sich gebenden Volksschriftsteller Frenssen – und versuchte sogar, dessen Werk zumindest partiell zu rehabilitieren. Das, was Schmidt an den DPs immer besonders interessierte – die Fatalität ihrer Massenwirksamkeit, gerade wenn sie beginnen, Gewalt zu verharmlosen oder militärischen Ideologien das Wort zu reden – wird von ihm bei Frenssen unterschlagen. Warum?

Erotisierte Kanonenschlachten

Schmidt las Sigmund Freuds „Traumdeutung“ spätestens ab 1960 geradezu wie eine Bibel, und seine satirisch überhöhten Analysen der Symbolik des Waffenarsenals in Mays Romanen sind auf Basis dieser ‚Exegese‘ ebenso materialreich dokumentiert wie andere doppeldeutige Konnotationen. Mays „Silberbüchsen“ sind dabei aber erst der Anfang einer ganz eigenen, soldatischen Metaphernwelt. Als ehemaliger Artillerist der nationalsozialistischen Wehrmacht interessierte sich Schmidt nämlich verdächtigerweise stets besonders für solche DPs, die ähnliche Militärkarrieren wie er selbst hinter sich hatten – so etwa auch für Edgar Allan Poe, Friedrich Wilhelm Hackländer oder Wilhelm Friedrich von Meyern. Nicht nur im Buch VI. von Schmidts Riesenroman „Zettels Traum“, das bezeichnenderweise den sprechenden Titel „: ‘Rohrfrei!’–“ trägt, sind die merkwürdigen Zusammenhänge von Kanonensymbolik und phallischen Machtfantasien Quell scharfzüngiger Ironien und lautmalerischer „Etym“-Entschlüsselungen, die Schmidt an einer Stelle mit der vieldeutigen ,Verschreibung‘ „Arse=tillery + Säcksuallität“ klassifiziert.

Klaus Theweleit hat bereits Ende der 1970er-Jahre darauf hingewiesen, dass in den Kampf-, Schieß- und Schlachtvisionen faschistischer Lustneurotiker ein Wunschzentrum ihrer ureigenen ‚Todessexualität‘ zu erkennen sei: „Die Geschütze können etwas, was die Soldaten normalerweise nicht können: entladen und trotzdem ganz bleiben.“ An die Stelle des Ichs trete für den Soldaten das phallische „Metall des Geschützrohrs“: „Aus dem Rohr rasen (das heil bleibt) und in andere Körper einzudringen, ist sein einziger Trieb“; das Ziel sei es für solche Männer also, keine Gefühle zu haben „und doch zuckend in die Leiber einzuschlagen“, aus dem Innersten gerichtet „gegen das Universum“ und „seinen ganzen falschen Bau“. Das Ich des Soldaten probe damit die befreiende Sprengung seines eigenen Körperpanzers: „‚Kaltes Metall‘ sein […] – Machtrausch, Grenzüberschreitung und das Ich bleibt stabil dank der Realitätssüchtigkeit des MG-Laufs. […] Mit allen Mitteln suchen die angreifenden soldatischen Männer den Übergang, den Ausbruch aus sich selbst. […] Die Beschwörung der eigenen Geschwindigkeit, die nirgends fehlt, ist notwendig, um Ausbrüche, die Durchbrüche, das Ankommen beim Körper des Feindes, das Einschlagen in diesen plausibel zu machen […].“

‚Negative Orgasmen‘, lange vor Ernst Jünger

Schon Gustav Frenssens früher Erfolgsroman „Jörn Uhl“ (1901) ist jedenfalls ein schlagendes Beispiel dafür, dass diese ‚negativen Orgasmen‘ kein Produkt des Ersten Weltkrieges waren, sondern schon lange vorher ihr Unwesen in der Wunschprojektion der deutschen Männerpsyche trieben, wie auch Theweleit feststellt: „Bei vielen dieser Männer machte der Krieg sie sicherlich irreversibel – aber erzeugt hat er sie nicht.“ Frenssen war selbst niemals beim Militär, er hatte zeitlebens nur als Pfarrer und Schriftsteller gearbeitet – und sein Werk scheint deshalb ein um so schlagenderer Beweis dafür zu sein, wie bestimmend soldatische Lustvisionen bereits für seine Generation gewesen sein müssen, die seine Bücher zeitweise – zumindest den Verkaufszahlen nach zu urteilen – begeisterter las als etwa die Thomas Manns.

