Kommunikative Vernunft und politische Öffentlichkeit
Zum 80. Geburtstag von Jürgen Habermas
Von Antje Gimmler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDiskussionsfreudig und streitbar, so erleben die meisten Jürgen Habermas bei seinen Vorträgen, auf Workshops und Kongressen. Mit seinen Einwänden, Klarstellungen und Überlegungen greift er nicht nur auf ein imponierendes Werk zurück, das auf überzeugende Weise das Erbe der Philosophie in ständiger Auseinandersetzung mit den empirischen Wissenschaften und anderen Fachdisziplinen weiterentwickelt, sondern er streitet für seine Überzeugung und vermittelt, freundlich insistierend, manchmal auch hitzig, aber nie müde werdend, eine Botschaft: Nur in der argumentativen Anstrengung, wenn wir uns auf Kommunikation und damit auch zugleich auf den anderen einlassen, kommen Vernunft und Humanität zu ihrem Recht.
Deutlicher noch als in seinen zahlreichen Schriften, die sich zu einem imposanten Denkgebäude fügen, tritt diese Botschaft in der mündlichen Rede und in der direkten Auseiandersetzung hervor. Habermas verkörpert ein geradezu affektives Verhältnis zur Diskussion und zur Debatte – was doch in sympatischem, wenngleich eigentümlichem Kontrast zur Vernunftbetontheit seiner Theorie steht. Den anderen als Diskussionspartner ernstzunehmen, das heißt für Habermas aber zunächst einmal, dessen Argumentation zu verstehen – eine einfache, aber manchmal schwer umzusetzende Tugend. Als Habermas einmal 1995 ein von mir geleitetes Seminar als Gast besuchte, waren die Studenten positiv überrascht von der Ernsthaftigkeit, mit der er ihren Fragen und Einwänden begegnete – „der hat uns wirklich ernstgenommen“, hieß es danach.
Seine Überzeugung, dass der Philosoph seine Aufgabe als „Platzhalter und Interpret“ wahrzunehmen hat, indem er Komplexität und Potentiale der Spätmoderne durchleuchtet, begreifen und deuten hilft, hat ihn in den letzten 40 Jahren in viele Debatten mit seinen Zeitgenossen geführt, zuletzt mit Vertretern der katholischen Kirche – darunter auch Joseph Ratzinger – zur Bedeutung der Religion. Es begann in den 1960er-Jahren mit Diskussionen mit den protestierenden Studenten, wo er auf dem Kongress 1967 in Hannover Rudi Dutschkes Position einen ‚linken Faschismus‘ nannte, ohne dass er seine Sympathie für die Protestbewegung ganz aufgegeben hätte.
In den 1970er-Jahren kamen dann Diskussionen mit Hans-Georg Gadamer über den Traditionsbezug der Hermeneutik und mit dem sozialtheoretischen Antipoden Niklas Luhmann um die theoretische Konzeptualisierung von Gesellschaft. Ende der 1980er-Jahre war es der Historikerstreit, in dem Habermas sich engagierte. Es war insbesondere die These des rechts-konservativen Historikers Ernst Nolte, dass der ‚Archipel Gulag‘ ursprünglicher sei als Auschwitz, welche die kritische Stellungnahme von Habermas hervorrief. Zwar war die Insinuation einer Kausalbeziehung zwischen dem Terrror der sowjetischen Lager der Revolutionszeit und den nationalsozialitischen Vernichtungslagern sowie die damit verbundene Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen ungeheuerlich genug, genauso schwer aber wog für Habermas, dass damit anscheinend eine Revision des Selbstverständnisses der Bundesrepublik anvisiert wurde.