In Frenssens Kolonialroman „Peter Moors Fahrt nach Südwest“ (1906) etwa, einem Bestseller, der in Deutschland bald zur Schullektüre avancierte, werden die rassistisch verfolgten und bekriegten Hereros als affenartige Wesen geschildert, die sich um stinkende Wasserlöcher tummeln, an die die deutschen Soldaten mit ihren von verdurstenden, brüllenden Ochsen gezogenen Kanonen und Geschützen heranwollen. Die Deutschen werden von links beschossen, aber das scheint ihnen eine wahre Freude zu sein, der Beschreibung des Erzählers nach zu urteilen: „Das Rohr eines Maschinengewehrs schob sich neben meinem Gesicht vor. Gleich darauf knatterte es los. Die rasende Kugelsaat pfiff in die Büsche, prasselte und pfiff. Wie schön das klang! Wie sicher und ruhig ich schoß! ‚Getroffen habe ich!! Hast gesehen? Mensch, schieß! da…da!‘“

„Da gibt es nichts zu deuten, weil alles überdeutlich ist“, wie es einmal in Theweleits „Männerphantasien“ in einer vergleichbaren Analyse heißt: Hier ist bei Frenssen bereits im Jahr 1906, also acht Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, schon alles versammelt, was Theweleit anhand viel späterer Freikorpsromane der Zwischenkriegszeit herausgearbeitet hat – und was vor allem auch Schmidt bei anderen Autoren wie May nicht hätte durchgehen lassen. Es ist eine geradezu sadistisch sich Bahn brechende Gewaltlust. Das soldatische Ich findet seine Ausdrucksform auch bei Frenssen im ‚knatternden Lauf‘ als einem ‚unzerstörbaren Penis‘, der in die Feinde und die Büsche, in denen sie sich als das „Andere“ verstecken, nur so hineinpfeift – Wälder und Pflanzenbewuchs als Symbole für die menschliche Schambehaarung waren sonst für Schmidt immer ein ‚klarer Fall‘, hier aber interessierten den wilden Analytiker solche ‚Auffälligkeiten‘ nicht weiter. Auch der waffenstarrende Geschwindigkeitsrausch, den Theweleit als typische Fantasie soldatischer Männer ausmacht, wird in Frenssens „Peter Moors Fahrt nach Südwest“ beschrieben, als man auf die namibianischen Wasserlöcher zustürmt: „Da wurde die ganze dünne Front entlang alles daran gesetzt, Gewehr, Geschütz und Maschinengewehr. Ein wildes Schnellfeuer prasselte gegen den müde werdenden Feind. Dann ging es von Mann zu Mann: Wir wollen stürmen. Nun gellte der Ruf. Mit wildem Schreien, mit verzerrten Gesichtern, mit trockenen, brennenden Augen sprangen wir auf und stürmten vorwärts. Die Feinde sprangen, schossen und stoben mit lautem Schreien zurück. Wir liefen ohne Unterbrechung schreiend, fluchend, schießend bis zu der ziemlich großen Lichtung, auf der die heißbegehrten Wasserlöcher lagen, und gleich darüber weg bis an ihren jenseitigen Rand, wo der Busch wieder anfing.“

Hier wird nicht zuletzt ein großer Vereinigungswunsch unter Männern erkennbar, die gemeinsam losstürmen, und ihr im Zitat mehrfach wiederholtes Schreien wirkt geradezu wie eine befreiende Explosion, wie sie Theweleit in anderen Texten dieser Sorte ausgemacht hat: „Sie ‚schrien nach dem Feind‘ – wie die Babies nach Nahrung; […] Entladung, die Ströme beginnen zu fließen auf dem Weg zur gegenseitigen Durchdringung mit dem Feind, dem intimen Vertrauten…“.