In allen Debatten tritt deutlich hervor, dass Habermas auch in seinen akademisch angelegten Auseinandersetzungen ein politisches Motiv verfolgt, das nicht von außen, als gleichsam fremdes Element, die akademische Wahrheitssuche verfälscht, sondern das vielmehr das Wahrheitsinteresse erst zu fokussieren und zu aktualisieren vermag. Insbesondere der Frankfurter Weggenosse Rolf Wiggershaus hat in seiner eingängigen Einführung zu Jürgen Habermas in der Reihe ‚Rowohlt Monographie‘ diese politischen Kontexte in den Mittelpunkt gestellt. Und auch Hauke Brunkhorst hat einleitend in seiner lesenswerten Habermas-Einführung in der Reclam Reihe ‚Grundwissen Philosophie‘ auf die zentrale Stellung, die das politisch-emanzipatorische Interesse in Leben und Werk von Habermas einnimmt, hingewiesen. Theoretisch hat Habermas dies in seiner berühmten Antrittsvorlesung mit dem Titel „Erkenntnis und Interesse“ (1965) verarbeitet. Die politische Motivation spielt auch in seine Auseinandersetzung mit dem positiven Traditionsbegriff der Hermeneutik hinein. Hier ist es die Erfahrung mit dem Umgang, oder besser gesagt, mit dem Nicht-Umgang mit dem Nationalsozialismus, welche die Folie für einen ambivalenten Begriff von Tradition bereitstellt. Habermas teilt damit die Erfahrung einer ganzen Generation, die als Kinder und Jugendliche in ein Regime hineingeboren wurden, das „gleichsam über Nacht als pathologisch und verbrecherisch entlarvt worden“ war. Diese Generation musste in der Nachkriegszeit nicht nur eine biografische und politische Neuorientierung vollziehen, sondern sie musste gleichzeitig verarbeiten, dass nicht nur Schweigen herrschte über die Gräuel, den Faschismus und die Täter, sondern dass auch über die sowohl in Politik wie auch in Wirtschaft herrschende unhinterfragte Kontinuität der leitenden Personen vom Naziregime über die Adenauerzeit hinaus geschwiegen wurde. Diese spezifische Erfahrung mit dem Nationalsozialismus und die politische Neuorientierung hin zur Demokratie nicht nur als Herrschaftsmodell, sondern zugleich als Lebensform, teilt er mit anderen Intellektuellen seiner Generation wie Ralf Dahrendorf, Günter Grass, Alexander Kluge oder Niklas Luhmann.
Das Insistieren von Habermas auf der theoretischen Verankerung der erfahrungsweltlichen Binnenperspektive der Teilnehmer einer Gesellschaft wird denn auch in seiner Debatte mit dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann deutlich. Ohne diese Binnenperspektive, so Habermas, wird Gesellschaftsdiagnose auf das Aufspüren von Funktionsdefiziten reduziert. Die viel weitreichendere theoretische Ambition aber, nämlich Sozialpathologien und emanzipatorische Potentiale diagnostizieren zu können, erfordert einen viel komplexeren Analyserahmen, bei dem Erfahrungen und kommunikative Praktiken von Teilnehmern miteinfließen. Genau dieses Theorieverständnis, bei dem empirische Wissenschaft, philosophische Analyse und emanzipatorisches Interesse in Wechselwirkung treten, ist das Markenzeichen der Kritischen Theorie, und Habermas ist ihr national und international bedeutendster Vertreter. Habermas und ‚Kritische Theorie‘ oder ‚Die Frankfurter Schule‘ wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren geradezu synonym gebraucht. Allerdings hat sich seit den Anfängen der Frankfurter Schule mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer – und auch neuerlich mit Axel Honneth als Nachfolger von Habermas auf dem Frankfurter Lehrstuhl – die Kritische Theorie mehrmals gehäutet. Wo Adorno und Horkheimer die Legitimation von Kritik in der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus, dem Holocaust und dem Leiden der Opfer verorten, setzt Habermas auf eine pragmatische Analyse der lebensweltlichen Kommunikation. Mit dieser verzweifelten Anstrengung, „einen beharrlichen Funken von Vernunft aufzuspüren“, wie er es in einem Interview mit Robert Maggiori einmal genannt hat, bleibt er der Denkbewegung von Adorno und Horkheimer verpflichtet und transformiert diese gleichzeitig. Damit ist nicht nur eine kommunikative, sondern auch eine intersubjektive Wende eingeleitet. Mit der intersubjektiven Wende vollzieht Habermas nicht nur eine für die philosophische Reflexion folgenreiche Abkehr vom bewusstseinsphilosophischen Paradigma, sondern diese ermöglicht es ihm auch, dem universellen Verblendungzusammenhang, den Adorno und Horkheimer der aufklärerischen Moderne diagnostizieren, eine doppelte Sicht der Moderne entgegen zu setzen: Schon in seiner Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1961) versucht