Über Seiten wird aber eben auch schon bei Frenssen, der selbst niemals in Afrika war oder sonst an irgendeiner deutschen „Front“, gestürmt und geschossen wie im Rausch, um endlich in die „zehn Meter tiefen Wasserlöcher“ hinabzusteigen: Symbole, die Schmidt so deutlich bei May nicht einmal unbedingt benötigte, um sich zu den abstrusesten „Entschlüsselungen“ sexueller Fantasien in dessen Romane hinreißen zu lassen.

1870/71 – Wenn Geschütze zu stoßen beginnen

Am deutlichsten werden Frenssens soldatisch-anale Fantasmen wohl in der berühmten Kriegsszene in „Jörn Uhl“, die über acht Seiten die Schlacht von Gravelotte im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 unter Mitwirkung eines ‚unverletzlichen‘ Helden, des Kanoniers Jörn, schildert. Jedenfalls fällt dies auf, wenn man die Passage einmal versuchsweise aus Schmidts sonst so unvermeidlicher ‚Entschlüsselungs‘­-Perspektive, die die psychoanalytische Problematik der „Gegenübertragung“ gerne weitgehend außer Acht ließ, neu zu lesen versucht.

Auch Frenssen interessierte sich, wie Schmidt, seinerzeit sehr für Kanonen, wie man in seiner nationalsozialistisch gestimmten Autobiografie „Lebensbericht“ (1940) nachlesen kann: Wissbegierig habe der dithmarscher Volksschriftsteller verschiedene Kriegsveteranen bei seinen Recherchen für seine Romanszene nach den mechanischen Details ausgefragt, berichtet er dort. Doch der Realismus, den Frenssen mit der Beschreibung des Schlachtgetümmels erreicht, sein „Klappern und Stoßen der Geschütze“, erfordert gar keine genaueren ballistischen oder waffentechnischen Kenntnisse – und für heutige Leser vielleicht nicht einmal eine parallele Arno-Schmidt­-Lektüre – um zu erahnen, worum es hier ‚wirklich‘ gehen könnte: „Sie arbeiten am Geschütz: sie arbeiten im Schweiße ihres Angesichts. Immer zu. Immer zu. Sie keuchen und zielen, stoßen und schieben, rufen und fluchen. Es geht ein sonderbar kurzatmiger, heißer Wind, hin- und zurückstoßend. Die Erde wirft Feuer auf; durch aufwallenden Rauch blinkt es gelb. Aus den undicht gewordenen Verschlüssen fliegt bei jedem Abzug eine lange, rote Feuerzunge. Sie haben keinen Gedanken als: arbeiten, arbeiten. Sie haben keine Sorge. Sie denken nur: Es geht heiß her. Wann nimmt es ein Ende?“

Sigmund Freud schreibt in seinen „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ (1916): „Die Feuerbereitung und alles, was mit ihr zusammenhängt, ist auf das innigste mit Sexualsymbolik durchsetzt. Stets ist die Flamme ein männliches Genitale“. Die Männer in Frenssens Schlachtenbeschreibung „keuchen und zielen“ jedenfalls mit auffälliger Inbrunst, sie „stoßen und schieben“: Diese Wortwahl verweist auf deutliche erotische Subtexte. Wo allerdings tatsächlich Menschen grausam getötet werden und sich in ihrem Blut wälzen, wirkt eine begeisterte Formulierung wie „Es geht heiß her“ aus heutiger Sicht befremdlich.