Habermas, die Entwicklung der Moderne als doppelläufige soziale Evolution zu begreifen. Der unabgeschlossene Prozess der Aufklärung zeitigt einerseits negative Konsequenzen – Konsequenzen, die er später als Krisenhaftigkeit des ungezähmten Spätkapitalismus und als sozialpathologische Folgen der Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Systeme Staat und Wirtschaft analysiert. Andererseits aber hat die soziale Evolution, die Habermas unter Einbeziehung soziologischer Entwicklungsmodelle wie ‚Modernisierung‘ und ‚Rationalisierung‘ konzeptualisiert, auch positive Seiten aufzuweisen. Im „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ ist dies die wenigstens in Ansätzen institutionalisierte Idee einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die den Prinzipien freier Kommunikation unter freien Bürgern gehorcht. Jahre später, in seiner Rede bei der Entgegennahme des Kyoto-Preises am 11. November 2004, wird er das Grundmotiv noch einmal so zusammenfassen: „Zwischen Bürgern, die sich persönlich nicht mehr kennen können, kann sich nur noch über den Prozess der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung eine brüchige Gemeinsamkeit herstellen und reproduzieren. Der Zustand einer Demokratie lässt sich am Herzschlag ihrer politischen Öffentlichkeit abhorchen.“
Die Verfassung der politischen Öffentlichkeit und damit auch die Verfassung der Demokratie stand und steht im Mittelpunkt von Habermas’ Denken. Dabei hat er selbst als wissenschaftlicher Autor und Essayist die politische Streitkultur der Bundesrepublik und in den letzten Jahrzehnten auch die internationale Diskussion bereichert. Vortragsreisen nach China, das er 2001 zum ersten Mal besuchte und wo er über das kontroverse Thema Menschenrechte sprach, und Aufenthalte im Iran und Südkorea gehören zu dieser öffentlichen Funktion, die für Habermas zur Aufgabe des Intellektuellen gehört. Öffenlichkeit und Demokratie, diese beiden zentralen Begriffe in seinem Denken, verweisen aber noch auf eine andere, tiefere Dimension. In der 1981 erschienenen „Theorie des kommunikativen Handelns“ und in „Faktizität und Geltung“ (1992) hat er eingelöst, was er mit der kommunikativen und intersubjektiven Wende begonnen hat: eine konsequente Umstellung der philosophischen Grundbegriffe der Erkenntnistheorie, der Ethik und der praktischen Philosophie auf das kommunikative Paradigma. Wer sich für die Grundbegriffe seiner Theorie und für die kommentierende Diskussion der wichtigsten Texte interessiert, kann sich im demnächst erscheinenden „Habermas-Handbuch“ (2009), herausgegeben von Hauke Brunkhorst, Regina Kreide und Cristina Lafont, orientieren. Auch hier wird deutlich, wie erkenntnistheoretische und ethische Fragestellungen bei Habermas letztlich immer wieder in eine gesellschaftstheoretische Fundierung münden.
Zu Fragen der Erkenntnistheorie ist Habermas in den 90er Jahren wieder zurückgekehrt und hat, wie er selbst in „Wahrheit und Rechtfertigung“ (1999) ausgeführt, das in „Erkenntnis und Interesse“ behandelte Thema der Verschränkung von Gesellschaftstheorie und Erkenntnistheorie wieder aufgenommen. In Auseinandersetzung z.B. mit Richard Rorty und Hilary Putnam versucht er in „Wahrheit und Rechtfertigung“ einen mittleren Weg zu finden zwischen einer vollständigen Kontextualisierung aller Erkenntnisansprüche und einer realistischen Position, bei der theoretische Urteile notwendigerweise von ihrer praktischen Einbettung in soziale und kulturelle Praktiken scharf getrennt bleiben müssen. Habermas wählt den dritten Weg eines ‚weichen’ Pragmatismus, bei dem realistische Intuitionen gewahrt bleiben: Wir können über eine Brücke gehen, weil wir wissen, dass diese Brücke stabil ist. Diese Gewißheit haben wir nicht, weil pure Gewohnheit uns dies glauben macht – eine Position, die er Empirismus seit Hume vertritt – oder weil die Scientific Community gute Gründe dafür vorweisen kann – eine These, die der Pragmatismus verteidigt – sondern, weil diese Brücke eben stabil ist. Hier hält Habermas an der alltäglichen realistischen Intuition fest, deren substantiellen Gehalt es theoretisch zu verarbeiten gilt. Der Wahrheitsanspruch lässt sich daher gerade nicht vollständig in kontextuell abhängige Rechtfertigungsprozeduren auflösen. Gleichzeitig aber – und hier zeigt sich die enge Verschränkung der theoretischen und praktischen Philosophie bei Habermas – ist es der Raum der Argumentation und der Öffentlichkeit, in dem sich diese Urteile beweisen und letztlich bewähren müssen.