„Autotelische“, also körperzerstörende, extreme Gewalt, wie sie Jan Philipp Reemtsma in seinem Buch über „Vertrauen und Gewalt“ (2008) definiert, wird hier als unverhoffte Entgrenzungserfahrung in einer Schlacht, als pure Lust beschrieben. Fasst man die latente sexuelle Symbolik dieser Szene genauer ins Auge, so vermag man darin geradezu eine Männerorgie, einen libidinösen Machtrausch ohne Halt und ohne Schranken zu erkennen („Immer zu. Immer zu.“).

Frenssen verfällt in solchen Passagen in einen stakkatohaften Tempostil, dessen überraschende literarische Modernität nicht zu übersehen ist: Seitenweise wird nur noch in Gesprächsfetzen, fragmentarischen Sätzen und Geräuschwörtern angedeutet, was der mitfantasierende Rezipient in seinem Kopf mit den Bildern seiner Vorstellungskraft zu lebendigen Szenen verdichten muss, und vielleicht auch zu eigenen Vorlust­-Gefühlen. Inmitten dieser besonders ungeformt und chaotisch wirkenden Tagtraumpassagen dürfen auch die von Schmidt in „Sitara“ als veritable ‚Urlustklänge‘ bei May und Theodor Däubler entschlüsselten, berüchtigten U-Laute nicht fehlen: Frenssen ersinnt hier bereits im Jahr 1901 an heutige Comics erinnernde Geräuschwortkreationen wie „Pjj…jj…juu…juuu“ oder auch „Tschuu…uu“, Laute, die als „Sausen und Pfeifen“ in seiner Kriegsszenerie wie luststeigernde Klangwelten auf- und abschwellen, wobei sie bezeichnende soldatische Kurzdialoge effektvoll umrahmen: „,u’ ,u’ und nochmals ,u’!“ („Sitara“)

Ein solches genussvolles „Pjjuu“ zieht aber in Frenssens Beschreibungen auch Schmerzen nach sich, etwa wenn ein Mann darauf „mit langezogenem Schrei die Hände“ hebt, „als hätte ihn einer mit spitzem Pfahl ins Kreuz gestoßen“. Hier spielt ein bemerkenswerter Sadismus hinein, wenn einer der Soldaten „den Rücken hohl“ macht, während es weiter bloß heißt: „Geschütz vor! Geschütz vor! […] Granaten auf den Arm… Der Verschluß ist offen. Tschuu…uu“. Da ist nun wirklich nicht mehr viel misszuverstehen: Bei Frenssens Kanonieren wird ausdrücklich mit „erhobenem Wischer“ hantiert, „die eine Hand“ immer „am Verschluß“ – das mag man sich nun selbst ‚übersetzen‘, wie man es für angemessen hält.

Der Protagonist Jörn Uhl schiebt in diesem besonderen ,Inferno‘ auch gerne einmal „eine Kartätsche ins Rohr und schlägt den Verschluß zu“, während neben ihm der ebenmäßige Jüngling Fiete Krey plötzlich aus dem Nichts auftaucht und dicht bei ihm hantiert, was die schriftstellerische ,Tagtraumzensur‘ bei Frenssen offenbar gerade noch einmal genehmigt. Merkwürdig wirkt jedenfalls an dieser Stelle des Textes die unvermittelte, wie eine rhetorische Rechtfertigung klingende Frage: „Warum soll Fiete Krey nicht neben ihm stehn?“ Genau: So kann dieser ‚Kamerad‘ dem Protagonisten nämlich umso heftiger „stoßen und werfen“ helfen, während Soldat Lohman leider „mit dem Wischer nicht mehr durch das Rohr dringen“ kann. Bei solchen akuten Impotenzerscheinungen hilft nur noch eins: „Er langt mit der Hand tief in das brandheiße Eisen. Die Hand ist brandig und der Ärmel raucht.“ Auch der Rückzug nach der Schlacht ist voller verkappter Impotenzklagen, wenn man Frenssens Beschreibung einmal durch die Brille typisch Schmidt’schen Humors lesen wollte: „Er legte den Wischer, den er wieder in die Hand genommen hatte, in sein Lager und verschwand im Waldwege.“

Die intime ‚Verbindung‘ mit dem Feind wird damit im Text erst einmal wieder gelöst – aber das unerfüllte Begehren bleibt doch deutlich spürbar: „Der Feind war kein Tiger mehr in brüllendem Ansprung. Er war ein gebundener Stier, der stöhnend mit den Hörnern in der Erde wühlt.“

Ein immer noch unerledigter Fall

Dass Arno Schmidt 1963, also inmitten einer intensiven Phase psychoanalytisch geprägter Arbeiten wie „Sitara“ mit dem bemerkenswert ausführlichen Radio­-Text „Ein unerledigter Fall. Zum 100. Geburtstag von Gustav Frenssen“ einen seiner aufwändigsten Funk-Essays über einen ‚Trivialschriftsteller‘ schreibt, ohne dessen augenscheinliche Konvergenzen zum May-Material zu thematisieren, bleibt mysteriös. Schmidt meißelt hier augenscheinlich an einer ganz individuellen Frenssen-Statue, deren Inszenierung sowohl seinem eigenen forcierten ‚Antifaschismus‘ jener Werkphase als auch seinen damals neu entstehenden, ,triebentlarvenden‘ Interpretationsvorlieben diametral entgegenzustehen scheint.

Alle bisherigen Deutungssansätze zu dieser eigenartigen Rezeption, die nicht zuletzt dazu führte, dass Schmidt Frenssens völkische und rassistische Ideologie als jemand zu verharmlosen drohte, der ansonsten als lautstarker Kritiker der Reaktion und der NS-­Kontinuität in der BRD auftrat, erscheinen zweifelhaft. Solche neueren Lesarten tendierten dazu, Schmidts Behauptungen über Frenssens ‚demokratische Phase‘ in den 1920er­-Jahren unkritisch zu unterstützen und sein Lob des angeblichen ‚Ausnahme‘-Romans „Otto Babendiek“ (1926), der tatsächlich ebenfalls erstaunlich ‚Ernst­-Jünger­-typische‘ Kriegsverherrlichungen enthält, die denen in dem frühen Erfolgsroman „Jörn Uhl“ kaum nachstehen, vorschnell zu tradieren.

Dabei ist gerade Schmidts auffallende Blindheit – oder auch bewusste Ignoranz? – Frenssens lustvollen Kampfschilderungen gegenüber ein Indiz, das die Leser misstrauisch machen sollte. Es markiert eine Spur, deren aufmerksame Weiterverfolgung nicht zuletzt zur dringend notwendigen Revision eines oft immer noch allzu hagiografischen Arno­-Schmidt-­Bildes in der literaturwissenschaftlichen Forschung führen könnte. Liegt doch der Verdacht nahe, dass die libidinöse Besetzung vieler militärischer Lebens-­ und Ausdrucksweisen, wie sie bei Frenssen schon so auffällig früh erkennbar ist, Schmidt selbst möglicherweise in den 1960er-Jahren immer noch sehr viel näher war, als er in seinen Texten zeitlebens zugeben wollte – wenn auch sein eigenes Werk in der Hinsicht weit mehr offenlegte und offensiv zu analysieren suchte, als das irgend eines anderen Autors seiner Zeit.

Anmerkung der Redaktion: Bei dem Essay handelt es sich um einen leicht umgearbeiteten Auszug aus Jan Süselbecks 2001 erschienener Monografie „‚Arse=tillery + Säcksualität’. Arno Schmidts kritische Auseinandersetzung mit Gustav Frenssen“ (Aisthesis Verlag, Bielefeld).