Dies gilt selbstverständlich insbesondere im Bereich der moralischen Urteile. Ausgehend von der in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ entwickelten Diskurstheorie hat Habermas in den 80er Jahren seine kommunikative Umformung der praktischen Philosophie Kants vorgelegt. Der Standpunkt der Unparteilichkeit, den Kant im autonomen Subjekt situiert hat, detranszendentalisiert Habermas, indem er die Universalisierung einer moralischen Norm prozeduralistisch auslegt. Alessandro Pinzani (2007) beschäftigt sich in seiner Einführung zu Habermas ausführlich mit dessen Diskursethik und dem Verhältnis der verschiedenen Traditionsstränge, die Habermas einarbeitet. In der prozeduralistischen Konzeption des moralischen Standpunktes verhalten sich die Teilnehmer eines moralischen Diskurses reflexiv zu ihren eigenen Überzeugungen und zu je partikularen Lebensformen, in denen diese Überzeugungen verankert sind. Damit wird den moralischen Subjekten zwar nicht zugemutet, einen ‚view from nowhere’ einzunehmen, aber ihnen wird doch auferlegt, ein doppeltes Verhältnis zu sich selbst einzunehmen: zum einen zu den eigenen Interessen und zum anderen zu einer möglichen Selbsttransformation. Während der Prozeduralismus der Diskursethik von Habermas sich oftmals einigermaßen technisch liest und die Frage nach der Begründung des Universalisierungsprinzips sowohl bei Habermas als auch in der wissenschaftlichen Literatur dazu einen breiten Raum einnimmt, ist es gerade diese dynamische Dimension im Selbstverständnis des Subjekts, das gegenüber anderen moraltheoretischen Traditionen, z.B. der strikt deontologischen Version Kants oder der utilitaristischen Überzeugung der Glücksmaximierung, befreiend wirken kann. Zum einen kann das moralische Subjekt nämlich gar nicht anders vorgestellt werden als ein in spezifischen Kontexten sozialisiertes. ‚Entgegenkommende Lebenswelten’ hat Habermas das schon früh genannt und nimmt damit ein Motiv der aristotelisch-hegelschen Tradition des Sittlichkeitsdenkens auf. Externe Motivationen, moralisch zu handeln, sind zwar nicht mit internen Motivationen zu verwechseln – ohne diese Rahmenbedingungen allerdings, ist die moralische Gesinnung nicht sehr alltagstauglich. Eine das Subjekt entlastende Funktion übernimmt dabei das Recht und in gewissem Sinne auch die Öffentlichkeit, in der Diskussionen zu moralischen oder ethischen Fragen offen geführt werden und Subjekte sich über sich und ihre Interessen klar werden können und gegebenfalls ihre Positionen verändern können. Denn, so die Prämisse einer durchgeführten intersubjektivistischen Lesart von Subjektivität, erst in der Auseinandersetzung mit anderen formen Subjekte ihre Interessen und gewinnen darüber ihr Selbstverständnis. Habermas hat hier eine Wechselwirkung zwischen institutioneller Stabilisierung von moralischen Normen und der reflexiven Einstellung der Subjekte zu diesen im Blick.
Moraltheorie ohne Gesellschaftstheorie, so kann man Habermas’ Position in Anlehnung an Kant formulieren, ist leer – Gesellschaftstheorie ohne normativen Bezug aber bleibt orientierungslos. Den grössten Einfluß sowohl auf Fachdisziplinen wie die Soziologie und die Politikwissenschaft als auch breitenwirksam auf die politische Öffentlichkeit hat Habermas unzweifelhaft denn auch mit seiner großangelegten normativen Gesellschaftstheorie ausgeübt. Gesellschaftliche Integration ist hier konzeptualisiert als die soziale Reproduktion lebensweltlicher Ressourcen mit den Mitteln der verständigungsorientierten Kommunikation. Die Lebenswelt rationalisiert und differenziert sich unter dem Druck der systemisch verfaßten Bereiche der staatlichen Organisation und der Wirtschaft immer mehr und verliert dabei immer mehr an bindender und orientierender Substanz. Sinn- und Freiheitsverlust nennt Habermas dies mit Blick auf die soziologische Rationalisierungsthese von Max Weber und im Rückgriff auf die Zeitdiagnose von Adorno und Horkheimer. Diese Diagnose von der Kolonialisierung der Lebenswelt durch Bürokratien und durch die stetige Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse hat sich auch unter Globalisierungsbedingungen bewährt. Der Druck auf Demokratie und Bürger hat sich nur noch mehr zugespitzt; in den serviceorientierten westlichen Wohlfahrtsstaaten wird der Bürger zum Verbraucher und die Staaten selbst konkurrieren auf dem Weltmarkt um die besten Arbeitskräfte. Auf die Frage, wie dieser Entwicklung entgegenzuwirken ist, gibt Habermas eine klare Antwort: ein demokratischer Rechtsstaat mit einer starken und vitalen Öffentlichkeit und eine demokratisch verfaßte Weltbürgerpolitik, die der postnationalen Konstellation gerecht wird, bieten Lösungsmöglichkeiten. Mit der Theorie der deliberativen Demokratie in „Faktizität und Geltung“ hat Habermas auch hier wieder die Diskussionen maßgeblich beeinflußt, sowohl in der breiten Debatte um Civil Society und soziales Kapital als auch in staats- und völkerrechtlichen Diskussionen.
Viele meiner Generation machten schon zu Beginn unseres Studium in den 80er Jahren Bekanntschaft mit den Schriften von Habermas: der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ galt schon als Klassiker, die „Theorie des kommunikativen Handelns“ – die ‚lila Bibel’ wie die zwei Bände scherzhaft genannt wurden – war dann durchzuarbeiten. Mit dem Aufkommen der sogenannten Postmoderne bekam die Kritische Theorie ernsthafte Konkurrenz. Plötzlich vertraten dann Foucault und später Lyotard einen neuen, aufregenden Theorietypus, der – in einer Sprache ausgedrückt, die auch ein Symptom dieser Zeit war – einfacher ‚sexier’ war. Habermas hat auf die postmoderne Herausforderung reagiert und die Auseinandersetzung mit Foucault oder Derrida gesucht. Heute sieht es so aus, als ob die Kritische Theorie wieder en vogue ist. Im Bereich der Soziologie wird in neueren Theorien, z.B. von Luc Boltanski und Eve Chiapello, wieder an Habermas angeknüpft und auch bei Bruno Latour finden sich positive Hinweise zur Demokratietheorie von Habermas. Welche neuen Diskussionen für Habermas daraus entstehen können, läßt sich jetzt noch nicht absehen. Bewunderungswürdig ist die Vielschichtigkeit und Dimension seines Denkens, seine Produktivität geradezu einschüchternd. Was ihn aber zu einem vorbildlichen Protagonisten der westlichen Intellektuellenkultur macht, ist sein unermüdliches Neudenken. Kritisch zu sein gegen sich selbst, Revisionen vorzunehmen, wo der zwanglose Zwang des besseren Arguments dazu zwingt, sich überhaupt Denksituationen auszusetzen, bei denen vertraute Begrifflichkeiten und Denkmuster getestet werden, das alles gelingt Jürgen Habermas bis heute.
Literatur:
Hauke Brunkhorst, Habermas, Reihe Grundwissen Philosophie, Reclam Verlag: Leipzig 2006.
Hauke Brunkhorst, Regina Kreide und Cristina Lafont (Hrsg.), Habermas – Handbuch. Verlag J.B. Metzler: Stuttgart 2009.
Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution, Kleine Politische Schriften VII, Suhrkamp Verlag: Frankfurt a. M. 1990.
Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990 (Erstausgabe 1961, Luchterhand), Suhrkamp Verlag: Frankfurt a. M. 1990.
Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Bd. II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Suhrkamp Verlag: Frankfurt a. M. 1981.
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Suhrkamp Verlag: Frankfurt a. M. 1992.
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Suhrkamp Verlag: Frankfurt a. M. 1999.
Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Suhrkamp Verlag: Frankfurt a. M. 2009.
Alessandro Pinzani, Jürgen Habermas, Beck Verlag: München 2007.
Rolf Wiggershaus, Jürgen Habermas, Rowohlt Monographie, Rowohlt Verlag: Reinbek bei Hamburg 2004.
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